Denkfabrik

Mäßiges Wachstum trotz brummender Wirtschaft

Konsumenten, Betriebe und Börse sind in bester Laune, es herrscht Hochkonjunkturstimmung. Doch es gibt eine merkwürdige Diskrepanz zu den amtlichen Wachstumsdaten, die Rätsel aufgibt.

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Bruttoinlandsprodukt Deutschland 2015 Quelle: Marcel Stahn

Am 14. Januar verrät das Statistische Bundesamt, wie stark in Deutschland das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2015 gestiegen ist. Aller Voraussicht nach wird das Amt den Anstieg auf 1,7 Prozent taxieren, das wäre praktisch die gleiche Zunahme wie 2014. Klingt zunächst einmal nicht schlecht: Schon wieder ein Plus, und nicht nur so ein krümeliges wie 2012 und 2013 (0,4 beziehungsweise 0,3 Prozent).

Schauen wir uns die Lage genauer an: Der Dax ist seit Ende 2011 um 85 Prozent gestiegen, die Immobilienpreise ziehen kräftig an, zumindest in den Ballungszentren. Die Arbeitslosigkeit hat weiter abgenommen. Rund 43 Millionen Menschen dürften 2015 in Deutschland einer Erwerbstätigkeit nachgegangen sein – so viele wie nie zuvor. Die Löhne steigen ordentlich, die Anschaffungsneigung der Konsumenten liegt in der Nähe früherer Rekordmarken.

Gute Aussichten für die deutsche Wirtschaft
Eine Euro-Münze Quelle: dpa
Container werden auf Lastwagen geladen Quelle: dpa
Eine geöffnete Kasse Quelle: dpa
Ein Sparschwein und Cent-Münzen auf einem Sparbuch Quelle: dpa
Eine Baustelle Quelle: dpa
Ölpumpen Quelle: dpa
Jemand mit einem Schweißbrennner Quelle: dpa

Auch die Unternehmen sind guter Stimmung. Laut Umfragen schätzen die Unternehmen ihre Geschäftslage ähnlich günstig ein wie 2006. Damals stieg nicht nur die Beschäftigung wie im laufenden Jahr um 0,8 Prozent, sondern auch das reale BIP – allerdings um stolze 3,7 Prozent.

Zahlen des Statistischen Bundesamtes belegen den Aufschwung nicht

Hochkonjunkturstimmung somit allenthalben. Und so sollte man es auch erwarten in einem Land, in dem die kurzfristigen Realzinsen im sechsten Jahr negativ sind. In dem die langfristigen Realzinsen im vierten Jahr um mehr als vier Punkte unter ihrem langjährigen Mittel liegen. Und in dem die Abwertung des Euro und der geringe Preisauftrieb dafür gesorgt haben, dass die preisliche Wettbewerbsfähigkeit so hoch ist wie nie zuvor in den vergangenen 50 Jahren.

Zur Person

Das Merkwürdige ist nur: Die Hochkonjunktur spiegelt sich im Zahlenwerk des Statistischen Bundesamts nicht wider. Danach befindet sich die Wirtschaft überhaupt nicht in einem kräftigen Aufschwung. Das Niveau des realen BIPs entsprach 2015 nach Schätzung von Forschungsinstituten, Sachverständigenrat und Bundesbank ziemlich genau dem des Produktionspotenzials. Die gesamtwirtschaftlichen Kapazitäten waren also gerade mal normal ausgelastet, nach einer geringfügigen Unterauslastung in den drei Jahren davor. Die 1,7 Prozent plus beim BIP entsprechen in etwa der Wachstumsrate des Produktionspotenzials.

An der gesamtwirtschaftlichen Kapazitätsauslastung ändert sich somit derzeit praktisch nichts. Von hoher gesamtwirtschaftlicher Auslastung oder zumindest einer Bewegung in diese Richtung keine Spur. Laut jüngster Gemeinschaftsdiagnose wird die Kapazitätsauslastung sogar bis 2020 nicht zulegen, Sachverständigenrat und Bundesbank erwarten eine ganz leichte Überauslastung.

Die Produktivität steigt kaum

Wie kommt es zu dieser Diskrepanz zwischen aktueller Stimmung, volkswirtschaftlicher Theorie und Empirie auf der einen Seite und den amtlichen BIP-Daten auf der anderen? Eine Möglichkeit wäre, dass die amtlichen Daten das Wachstum unterzeichnen. Dazu muss man wissen, dass es sich bei den amtlichen Zahlen um Schätzungen handelt; eine vollumfängliche Beobachtung wäre nicht möglich.

Was hat das Wirtschaftsjahr 2015 gebracht?
15. Januar Quelle: dpa
22. Januar Quelle: dpa
20. Februar Quelle: dpa
5. März Quelle: dpa
6. März Quelle: dpa
18. März Quelle: dpa
1. April Quelle: dpa

Für die These der Unterschätzung spricht, dass einiges im amtlichen Rechenwerk in den vergangenen Jahren vom langjährigen Muster abgewichen ist. So ist der Anstieg der Wohnungsbauinvestitionen deutlich geringer, als es ein Blick auf die Statistik der fertiggestellten Wohnbauten nahelegt. Auch sind die Importe 2012 und 2013 höher, als sie es angesichts ihrer gesamtwirtschaftlichen Treiber (Exporte, Investitionen, privater Konsum) sein dürften. Da die Import- und Exportzahlen bei Grenzübertritt grundsätzlich korrekt erfasst werden, ist dies ein Indiz für eine Unterschätzung von Konsum und Investitionen. Bei den Investitionen der Betriebe in Kraftfahrzeuge wies die Statistik 2012 einen Einbruch aus, der sich anhand der Zulassungsstatistik nicht nachvollziehen lässt.

Und schließlich bleibt da noch der unerklärliche Einbruch des Produktivitätswachstums: Die Zunahme der Beschäftigung bei gleichzeitig mauem Produktionsanstieg impliziert, dass die Arbeitsproduktivität seit 2012 nicht viel mehr als stagniert hat. Zuvor hatte das Produktivitätswachstum jahrelang bei durchschnittlich zwei Prozent pro Jahr gelegen. Da Beschäftigungsdaten wohl alles in allem korrekt erfasst sind, wäre auch dieses „Rätsel“ gelöst, wenn die gesamtwirtschaftliche Produktion in Wirklichkeit höher gewesen wäre.

Vielleicht gibt es auch andere Erklärungen für die Diskrepanzen. In jedem Fall wird es Zeit, dass sich Deutschlands Volkswirte damit auseinandersetzen!

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