Essay Ökonomen verstehen nichts von Wirtschaft

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Die Volkswirtschaftslehre leidet unter Autismus

Adam Smith machte die Nationalökonomie zur eigenständigen Wissenschaft und untersuchte als Erster systematisch die wohlstandsfördernde Wirkung von Arbeitsteilung und freien Märkten.
von Bert Losse

Jeder Geisteswissenschaftler schämt sich fremd, wenn Ökonomen erst heute auf den Trichter kommen, dass der Mensch in seinem Denken, Erinnern, Urteilen und Handeln möglicherweise kognitiven Verzerrungen unterliegt, weil es tatsächlich so etwas wie animal spirits gibt – Dezennien nach den Trieblehren von Arthur Schopenhauer und Sigmund Freud. Auch das Feld der ökonomischen Glücksforschung erblüht so frühlingshaft, als hätte es die Sinnangebote von Religion, Mystik, Bildung und Kunst nie gegeben, als hätten Theodor Fontane, Max Weber, Georg Simmel und Theodor W. Adorno uns nicht schon vor Ewigkeiten über die Folgekosten einer metaphysisch verarmten Geld-Welt informiert.

Schließlich die Tempelwächter der individuellen Freiheit, der Selbstsucht, des Homo oeconomicus: Kann es wirklich sein, dass die Wirtschaftswelt systematisch an den einschlägigen Schriftsätzen über die Sympathie (Adam Smith), das Mitleid (Jean-Jacques Rousseau), die soziale Arbeitsteilung (Émile Durkheim) und die Anerkennung (G.W.F. Hegel) vorbei gelesen hat? Haben die Ökonomen nicht mitbekommen, dass Gemeinschaft, Freundschaft, Familie und Paarbeziehung schon seit Aristoteles’ Zeiten als gehaltvolle Alternativen zum methodologischen Individualismus etabliert sind, der ihr Modelldenken noch immer beherrscht? Wie ist es möglich, dass in einen anerkannten Forscher wie Dennis Snower, Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, noch anno 2012 der Blitz der Erkenntnis fährt, dass „hergebrachte ökonomische Modelle“ unberücksichtigt ließen, „dass Menschen einander stark beeinflussen“ und „dass zwischenmenschliche Beziehungen große Auswirkungen auf unser Verhalten haben“?

All das führt zu dem beklemmenden Schluss, dass die Volkswirtschaftslehre unter schwerem Autismus leidet. Die Ökonomen haben ihre Disziplin mit Markt-Modell-Mathematik und Neuro-Schnickschnack von der Realwissenschaft entkoppelt – und sind im Wolkenkuckucksheim systemblinder Selbstreferenz gelandet. Sie müssen einsehen, dass ihnen der Kapitalismus ohne Kenntnis seiner anthropologischen Voraussetzungen, ohne Kritik seiner Entstehungs- und Erhaltungsbedingungen und ohne seine Analyse als menschliche „Kulturform” (Schumpeter) vollkommen unverständlich bleibt. Eine Öffnung hin zu den Geisteswissenschaften tut bitter not: Nur durch den interdisziplinären Austausch mit Philosophen, Soziologen, Historikern, Literaturwissenschaftlern und Juristen kann die Volkswirtschaft ihre verheerende Verengung zur Business-School-Economy überwinden.

Effizienz vor Relevanz

Diese Business-School-Economy versteht sich als Lehre der Effizienz, nicht als Lehre von gesellschaftspolitischer Relevanz; mathematische Exzellenz ist ihr wichtiger als sozialwissenschaftliche Bedeutung. Ihre Metiersicherheit ist fraglos beeindruckend – und doch verhält sich das Wachstum ihrer wirtschaftswissenschaftlichen Funktionsintelligenz (Ökonometrie, Statistik, Börsenphysik und so weiter) proportional zum Schrumpfprozess ihrer ordnungstheoretischen Selbstansprüche. Anders gesagt: Die Business-School-Economy beschreibt ihren Forschungsgegenstand funktionalistisch, ohne nach der Herausbildung der normativen Ordnung zu fragen, die sie prägt und beeinflusst – und innerhalb derer sich die „Wirtschaft der Gesellschaft“ (Niklas Luhmann) vollzieht. Als kritisch-distanzierte, sich selbst, ihre Rolle und Bedingtheit in einer sich stetig wandelnden Gesellschaft beobachtende moral science fristet sie ein blamabel marginales Dasein.

Die paradoxe Folge ist, dass der „Prozess der Zivilisation“, der sich spätestens seit der industriellen Revolution sehr weitgehend im Modus des Ökonomischen ereignet, ausgerechnet vonseiten der Wirtschaftswissenschaften nicht (mehr) auf verbindliche Begriffe zu bringen ist. Die Austauschbarkeit schwankender Wertvorstellungen, der Vormarsch der institutionellen Vernunft, die Expansion marktähnlicher Beziehungen, die Anonymisierung globalen Geschäftsverkehrs, die Verfeinerung des Geldwesens, die Fiktionalisierung der Finanzmärkte – das alles sind Entwicklungen, für die einer mathematisch zugerüsteten Volkswirtschaft die Worte fehlen. Was ihr fehlt, ist „eine sprachliche Apparatur, die dem allmählichen Gleiten” der historischen Verläufe angemessen wäre, die die „Polyfonie der Geschichte“ (Norbert Elias) im Ohr hätte, die nicht das Sein und Sollen einer (mehr oder weniger) funktionierenden Wirtschaft und ihrer Ideen beschriebe, sondern ihr Werden und Gewordenes als dominante Gesellschaftssphäre.

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