Vor ein paar Wochen haben 250 Professoren der Ökonomie „mit großer Sorge“ zum Protest gegen die Euro-Politik der Bundesregierung aufgerufen. Das Manifest, das vor einer europäischen Bankenunion und vor Finanzhilfen an Geldinstitute in „südlichen Ländern“ warnt, ist eine Grabrede auf die Volkswirtschaftslehre. Es spielt mit nationalen Ressentiments und verrührt das Unbehagen am Großkapital mit dem Einmaleins der Ordnungspolitik. Seither wissen wir: Das Produkt aus rechts und links und liberal ist ziemlich schrill und radikal. Keine Rettung von Spekulanten auf Kosten der Steuerzahler! Keine Haftung für Bankschulden! Keine Sozialisierung von Marktrisiken zulasten von Sparern! Mit solchen Forderungen macht man mächtig Quote, aber keinen Eindruck. Im Gegenteil: Wenn es das Ziel der Ökonomen war, die wirtschaftswissenschaftliche Debatte auf das Niveau von Sahra Wagenknecht (Linke) zu heben, so ist ihnen das glänzend gelungen. Mit dem feinen Unterschied, dass Wagenknecht „der Wall Street“ und „der City of London“ schon vor zehn Jahren die Zähne gezeigt hat, als die meisten Ökonomen die Fahne der Finanzmarkt-Deregulierung gar nicht hoch genug hissen konnten. Und auch die Systemrelevanz von „maroden Bankhäusern“ hat die Marxistin schon 2008 bezweifelt, also lange bevor nun auch die Fachwelt ein paar Geldinstitute ausfindig gemacht hat, an denen sie ein ordoliberales Exempel statuieren will.
Ökonomen als Cheftautologen
Wenn es nicht so traurig wäre, man könnte darüber lachen. Aber leider ist der neue Pamphletismus der Ökonomenzunft kein lässlicher Schnitzer, sondern präziser Ausdruck ihrer umfassenden Orientierungsschwäche. Fünf Jahre nach Beginn der Finanzkrise – am 9. August 2007 stiegen die Zinsen für Interbankkredite sprunghaft an – kann von frischen Ideen in der Volkswirtschaftslehre nicht einmal ansatzweise die Rede sein. Nach der Großen Depression 1929 kreuzten sozialwissenschaftlich beschlagene Gelehrte wie John Maynard Keynes, Joseph Schumpeter und Friedrich August von Hayek die Klingen, um die Effizienzhypothese der Märkte und den Einfluss der Wirtschaftspolitik infrage zu stellen. Sie klärten uns über die Gefahren von Monopolbildung und Kapitalkonzentration auf, über die Instabilität des Kapitalismus, die Vorzüge und Grenzen des Wettbewerbs – und sie stritten leidenschaftlich darüber, ob es besser sei, ökonomische Krisen von Staats wegen zu heilen oder aber stattfinden zu lassen, damit der infizierte Markt möglichst schnell wieder gesunde. Die Debatte hatte eine intellektuelle Tiefe, die immer noch beeindruckt. Und heute?
Literatur von und über Adam Smith
Das 1776 erschienene Werk ist der Klassiker der ökonomischen Literatur und die erste systematische Aufarbeitung und Bündelung ökonomischen Wissens. Dass Smiths Analyse über Wachstum, Preise, Arbeitsteilung und Staatstätigkeit auch mehr als 230 Jahre später noch ihre Leser findet, liegt nicht nur an ihrer dogmengeschichtlichen Relevanz: Das Buch ist anschaulich geschrieben und kommt noch völlig ohne mathematische Formeln aus.
(dtv, 12. Auflage 2009, 855 Seiten, 19,90 Euro)
Mit dem mehrfach überarbeiteten Werk setzt Smith einen Kontrapunkt zu seiner ökonomischen These, dass Eigennutz die Triebfeder des Wohlstands ist. Smith zeichnet in seiner Moralphilosophie ein positives Menschenbild, bei dem sich die Individuen auch von Mitgefühl und Sympathie leiten lassen.
(Meiner Felix Verlag, Neuauflage 2009, 648 Seiten, 28,90 Euro)
Das Buch beschreibt die zentralen Ideen einflussreicher Ökonomen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, darunter neben Smith auch Ricardo, Malthus, Marx und Menger. Anspruchsvoll aufbereitet, trocken geschrieben. Für Leser mit ökonomischen Vorkenntnissen.
(Band 1, Beck, 2008, 359 Seiten, 14,95 Euro)
Heute genügen sich die Ökonomen darin, den Regierenden ihre Kassandradienste zu erweisen. Ein Manifest folgt aufs andere, das Alarm schlägt und zur Umkehr aufruft, ob pro Bankenrettung oder kontra, mit Euro oder ohne. Im besten Fall schwingen sich die Ökonomen dabei zu Notaren der Krise auf – zu Cheftautologen, die das tagespolitisch Ersichtliche, so oder so, professoral beglaubigen. Was aber haben die Ökonomen denen zu bieten, die nicht zu den eifrigen Lesern ihrer formelakrobatischen Fachaufsätze gehören, aber wenigstens ein wenig über den Tellerrand des ökonomischen Zeitgeschehens hinausschauen wollen?
Der Mensch - Ein Rationalitätsbündel
Noch immer zaudern die Wirtschaftswissenschaftler, von der klassischen Markt-Harmonie-Lehre abzurücken – obwohl Adam Smith (was das anbelangt) spätestens seit Schumpeter erledigt ist. Noch immer halten sie daran fest, Märkte naturgesetzlich erklären zu wollen, obwohl es sich mittlerweile herumgesprochen haben sollte, dass es einen politisch unbeeinflussten Markt nie gegeben hat und Menschen nun mal keine berechenbare Vernunftwesen sind. Gleichzeitig werden Robert Shiller, George Akerlof oder Daniel Kahneman für genau diese „Erkenntnis“ als Innovatoren der Zunft gefeiert und für die „Entdeckung“ der Unvernunft mit Nobelpreisen geehrt. Warum eigentlich? Weil sie die Menschen nicht mehr zu Rationalitätsbündeln degradieren, sondern zu Reizreaktionsmaschinen?
Die Volkswirtschaftslehre leidet unter Autismus
Jeder Geisteswissenschaftler schämt sich fremd, wenn Ökonomen erst heute auf den Trichter kommen, dass der Mensch in seinem Denken, Erinnern, Urteilen und Handeln möglicherweise kognitiven Verzerrungen unterliegt, weil es tatsächlich so etwas wie animal spirits gibt – Dezennien nach den Trieblehren von Arthur Schopenhauer und Sigmund Freud. Auch das Feld der ökonomischen Glücksforschung erblüht so frühlingshaft, als hätte es die Sinnangebote von Religion, Mystik, Bildung und Kunst nie gegeben, als hätten Theodor Fontane, Max Weber, Georg Simmel und Theodor W. Adorno uns nicht schon vor Ewigkeiten über die Folgekosten einer metaphysisch verarmten Geld-Welt informiert.
Schließlich die Tempelwächter der individuellen Freiheit, der Selbstsucht, des Homo oeconomicus: Kann es wirklich sein, dass die Wirtschaftswelt systematisch an den einschlägigen Schriftsätzen über die Sympathie (Adam Smith), das Mitleid (Jean-Jacques Rousseau), die soziale Arbeitsteilung (Émile Durkheim) und die Anerkennung (G.W.F. Hegel) vorbei gelesen hat? Haben die Ökonomen nicht mitbekommen, dass Gemeinschaft, Freundschaft, Familie und Paarbeziehung schon seit Aristoteles’ Zeiten als gehaltvolle Alternativen zum methodologischen Individualismus etabliert sind, der ihr Modelldenken noch immer beherrscht? Wie ist es möglich, dass in einen anerkannten Forscher wie Dennis Snower, Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, noch anno 2012 der Blitz der Erkenntnis fährt, dass „hergebrachte ökonomische Modelle“ unberücksichtigt ließen, „dass Menschen einander stark beeinflussen“ und „dass zwischenmenschliche Beziehungen große Auswirkungen auf unser Verhalten haben“?
All das führt zu dem beklemmenden Schluss, dass die Volkswirtschaftslehre unter schwerem Autismus leidet. Die Ökonomen haben ihre Disziplin mit Markt-Modell-Mathematik und Neuro-Schnickschnack von der Realwissenschaft entkoppelt – und sind im Wolkenkuckucksheim systemblinder Selbstreferenz gelandet. Sie müssen einsehen, dass ihnen der Kapitalismus ohne Kenntnis seiner anthropologischen Voraussetzungen, ohne Kritik seiner Entstehungs- und Erhaltungsbedingungen und ohne seine Analyse als menschliche „Kulturform” (Schumpeter) vollkommen unverständlich bleibt. Eine Öffnung hin zu den Geisteswissenschaften tut bitter not: Nur durch den interdisziplinären Austausch mit Philosophen, Soziologen, Historikern, Literaturwissenschaftlern und Juristen kann die Volkswirtschaft ihre verheerende Verengung zur Business-School-Economy überwinden.
Effizienz vor Relevanz
Diese Business-School-Economy versteht sich als Lehre der Effizienz, nicht als Lehre von gesellschaftspolitischer Relevanz; mathematische Exzellenz ist ihr wichtiger als sozialwissenschaftliche Bedeutung. Ihre Metiersicherheit ist fraglos beeindruckend – und doch verhält sich das Wachstum ihrer wirtschaftswissenschaftlichen Funktionsintelligenz (Ökonometrie, Statistik, Börsenphysik und so weiter) proportional zum Schrumpfprozess ihrer ordnungstheoretischen Selbstansprüche. Anders gesagt: Die Business-School-Economy beschreibt ihren Forschungsgegenstand funktionalistisch, ohne nach der Herausbildung der normativen Ordnung zu fragen, die sie prägt und beeinflusst – und innerhalb derer sich die „Wirtschaft der Gesellschaft“ (Niklas Luhmann) vollzieht. Als kritisch-distanzierte, sich selbst, ihre Rolle und Bedingtheit in einer sich stetig wandelnden Gesellschaft beobachtende moral science fristet sie ein blamabel marginales Dasein.
Die paradoxe Folge ist, dass der „Prozess der Zivilisation“, der sich spätestens seit der industriellen Revolution sehr weitgehend im Modus des Ökonomischen ereignet, ausgerechnet vonseiten der Wirtschaftswissenschaften nicht (mehr) auf verbindliche Begriffe zu bringen ist. Die Austauschbarkeit schwankender Wertvorstellungen, der Vormarsch der institutionellen Vernunft, die Expansion marktähnlicher Beziehungen, die Anonymisierung globalen Geschäftsverkehrs, die Verfeinerung des Geldwesens, die Fiktionalisierung der Finanzmärkte – das alles sind Entwicklungen, für die einer mathematisch zugerüsteten Volkswirtschaft die Worte fehlen. Was ihr fehlt, ist „eine sprachliche Apparatur, die dem allmählichen Gleiten” der historischen Verläufe angemessen wäre, die die „Polyfonie der Geschichte“ (Norbert Elias) im Ohr hätte, die nicht das Sein und Sollen einer (mehr oder weniger) funktionierenden Wirtschaft und ihrer Ideen beschriebe, sondern ihr Werden und Gewordenes als dominante Gesellschaftssphäre.
Wortgewalt - und Sprachlosigkeit
Die Sprachlosigkeit der Volkswirte wurzelt in der Statik ihrer Lehrsätze, Normen und Begriffe – eine Statik übrigens, die die sozialphilosophischen Grundlagen der Ökonomie systematisch unterläuft: Zukünfte, die von keinem Einzelnen beabsichtigt sind und doch aus den Absichten und Aktionen vieler Einzelner hervorgehen, lassen sich nun einmal nicht in überzeitlichen Harmoniegesetzen („unsichtbare Hand“) abbilden, erfahrungsgemäß hochrechnen und charttechnisch extrapolieren. Evolutorische Ordnungen, die sich ständig in Bewegung befinden und aus blinden Wettbewerbsprozessen hervorgehen, gehorchen eben keiner empirisch aufweisbaren Logik (zyklische Wirtschaftsentwicklung) und lassen sich schon gar nicht planvoll optimieren (Niedrigzins- und Nachfragepolitik). Spontan auftauchende Denkweisen, die unsere Wirklichkeitswahrnehmung verändern, sind nicht Genieprodukte rational denkender Monster, sondern das Ergebnis multi-individueller Vernunft- und Gefühlsregungen im Rahmen eines sich ständig wandelnden kollektiven Bewusstseins. Entsprechend wird heute keine Krise der Welt durch Lösungen beendet, die Ökonomen wortgewaltig zum Patent anmelden („Schuldenschnitt!“, „Zurück zur D-Mark!“, „Banken zerschlagen!“), sondern laufend bemeistert – und zwar dadurch, dass wir uns diese Krisen eingestehen und sie bearbeiten.
Die größten Risiken für die deutsche Wirtschaft
Aus dem Schneider ist Europas größte Volkswirtschaft noch nicht, auch wenn sie mit einem kräftigen Wachstum im ersten Quartal eine Rezession verhindern konnte. Im Gegenteil: Die Risiken ballen sich wie selten zuvor - vor allem von außen droht jede Menge Ungemach.
„Das größte Abwärtsrisiko für die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland geht nach wie vor von der Schulden- und Vertrauenskrise im Euroraum aus, die im Kern noch nicht gelöst ist“, warnen führende Institute in ihrem Gutachten für die Bundesregierung. Schon jetzt lastet die Krise auf der exportabhängigen Wirtschaft: Die Ausfuhren in die Euro-Zone schrumpften im März um 3,6 Prozent, weil Krisenländer wie Spanien und Griechenland wegen der Rezession ihre Importe einschränken. Da 40 Prozent der Ausfuhren in die Währungsunion gehen, spürt Deutschland die Schwäche der Nachbarn deutlich.
Jede Zuspitzung der Schuldenkrise sorgt für Wirbel an den Finanzmärkten. Kann sich ein großes Euro-Land wie Spanien nicht mehr am Kapitalmarkt finanzieren und flüchtet unter die Rettungsschirme EFSF und ESM, würde das einen erneuten Vertrauensverlust auslösen. Unternehmen würden weniger investieren, Verbraucher größere Anschaffungen scheuen. Der Bund ist mit der Beteiligung an den Rettungspaketen enorme Risiken eingegangen. „Im Zuge der Rettungspakete summieren sich die Zusagen auf rund 80 Milliarden Euro“, so die Institute.
Kann etwa Griechenland das Geld nicht zurückzahlen, belastet das den deutschen Staatshaushalt. Eine Herabstufung durch die Ratingagenturen droht dann, was höhere Zinsen zur Folge hätte. Der Spardruck würde steigen, Hauhaltslöcher müssten mit höheren Steuern und Ausgabenkürzungen gestopft werden. Beides würde die Konjunktur belasten.
Seit mehr als einem Jahr hält sich die Teuerungsrate in Deutschland über der Marke von zwei Prozent, bis zu der die Europäische Zentralbank (EZB) von stabilen Preisen spricht. Manche Experten befürchten, dass die Preise künftig deutlich schneller steigen könnten - um vier bis fünf Prozent. Das würde die Kaufkraft der Verbraucher erheblich einschränken.
Grund für die Inflationsgefahr: Wegen der guten Konjunktur haben die Arbeitnehmer kräftige Lohnerhöhungen durchgesetzt. Den Unternehmen fällt es angesichts der guten Beschäftigungslage leichter, steigende Lohnkosten an die Verbraucher weiterzureichen - sprich: die Preise für Waren und Dienstleistungen anzuheben. Es droht eine Spirale, bei der sich Löhne und Preise gegenseitig nach oben schaukeln. Bei ersten Anzeichen dafür müsste die EZB ihre Zinsen anheben, um Konsum und Investitionen zu drosseln, was die Nachfrage dämpfen und den Preisauftrieb dämpfen könnte. Aus Rücksicht auf die Wirtschaftskrise in Ländern wie Spanien wird sie ihren Leitzins aber vorerst wohl auf dem Rekordtief von einem Prozent belassen.
Zusätzliche Gefahren gehen von der Politik der EZB aus, den Finanzhäusern billiges Geld in Hülle und Fülle zur Verfügung zu stellen. „Noch bleibt die zusätzliche Liquidität erst einmal im Finanzsektor“, sagt Postbank-Chefvolkswirt Marco Bargel. „Doch wenn die Kreditvergabe an die Unternehmen erst einmal steigt, kann das sehr schnell in Inflation münden.“
Die Preise für deutsche Wohnimmobilien steigen immer schneller. 2011 legten sie mit 5,5 Prozent mehr als doppelt so stark zu wie 2010 mit 2,5 Prozent. „Erstmals seit dem Wiedervereinigungsboom Anfang der neunziger Jahre ist hierzulande somit ein konjunktureller Aufschwung wieder mit einer markanten Preisreaktion auf den Häusermärkten verbunden“, stellt die Bundesbank fest. Niedrige Bauzinsen und die Angst vor Inflation verlocken immer mehr Deutsche dazu, in Immobilien zu investieren. „Wenn das jahrelang so weitergeht mit den extrem niedrigen Zinsen, besteht das Risiko einer Immobilienpreisblase in Deutschland“, warnt der Konjunkturchef des Instituts für Weltwirtschaft, Joachim Scheide. Die hat es in Spanien gegeben, ihr Platzen hat eine schwere Rezession ausgelöst. „So etwas ist für Deutschland auch nicht ausgeschlossen“, sagt Scheide.
China wird nach Prognose des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) in diesem Jahr zum zweitwichtigsten Kunden der deutschen Exportwirtschaft aufsteigen - nach Frankreich, aber noch vor den USA. Für viele Unternehmen ist die Volksrepublik schon jetzt der wichtigste Absatzmarkt, beispielsweise für die Autobauer Volkswagen, Audi und Porsche. Bekommt China einen Husten, wird auch die deutsche Wirtschaft krank. Erste Warnsignale gibt es bereits: Die chinesischen Importe stagnierten im April. „Das ist Besorgnis erregend“, sagte Ökonom Alistair Thornton von IHS Global Insight in Peking. „Das deutet auf eine echte Schwäche der Binnenwirtschaft hin.“ Die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt wird einer Reuters-Umfrage unter Ökonomen zufolge in diesem Jahr um 8,2 Prozent wachsen. Das wäre das kleinste Plus seit einem Jahrzehnt. Die hohen Schulden der Kommunen, eine Immobilienblase und eine anziehende Inflation könnten das Wachstum aber noch kleiner ausfallen lassen.
Die Ökonomen blicken angesichts einer Vergangenheit, deren Geschehen unser Verstehen beeinflusst, angesichts einer Gegenwart, die sich laufend selbst überholt und angesichts einer Zukunft, von der man nur wissen kann, dass sie wahrscheinlich ist, rührend ratlos auf ihre Formeln und Tabellen. Sie suchen eine Wirklichkeit zu bannen, die sich ihnen immerzu entwindet – ganz so wie die Eleaten den Flug des Pfeiles zu bannen suchten, als befände er sich in unendlich vielen, aneinandergereihten Ruhezuständen. In einer heraklitischen Welt jedoch („Panta rhei“), in der Wahrheit nur im Wege einer verstehenden Auslegung ergriffen werden kann, stellt sich eine Ökonomie, die auf einem naturrechtlich hergeleiteten Individualismus und auf der Grundannahme paratheologischer Gesetzmäßigkeiten besteht, methodologisch ins Abseits.
Der Gründungsmythos freier Kaufleute
Ihren Urgrund hat die Borniertheit der Branche im Begriff, den sie sich vom Geld als Tausch- und Wertaufbewahrungsmittel macht. Ein solcher Geld-Begriff ist statisch, geschichtslos und normativ; er enthält, konserviert und formiert die liberale Utopie einer friedlich handelnden Gesellschaft, für die Geld nichts weiter ist als das pazifizierende Instrument einer arbeitsteiligen Wirtschaft. Der Gründungsmythos einer Marktwirtschaft freier Kaufleute verstellt den Blick auf die historische Prozesshaftigkeit einer Geld-Welt, die keine Gesetze, Stabilitäten und Gleichgewichte kennt, die niemals von Homines oeconomici bevölkert war und in der es zu keiner Zeit eine Trennung von Staat und Markt gegeben hat.
Ohne eine theoretische Aufwertung des Geldes wird die Ökonomie daher in der anhaltenden Debatte über die Zukunft des Kapitalismus auf die Rolle eines Zaungastes verwiesen bleiben. Die Einsicht in die real- und ideengeschichtlichen Prozesse, die die konstitutive Ambivalenz des Geldes als Lebens-Mittel und Lebens-Zweck zum Vorschein bringen (Georg Simmel), der beispiellose Aufstieg des Geldes zur Zentralkategorie wirtschaftlichen Handelns, die Würdigung seiner ungeheuren Bedeutungsvielfalt als Kapital, Schuld, Zins, Preis, Ertrag, Mehrwert, Eigentum und Vermögen – das alles ist in der Volkswirtschaft des 21. Jahrhunderts weitgehend brachliegendes Terrain.Noch immer taucht das Geld in VWL-Lehrbüchern an verlässlich später Stelle auf.
Damit ist selbstverständlich nicht gesagt, dass Volkswirtschaftler nicht ihr mathematisches Handwerk beherrschen sollten. Das müssen sie zweifellos. Die „Reform einer Wissenschaft“ aber vermag heute nicht mehr, wie noch Carl Menger meinte, „nur aus ihr selbst, nur aus den Tiefen ihrer eigenen Ideenkreise hervorzugehen“, im Gegenteil: Sie kann und darf nicht „nur das Werk der in die eigenen Probleme ihrer Disziplin sich vertiefenden Forscher sein“.
Der Methodenstreit
Der sogenannte Methodenstreit, den Menger und Gustav Schmoller 1883/84 ausfochten, hat sich vor dem Hintergrund einer Kontroverse über das richtige Menschenbild und die richtige Wirtschaftspolitik abgespielt. Menger erhob den Individualismus zum Ausgangspunkt seiner Disziplin und verteidigte ihn gegen Schmollers Verdikt, es gebe keine unveränderlichen Gesetze menschlichen Handelns. Schmoller zog daraus den Schluss, dass die Ökonomie vor allem ihre veränderliche Rolle im Kollektiv des Staates und der Gesellschaft in den Blick zu nehmen habe.
Natürlich ist die Kontroverse, auch wenn die meisten Ökonomen sie für aktuell halten, längst überholt: Schon Émile Durkheim hat 1893 die alles entscheidende Frage gestellt: „Wie geht es zu, dass das Individuum, obgleich es immer autonomer wird, immer mehr von der Gesellschaft abhängt?“ Nun, das ist in der Tat die Frage – und sie blamiert vor allem Menger: Erstens, weil Durkheim das Individuum nicht als Ichling, sondern im Hinblick auf Zweite und Dritte, genauer: auf ihre wechselseitige Abhängigkeit in einer arbeitsteiligen Welt hin entwirft. Zweitens, weil er damit zugleich die Formelhaftigkeit einer Ceteris-Paribus-Ökonomie (veränderte Parameter unter ansonsten gleichen Bedingungen) als wissenschaftstheoretischen Autismus demaskiert: „Der Chemiker darf wagen, von den physikalischen Eigenschaften eines chemischen Gegenstandes zu abstrahieren, aber, wenn er die atmosphärische Luft untersuchte und nach dem Grundsatze Menger’scher Isolierung sagte: ich ziehe dabei den Stickstoff in Betracht, weil er vorherrscht, so würde man ihn sofort aus dem Laboratorium werfen.“
Die Instrumente zur Euro-Rettung
Pro: Mit einer gemeinsamen Einlagensicherung und mit einem EU-weiten Sicherheitsnetz für Europas Banken könnte zwei bedrohlichen Szenarien vorgebeugt werden: einem Bank-run, bei dem die Sparer panisch ihre Einlagen von der Bank abheben. Und der Gefahr, dass nationale Auffangfonds nicht ausreichen, um nationale Banken zu stützen.
Contra: Gesunde Banken, allen voran in Deutschland, müssten im Ernstfall für ihre maroden Konkurrenten in anderen Euroländern zahlen. Außerdem gibt es noch keine effiziente europäische Bankenaufsicht. Damit gelten für die Banken noch unterschiedliche Voraussetzungen - und es besteht keine Möglichkeit, die Geldhäuser zu kontrollieren und Abwicklungen und Restrukturierungen zu erzwingen.
Wahrscheinlichkeit: nur vorhanden, wenn es vorher eine effiziente europäische Bankenaufsicht gibt. Das soll die Europäische Zentralbank übernehmen. Wenn dazu eine überzeugende Einigung gelingt: 60 Prozent.
Pro: Mit direkter Bankenhilfe aus dem ESM oder von der EZB wären Krisenländer wie Spanien ihr größtes Problem los: dass nämlich Notkredite der Europartner die Schuldenlast das Staatshaushaltes und damit die Pleitegefahr deutlich erhöhen. Der Rettungsfonds könnte den Banken direkt Sicherheiten zur Verfügung stellen, mit denen diese das notwendige Geld zur Rekapitalisierung aufnehmen. Im besten Fall verdient der ESM daran, weil er das Geld billiger aufnimmt als verleiht.
Contra: Bei direkter Bankenhilfe hätten die Euroländern keine Möglichkeit, Gegenleistungen von den Regierungen zu erzwingen. Zudem wäre nicht garantiert, dass die Banken die Unterstützung zurückzahlen, wenn kein Staat dahinter steht. Unklar ist überdies, wie Auflagen für die Banken selbst durchgesetzt werden sollten.
Wahrscheinlichkeit: Siehe BANKEN-UNION: ohne eine effiziente europäische Bankenaufsicht gleich null. Nach Aufbau einer europäischen Aufsicht: 70 Prozent.
Pro: Dahinter verbirgt sich die Idee gemeinsamer Staatsanleihen, die von den Ländern der Eurozone ausgegeben würden. Ihr Reiz läge darin, dass alle Staaten zusammen für die Rückzahlung haften und sich so gegenseitig Rückendeckung geben. Dadurch könnten selbst von den Anlegern geschmähte Euro-Sorgenkinder wie Spanien, Italien und Griechenland wieder zu günstigeren Zinsen an frisches Geld kommen - und so ihre schwächelnde Konjunktur ankurbeln. Befürworter wie Frankreich hoffen, dass damit der Teufelskreis aus steigenden Staatsschulden und höheren Zinsen ein für alle Mal durchbrochen und ein abschreckendes Signal an Spekulanten ausgesendet wird.
Contra: Vergleichsweise solide haushaltende Staaten wie Deutschland, dessen Bundesanleihen bei Investoren als sicherer Hafen gelten und deshalb ein historisches Zinstief erreicht haben, müssten bei der Ausgabe gemeinsamer Euro-Bonds wieder höhere Renditen in Kauf nehmen - und somit Milliarden draufzahlen. Gegner monieren zudem fehlende Reformanreize für hoch verschuldete Staaten, weil großzügige Ausgabenpolitik die eigene Bonität nicht mehr direkt beeinträchtigen würden. Sie lehnen auch eine gesamtschuldnerische Haftung ab - denn beim Ausfall eines Schuldners müsste das Kollektiv, also Deutschland wie jedes andere Land, komplett für dessen Verbindlichkeiten haften.
Wahrscheinlichkeit: tendiert auf absehbare gegen Null Prozent, wegen des vehementen Widerstands der Bundesrepublik und anderer Nordländer.
Pro: Euro-Bills sollen die Kritiker der Euro-Bonds beschwichtigen, weil sie eine kürzere Laufzeit haben und in der Summe begrenzt wären. Mit ihrer Hilfe dürfte sich jeder Staat nur bis zu einem bestimmten Prozentsatz seiner Wirtschaftsleistung finanzieren. Wer die damit verbundenen Haushaltsregeln nicht einhält, würde im Folgejahr vom Handel mit den Papieren ausgeschlossen. Die Idee wurde in EU-Kreisen als Kompromiss lanciert, weil sich vor allem Berlin stoisch auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts beruft, das eine in Dauer und Höhe unbegrenzte Schuldenübernahme untersagt.
Contra: In Diplomatenkreisen werden die Euro-Bills als kleine Brüder der Euro-Bonds belächelt. Das erhoffte überwältigende Signal an Märkte und Spekulanten, dass Wetten gegen Euro-Staaten zum Scheitern verdammt sind, wären sie jedenfalls nicht mehr. Da Volumen und Laufzeit begrenzt sind, stellt sich zudem die Frage, ob sie die Nöte hoch verschuldeter Euro-Sorgenkinder unter steigendem Zinsdruck überhaupt effektiv zu lindern.
Wahrscheinlichkeit: 10 Prozent, weil Euro-Bills weder für die Befürworter noch für die Gegner gemeinschaftlicher Staatsanleihen die erhoffte Lösung wären.
Pro: Mit einem Schuldentilgungsfonds, wie ihn die fünf deutschen Wirtschaftsweisen vorgeschlagen haben, würden nur nationale Verbindlichkeiten jenseits von 60 Prozent gemeinschaftlich und zu niedrigen Zinsen bedient - also erst über der Marke, die der EU-Stabilitätspakt gerade noch zulässt. Bis zu dieser roten Linie müssten die Länder weiterhin alleine für ihre Schulden gerade stehen, andere Euro-Staaten also nicht für die gesamte Schuldensumme ihrer europäischen Partner haften. Der zu gründende Fonds würde sich selbst an den Finanzmärkten refinanzieren und dort über eine kollektive Haftung aller Mitgliedstaaten abgesichert.
Contra: Während neben der SPD und den Grünen zuletzt auch das Europäische Parlament und der Internationale Währungsfonds Sympathien für diese Lösung bekundet haben, hegt die Bundesregierung verfassungsrechtliche Zweifel. Koalitionspolitiker sehen in ihr den Einstieg in die Vergemeinschaftung von Schulden, wie sie die No-Bailout-Klausel der europäischen Verträge verbiete. Die Bundesbank empfindet schon die Bezeichnung "Schuldentilgungspakt" als missverständlich, weil damit keine harten Einsparauflagen und Überschüsse zur Rückzahlung der Staatsschulden einhergingen.
Wahrscheinlichkeit: 20 Prozent, da der Tilgungsfonds letztlich zwar ebenfalls die Übernahme fremder Schulden bedeutet, allerdings zu einem geringeren Umfang als bei Euro-Bonds oder Euro-Bills.
Pro: Mit der Ausgabe dieser Projektanleihen sollen in der EU bis Ende 2013 Privatinvestitionen von rund 4,5 Milliarden Euro mobilisiert werden. Dafür stünden in einer Pilotphase zwar nur 230 Millionen Euro aus dem EU-Budget zur Verfügung, Brüssel hofft jedoch auf einen 20-fachen Hebelfaktor: Mit der Europäischen Union im Rücken sollen Investoren kreditwürdiger erscheinen, dadurch an billigeres Geld kommen und so grenzüberschreitende Verkehrs- oder Energieprojekte finanzieren. Es bestünde also die Hoffnung, mit relativ geringem Risiko einen beachtlichen Effekt zu erzielen.
Contra: Skeptiker halten dem entgegen, dass sich für ökonomisch sinnvolle Projekte meist auch ohne staatliche Hilfe Privatinvestoren finden. Außerdem gebe es bislang lediglich eine Hand voll konkreter Vorhaben, die zudem nicht alle besonders ausgereift konzipiert seien.
Wahrscheinlichkeit: 95 Prozent, da eine informelle Einigung bereits Ende Mai erzielt wurde und die einzusetzenden Mittel in einem günstigen Verhältnis zum erhofften Nutzen stünden.
Ausgerechnet Friedrich August von Hayek, ein Enkel der von Menger begründeten „Österreichischen Schule“, springt Schmoller 1956 bei. Für Hayek ist klar, dass die „wirklich fruchtbare Forschungstätigkeit eine sehr differenzierte Kombination von verschiedenen Arten von Wissen und Kenntnissen“ zur Voraussetzung hat – und dass die Ökonomie vor allem eine Lebenswissenschaft ist, die nicht nur mit Formeln operieren darf, sondern sich hermeneutischer (verstehender) Verfahren zu bedienen hat. Die Ökonomie, so Hayek, dürfe den Blick nicht nur nach innen richten und auf empirisch belastbare Systemimmanenz zielen: Sie muss sich auch selbst auslegen, kulturell einbetten, historisch verorten. Andernfalls sei sie keine Wissenschaft des Menschen, sondern eine Wissenschaft der Zahl, die ihre eigene Grundannahme – methodologischer Individualismus – desavouiert, indem sie Menschen als Totalquanten und aggregierte Datenbündel beschreibt. Hayek: „Niemand kann ein großer Ökonom sein, der nur Ökonom ist, und ich bin sogar versucht hinzuzufügen, dass der, der ausschließlich Ökonom ist, leicht zum Ärgernis, wenn nicht gar zu einer wirklichen Gefahr wird.“
Krise des Feuilletons
Freilich, zum Ärgernis, wenn nicht gar zu einer wirklichen Gefahr, sind im Verlauf der Krise auch die geworden, die sich als Angehörige der „kulturellen Fraktion“ über die Händel der Geld-Welt erhaben fühlen – und die das Geschäftstreiben vom Hochsitz ihrer verfeinerten Bildung aus mit soziologisch geschulter Distanz und widerwilliger Faszination zur Kenntnis nehmen. Es gehört offenbar immer noch zum guten Ton in den Geisteswissenschaften, die Vorzüge der Marktwirtschaft, die zivilisatorischen Errungenschaften des Fortschritts und das Bewegungsgesetz des Kapitalismus – Kredit, Innovation, Instabilität – möglichst schlecht gelaunt zur Kenntnis zu nehmen. Anders jedenfalls ist die Jubelbereitschaft, mit der das Feuilleton das parareligiöse (Tausch-)Paradigma der Ökonomen durch das (Schuld- und Vertrauens-)Paradigma der Anthropologie (David Graeber) ersetzt und zur „neuen“ Geschäftsgrundlage des Kapitalismus erklärt, nicht zu verstehen – zumal uns der Archäologe Bernhard Laum auf diese Geschäftsgrundlage schon 1924 aufmerksam gemacht hat. Tatsächlich liegt die Wahrheit, wie immer, in der Mitte – oder besser: mitten in der wachsenden Kluft des Unverständnisses, die zwischen Ökonomen und Kulturwissenschaftlern aufreißt, an den Universitäten, aber auch in den Ressorts der Zeitungen und Magazine.
Die Fronten stehen sich steiltheoretisch gegenüber. Liberale Ökonomen denunzieren den Schuldenstaat als Quelle aller Finanzübel, die derselbe Schuldenstaat mit der Rettung großer Banken zugleich aus der Welt schaffen soll. Und erlösungsbereite Geisteswissenschaftler begrüßen die Entheiligung der Märkte, die Unvernunft der Spekulation und die „Entdeckung“ eines referenzlosen Gespensterkapitals, das als Binärcode um den Globus vagabundiert (Joseph Vogl) – ganz so, als sei der Finanzmarkt nie der Altarraum gewesen, in dem einst auch seine Kritiker das Opfer ihrer Lebensversicherungen (und Vernunft) gebracht hätten. Was bei diesen rituellen Tänzen um Vorurteile auf der Strecke bleibt, ist vor allem zweierlei: das Verständnis für konstitutive Instabilität des Kapitalismus – und für die Komplementarität der Sphären „Staat“ und „Markt“.
Die Ur-Ursache der Krise
Weder „mehr Markt“ noch „mehr Staat“ sind angemessene Forderungen in einer Geld-Welt, die sich durch eine systemische Verschränkung von Markt und Staat auszeichnet. Eine Chance zur Lösung der Krise besteht deshalb nicht darin, den Markt zugunsten des Staates auszubremsen, Banken gegen Steuerzahler auszuspielen, Ratingagenturen ihrer Kontrollfunktion zu berauben – und schon gar nicht in einer Politisierung des Geldes, wie sie den Occupy-Bewegten vorschwebt. Vielmehr geht es darum, die Funktionstüchtigkeit der Sphären Staat und Markt durch klar definierte Aufgabenbeschreibungen zu stärken – und sei es vorerst im Wege des Ausschlussverfahrens: Der Staat ist nicht dazu da, die globalen Wettspiele einer Finanzaristokratie zu lizenzieren, die ihre Gewinne einstreicht und ihre Verluste der Allgemeinheit aufbürdet. Und die Finanzmärkte sind nicht dazu da, eine Politik zu finanzieren, die die Illusion von Wachstum nur noch dadurch aufrechterhalten kann, dass sie der Zukunft mit der Aufnahme immer neuer Schulden ihre Reserven stiehlt.
Wenn es eine Ur-Ursache dieser Krise gibt, dann ist es die Wachstumsdelle der Industrienationen in den Sechzigerjahren, die Kreditexplosion nach Aufgabe des Bretton-Woods-Systems 1971 und die Entstehung eines finanzmarktliberalen Sozialstaatsschulden-Kapitalismus, dessen Gedeih (und Verderb) auf der infiniten Produktion von Krediten beruht. Seit die westlichen Industrienationen nicht mehr im Schwellenland-Tempo wachsen, sind Finanzmärkte und Notenbanken Vehikel ihrer Regierungen geworden, um ein Wachstum aufrechtzuerhalten, das von den Fesseln der Realwirtschaft befreit ist. Die Notenbanken erfüllen ihre Aufgabe, indem sie unendlich viel Geld schöpfen – und die Finanzmärkte, indem sie das Kapital nicht mehr um Waren und Güter kreisen lassen, sondern vor allem um sich selbst. Der Unterschied zwischen Europa und den USA besteht darin, dass man sich den Sozialstaat diesseits des Atlantiks mit dem Mittel der Kreditaufschäumung erkaufte, während man ihn sich jenseits des Atlantiks mit zinskeynesianischen Mitteln ersparte – und seine realwirtschaftlich verarmende Bevölkerung stattdessen zu Häuser- und Ratenkäufen ermunterte.
Die Geldkrisen der Gegenwart sind daher kein Ausdruck von Marktversagen, keine Krise des Kapitalismus, kein Argument gegen die Gier und die Spekulation, sondern das Ergebnis eines staatskapitalistischen Systemversagens. Wenn Staaten heute mit Steuergeldern Banken kapitalisieren, handelt es sich dabei um verschuldete Staaten, die zur Erfüllung wohlfahrtsstaatlicher Bürger-Ansprüche von Banken kapitalisiert werden – und die genau deshalb angezählt sind, weil die Banken den Staaten bereits viel zu viel Geld für ihre fortgesetzte Wählerbeglückung geliehen haben. Insofern handelt es sich bei dieser Krise nicht um eine Pathologie des Kapitalismus, sondern um seine Heilung: Die allmähliche Realisierung der Kreditillusionen, auf die wir seit Jahrzehnten unsere Zukunft gebaut haben, bringt uns der tatsächlichen Kaufkraft der Gegenwart wieder ein kleines Stückchen näher.
Schlag nach bei Röpke
Wilhelm Röpke, der große Denker der sozialen Marktwirtschaft, hat bereits 1957 darauf hingewiesen, worauf es heute ankommt: „Den Regierenden die Herrschaft [über das Geld] zu nehmen und das Geldwesen von ihrer Willkür, Einsichtslosigkeit oder Schwäche unabhängig zu machen.“ Für Röpke war die Verletzung der „Unantastbarkeit des Geldes“ eines „der ernstesten Anzeichen für die äußerste Gefahr, in der sich Gesellschaft und Staat befinden“. Ahnungsvoll fürchtete er das Heraufziehen eines „Fiskalsozialismus“, der die Fata Morgana finanzieller Großspielräume durch die Schöpfung von Kreditgeld für bare Münze nimmt.
Natürlich, Röpke wendet sich damals, gegen Ende des ersten Wirtschaftswunder-Jahrzehnts mit einem durchschnittlichen Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 8,2 Prozent, noch nicht gegen den Schuldenstaat, sondern gegen eine antideflationäre Wirtschaftspolitik, die auf Kosten der Geldstabilität das Ziel der Vollbeschäftigung verfolgt. Eines aber ist ihm schon damals mit beängstigender Hellsichtigkeit klar: dass die Regierenden die schleichende Geldentwertung nicht mit der Erhöhung ihrer Sparanstrengungen beantworten werden, sondern mit der Ausweitung der Geldmenge – bis zuletzt die Notenbanken in die politische Pflicht genommen werden: „Nachdem die Goldwährung gefallen ist, war als letztes Gegengewicht gegen die unbeschränkte Herrschaft der Regierungen über das Geld noch ein gewisses Maß an Unabhängigkeit der Zentralnotenbanken übrig geblieben. Aber auch dieser Damm ist… geborsten… Auch die unabhängigen Zentralbanken scheinen zu den Bastillen zu gehören, die dem Jakobinismus unserer Zeit keine Ruhe lassen, bis sie geschleift sind.“
Widerspruch: stabilisierter Kapitalismus
Und was lernen wir daraus? Vom Markt, der „kein Herz und kein Gehirn hat“, wie Paul Samuelson sich einmal treffend ausdrückte, der einfach „tut, was er tut“, ist keine Antwort auf die Krise zu erwarten. Die Börsen sind Kapitalumschlagplätze und Kreditvermehrungsmaschinen; hier arbeiten Herdentiere der Konjunktur, Lemminge der Liquidität, Profiteure der Geldflut. Es gehört zur Berufsbeschreibung von Spekulanten, dass sie einem Geldismus frönen, der Aktionäre zulasten der Mitarbeiter privilegiert, der schnelles Wachstum statt langfristiges Gedeihen belohnt und jede wirtschaftspolitische Rahmensetzung als Freiheitsberaubung empfindet.
Allein der Staat kann daher eine Ordnung durchsetzen, die von der Freiheit, die er den Finanzmärkten gewährt, nicht zugrunde gerichtet wird: mit ordnungspolitischer Schärfe und Selbstbescheidung, mit Verboten realwirtschaftlich relevanzloser Glücksspiele und mit der entschlossenen Abkehr von einem kreditexpansiven Wirtschaftsmodell, das sich von „kreativen Finanzprodukten“ abhängig macht. Eine Entpolitisierung des Geldes hat daher zur Bedingung und zum Ziel, die systemische Verklammerung von Markt und Staat zu lockern, um beide Sphären funktionell zu stärken. Ohne eine Rehabilitation des Staates als recht- und rahmensetzende Gewalt (durch die Revision seines Selbstverständnisses als Deregulierungsagentur zur Förderung der Finanzoligarchie) werden sich die allerorts erhobenen Wünsche nach einem Stabilitätsplus des Kapitalismus nicht erfüllen. Und ohne eine Rehabilitation des Marktes als Preisfindungsinstitut (durch die Revision seines Daseinszwecks als internationales Wettbüro und Kreditbroker für klamme Staaten) auch nicht.
Mag sein, dass es sich hierbei um den einzigen Gedanken handelt, den Markt- und Staatsverächter von sich weisen. Und doch spricht alles für die Diagnose, dass es sich bei der gegenwärtigen „Krise des Kapitalismus“ weniger um eine Folge der Instabilität des Marktgeschehens handelt, vielmehr um das Ergebnis von Bemühungen, vermeintliche Instabilitäten politisch zu stabilisieren. Klärt uns nicht jeder weitere Tag, an dem die Euro-Krise ihren Lauf nimmt, darüber auf, dass die wirtschafts-, finanz- und geldpolitischen Interventionen der „souveränen“ Staaten und ihrer Notenbanken die Lage zugleich stabilisieren und destabilisieren? Wer diese Frage bejaht, kann nicht anders als einverstanden sein mit der Forderung, dass die Politik ihre Abhängigkeit von den Märkten reduzieren muss, um ihre eigene Handlungsfähigkeit zu stärken – und die Märkte sich gegen staatliche Inanspruchnahme verwahren müssen, um sich ihre Funktionstüchtigkeit zu erhalten.
Der Streit, ob es sich beim Markt mit seinen himmlischen Harmoniegesetzen um die beste aller möglichen Wirtschaftswelten handelt (Grundannahme der Ökonomie) oder nur um eine wirkmächtige Fiktion mit quasitheologischem Gehalt (Grundannahme der Geisteswissenschaftler), ist daher vor allem irrelevant. Erstens ist keine größere Fiktion denkbar als die, die Politik könne das Marktgeschehen besser organisieren – „sichtbare Hände“ können einer von ihr gelenkten Wirtschaft schon per definitionem nicht den Weg in eine ungewisse Zukunft weisen. Zweitens können die (Finanz-)Märkte ihre Funktion als Informationslieferant gar nicht nachweisen, solange sie von der Realwirtschaft entkoppelt und mit der Finanzierung von Schuldenstaaten beauftragt sind. Drittens ist die These von der Selbstregulierungskraft des Marktes nicht dadurch entkräftet, dass Staaten Banken retten müssen, weil Banken zugleich Staaten finanzieren müssen – und die Marktkrise daher gar nicht ihre Funktion erfüllen kann, das eine oder andere Institut oder Land seiner überfälligen Insolvenz auszuliefern.
Vor allem aber ist stabilisierter Kapitalismus ein Widerspruch in sich. Kapitalismus ist Veränderung. Sein Tempus ist nicht Gegenwart, sondern Zukunft. Seine Modi sind nicht Kreislauf und Wiederkehr, sondern Expansion und Wandel. Sein Geld ist nicht akkumuliertes Vermögen (Kapital), sondern geschöpftes Versprechen (Kredit). Entsprechend hätte sich auch die Wissenschaft vom Kapitalismus als offener Erkenntnisweg und interdisziplinäre Schnittstelle zu verstehen: als andauernder Versuch, analytische Gebäude in nimmer endender Folge aufzubauen, auszubauen und niederzureißen – ganz so wie Joseph Schumpeter es immer gepredigt hat. Nicht die eine Spiel-, Angebots-, Konjunktur- oder Grenznutzentheorie weist uns den Weg in die Zukunft, sondern der kapitalistische Imperativ: Denke immer das Neue ins Offene!
Kurzum: Schumpeter macht den widersprüchlichen Gedanken stark, dass sich die Stabilität der modernen Wirtschaftsordnung vor allem dadurch auszeichnet, dass sie sich ihre Instabilität erhält. Es wird höchste Zeit, dass sich die VWL der Erforschung dieser stabilen Instabilität zuwendet. Dabei fällt ihr nicht die Aufgabe zu, das kapitalistische Paradox aufzulösen. Sie muss nur den unendlichen Versuch unternehmen, es immer wieder neu zu begreifen. Ohne Abschied von Marktharmonielehre, überzeitlichen Gesetzmäßigkeiten und methodologischem Individualismus, ohne einen kulturhistorisch erweiterten Geldbegriff, ohne die Integration der Staatssphäre in die Marktanalyse und ohne ein runderneuertes Selbstverständnis der Branche als Sozialwissenschaft wird es nicht gehen. Die Ökonomen haben die Wahl: Sie können weiter versuchen, einen Markt zu erklären, den es nicht gibt. Oder sie fangen endlich an, die Wirtschaft zu verstehen.