Essay Wie der moderne Kapitalismus funktioniert

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Der Kapitalismus kennt keine Sozialpflichtigkeit

Armut und Reichtum, Mindestlohn und Managergehälter, Einkommensteuer und Umverteilung: In unserer 116-seitigen Sonderausgabe lesen Sie alles zum Thema soziale Gerechtigkeit in Deutschland.

Der Kapitalismus benötigt keine moralische Anreicherung, sondern rechtliche und institutionelle Absicherung. Wall Street und Bankfurt sind keine Orte der „Tyrannei“, in denen das Gesetz der Gier gilt; sie benötigen nur Vorschriften, die Geldinstituten ein Fünftel Eigenkapital für ihre Kreditgeschäfte abverlangt. Das Geld, das sich ein Bauunternehmer bei der Volksbank leiht, bedarf keiner ethischen Fundierung; es reicht, dass er Maurern eine Beschäftigung bietet und neue Schulen entstehen. Unser Wirtschaftssystem ist nicht „an der Wurzel ungerecht“, sondern eine glänzend geölte Zivilisationsmaschine, die Milliarden Menschen verheißt, ihrer Armut zu entkommen. Religiöser Fanatismus (Afghanistan, Iran), Korruption (in vielen Ländern Afrikas) politische Zentralsteuerung (Peking, Moskau, Singapur...) und Eigentumskonzentration (westliche Staats-Finanzmarkt-Komplexe) sind ungerecht – nicht „die Wirtschaft“, von der schon Max Weber meinte, sie sei die „friedliche Ausübung von Verfügungsgewalt“. Tatsächlich benötigt der Kapitalismus nur wenige ordnungspolitische Prinzipien – Risiko und Haftung gehören zusammen, Kredite haben ihren Preis, Schulden müssen zurückgezahlt werden, Kartelle gehören zerschlagen –, um weitestgehend funktionstüchtig zu sein.

Sicher, der Kapitalismus hat keine Seele und kennt keine Sozialpflichtigkeit. Geld will in ihm angelegt sein und investiert werden, weil es nie das ist, was es ist, sondern immer sein mögliches Mehr: Produkt, Potenz und Projekt seiner selbst. Die so populäre Formel vom Geld, das der Wirtschaft (dem Menschen) zu dienen habe und nicht die Wirtschaft (der Mensch) dem Geld, ist daher eine zwar hübsche, aber höchst irreführende Floskel sozial bewegter Rhetoren. The business of business is business – wer das als Unternehmer nicht begreift, kann sein Geschäft bald schließen.

Eben deshalb sollten wir gar nicht erst den Versuch unternehmen, das Vermehrungsinteresse des Kapitals zu stören. Stattdessen kommt es darauf an, dem Kapital einerseits seine Grenzen aufzuzeigen und ihm andererseits neue Zugriffsmöglichkeiten zu eröffnen: jenseits der rettungslos bankrotten Staatsfinanzmärkte. Um es mit Marx zu sagen: Nachdem wir geglaubt haben, wir könnten die Ware aus seiner ursprünglichen Kapitalismusgleichung (G-W-G’) streichen, indem wir aus Geld einfach mehr Geld machen (G-G’), wird unternehmerische Freiheit in Zukunft bedeuten, den Bereich der „Waren“ um Allmendegüter zu vergrößern, um die das Geld kreisen kann: G-W’-G’. Denn wenn Wirtschaften heißt, sich mit der Herstellung und Distribution von Gütern unter den Bedingungen der Knappheit zu beschäftigten, dann konvergieren Ökonomie und Ökologie, sobald die Grundbedingungen des Wirtschaftens selbst knapp werden: die Bodenschätze das Öl, das saubere Wasser, die frische Luft. Dann reift rund um den Globus die Einsicht, die Erde selbst sei der „Menschheit“ Eigentum – und nicht nur der Menschheit hier und heute, sondern auch der Menschheit, die die Erde von der Gegenwartsgeneration erben wird. Dadurch gewinnen nicht zuletzt die besitzindividualistisch trivialisierten Eigentums- und Freiheitsbegriffe der Business-Class-Liberalen eine neue Qualität: Das dem Eigentum innewohnende Prinzip der Eingrenzung und Aneignung wird durch das Prinzip der Sorge und Verantwortung erweitert. Und Freiheit nicht mehr als Lizenz zum Sich-gehen-Lassen verstanden, sondern mit dem kanadischen Philosophen Charles Taylor als „Praxis steuernder Kontrolle“, als „Fähigkeit, die wir zu verwirklichen haben“.

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