Essay Ökonomen verstehen nichts von Wirtschaft

Die Volkswirtschaftslehre hat sich mit Modell-Mathematik und Alltagspsychologie von der Wirklichkeit entkoppelt. Sie braucht stattdessen ein neues Selbstverständnis und muss sich den Geisteswissenschaften öffnen.

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Die größten Ökonomen
Adam Smith, Karl Marx, John Maynard Keynes und Milton Friedman: Die größten Wirtschafts-Denker der Neuzeit im Überblick.
Gustav Stolper war Gründer und Herausgeber der Zeitschrift "Der deutsche Volkswirt", dem publizistischen Vorläufer der WirtschaftsWoche. Er schrieb gege die große Depression, kurzsichtige Wirtschaftspolitik, den Versailler Vertrag, gegen die Unheil bringende Sparpolitik des Reichskanzlers Brüning und die Inflationspolitik des John Maynard Keynes, vor allem aber gegen die Nationalsozialisten. Quelle: Bundesarchiv, Bild 146-2006-0113 / CC-BY-SA
Der österreichische Ökonom Ludwig von Mises hat in seinen Arbeiten zur Geld- und Konjunkturtheorie bereits in den Zwanzigerjahren gezeigt, wie eine übermäßige Geld- und Kreditexpansion eine mit Fehlinvestitionen verbundene Blase auslöst, deren Platzen in einen Teufelskreislauf führt. Mises wies nach, dass Änderungen des Geldumlaufs nicht nur – wie die Klassiker behaupteten – die Preise, sondern auch die Umlaufgeschwindigkeit sowie das reale Produktionsvolumen beeinflussen. Zudem reagieren die Preise nicht synchron, sondern in unterschiedlichem Tempo und Ausmaß auf Änderungen der Geldmenge. Das verschiebt die Preisrelationen, beeinträchtigt die Signalfunktion der Preise und führt zu Fehlallokationen. Quelle: Mises Institute, Auburn, Alabama, USA
Gary Becker hat die mikroökonomische Theorie revolutioniert, indem er ihre Grenzen niederriss. In seinen Arbeiten schafft er einen unkonventionellen Brückenschlag zwischen Ökonomie, Psychologie und Soziologie und gilt als einer der wichtigsten Vertreter der „Rational-Choice-Theorie“. Entgegen dem aktuellen volkswirtschaftlichen Mainstream, der den Homo oeconomicus für tot erklärt, glaubt Becker unverdrossen an die Rationalität des Menschen. Seine Grundthese gleicht der von Adam Smith, dem Urvater der Nationalökonomie: Jeder Mensch strebt danach, seinen individuellen Nutzen zu maximieren. Dazu wägt er – oft unbewusst – in jeder Lebens- und Entscheidungssituation ab, welche Alternativen es gibt und welche Nutzen und Kosten diese verursachen. Für Becker gilt dies nicht nur bei wirtschaftlichen Fragen wie einem Jobwechsel oder Hauskauf, sondern gerade auch im zwischenmenschlichen Bereich – Heirat, Scheidung, Ausbildung, Kinderzahl – sowie bei sozialen und gesellschaftlichen Phänomenen wie Diskriminierung, Drogensucht oder Kriminalität. Quelle: dpa
Jeder Student der Volkswirtschaft kommt an Robert Mundell nicht vorbei: Der 79-jährige gehört zu den bedeutendsten Makroökonomen des vergangenen Jahrhunderts. Der Kanadier entwickelte zahlreiche Standardmodelle – unter anderem die Theorie der optimalen Währungsräume -, entwarf für die USA das Wirtschaftsmodell der Reaganomics und gilt als Vordenker der europäischen Währungsunion. 1999 bekam für seine Grundlagenforschung zu Wechselkurssystemen den Nobelpreis. Der exzentrische Ökonom lebt heute in einem abgelegenen Schloss in Italien. Quelle: dpa
Der Ökonom, Historiker und Soziologe Werner Sombart (1863-1941) stand in der Tradition der Historischen Schule (Gustav Schmoller, Karl Bücher) und stellte geschichtliche Erfahrungen, kollektive Bewusstheiten und institutionelle Konstellationen, die den Handlungsspielraum des Menschen bedingen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. In seinen Schriften versuchte er zu erklären, wie das kapitalistische System  entstanden ist. Mit seinen Gedanken eckte er durchaus an: Seine Verehrung und gleichzeitige Verachtung für Marx, seine widersprüchliche Haltung zum Judentum. Eine seiner großen Stärken war seine erzählerische Kraft. Quelle: dpa
Amartya Sen Quelle: dpa

Vor ein paar Wochen haben 250 Professoren der Ökonomie „mit großer Sorge“ zum Protest gegen die Euro-Politik der Bundesregierung aufgerufen. Das Manifest, das vor einer europäischen Bankenunion und vor Finanzhilfen an Geldinstitute in „südlichen Ländern“ warnt, ist eine Grabrede auf die Volkswirtschaftslehre. Es spielt mit nationalen Ressentiments und verrührt das Unbehagen am Großkapital mit dem Einmaleins der Ordnungspolitik. Seither wissen wir: Das Produkt aus rechts und links und liberal ist ziemlich schrill und radikal. Keine Rettung von Spekulanten auf Kosten der Steuerzahler! Keine Haftung für Bankschulden! Keine Sozialisierung von Marktrisiken zulasten von Sparern! Mit solchen Forderungen macht man mächtig Quote, aber keinen Eindruck. Im Gegenteil: Wenn es das Ziel der Ökonomen war, die wirtschaftswissenschaftliche Debatte auf das Niveau von Sahra Wagenknecht (Linke) zu heben, so ist ihnen das glänzend gelungen. Mit dem feinen Unterschied, dass Wagenknecht „der Wall Street“ und „der City of London“ schon vor zehn Jahren die Zähne gezeigt hat, als die meisten Ökonomen die Fahne der Finanzmarkt-Deregulierung gar nicht hoch genug hissen konnten. Und auch die Systemrelevanz von „maroden Bankhäusern“ hat die Marxistin schon 2008 bezweifelt, also lange bevor nun auch die Fachwelt ein paar Geldinstitute ausfindig gemacht hat, an denen sie ein ordoliberales Exempel statuieren will.

„Das ist schlimmste Stammtisch-Ökonomie“
Prof. Dr. Walter Krämer, leitet das Institut für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der TU Dortmund und hat den Protestbrief initiiert. Seine Begründung: "Viele wissen gar nicht, auf was wir uns da einlassen. In zehn oder 15 Jahren müssen wir unser Rentensystem plündern, um irgendwelche maroden Banken zu retten - oder was noch schlimmer wäre, die Notenpresse anwerfen." Über 270 Wirtschaftswissenschaftler kritisieren die Beschlüsse des vergangenen EU-Gipfels. Doch nicht alle deutschen Ökonomen springen auf den Zug auf - sondern stehen der Bundeskanzlerin bei. Diese Ökonomen streiten sich um Merkels Europolitik. Quelle: Pressebild
Hans-Werner Sinn, Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung, hat den Protestbrief der Ökonomen von Walter Krämer redaktionell und begleitet und unterschrieben. Darin steht: "Wir, Wirtschaftswissenschaftlerinnen und Wirtschaftswissenschaftler der deutschsprachigen Länder, sehen den Schritt in die Bankenunion, die eine kollektive Haftung für die Schulden der Banken des Eurosystems bedeutet, mit großer Sorge. (...) Weder der Euro noch der europäische Gedanke als solcher werden durch die Erweiterung der Haftung auf die Banken gerettet, geholfen wird statt dessen der Wall Street, der City of London – auch einigen Investoren in Deutschland - und einer Reihe maroder in- und ausländischer Banken, die nun weiter zu Lasten der Bürger anderer Länder, die mit all dem wenig zu tun haben, ihre Geschäfte betreiben dürfen." Quelle: dpa
"Die Politiker mögen hoffen, die Haftungssummen begrenzen und den Missbrauch durch eine gemeinsame Bankenaufsicht verhindern zu können. Das wird ihnen aber kaum gelingen, solange die Schuldnerländer über die strukturelle Mehrheit im Euroraum verfügen." - Klaus F. Zimmermann, ehemaliger Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin, gehört zu den Unterzeichnern. Quelle: dapd
"Die Sozialisierung der Schulden löst nicht dauerhaft die aktuellen Probleme; sie führt dazu, dass unter dem Deckmantel der Solidarität einzelne Gläubigergruppen bezuschusst und volkswirtschaftlich zentrale Investitonsentscheidungen verzerrt werden." Auch Bernd Raffelhüschen, Professor der Universität Freiburg und Experte für Altersvorsorge, hat den Aufruf unterzeichnet. Quelle: dpa
"Wenn die soliden Länder der Vergemeinschaftung der Haftung für die Bankschulden grundsätzlich zustimmen, werden sie immer wieder Pressionen ausgesetzt sein, die Haftungssummen zu vergrößern oder die Voraussetzungen für den Haftungsfall aufzuweichen. Streit und Zwietracht mit den Nachbarn sind vorprogrammiert." Sachsens ehemaliger Ministerpräsident und Finanzprofessor Georg Milbradt (CDU) gehört zu den Mitunterzeichnern. Quelle: ASSOCIATED PRESS
Der Präsident des Instituts für Weltwirtschaft (IfW), Dennis Snower, kritisiert dagegen seine Kollegen: „Der Aufruf schürt lediglich Ängste und zeigt keinen einzigen Weg zur Lösung der Probleme auf.“ Quelle: dpa
Auch der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln, Michael Hüther, findet kritische Worte: Diese Aktion habe „mit ökonomischer Argumentation nichts zu tun“, sagte Hüther. Quelle: dapd

Ökonomen als Cheftautologen

Wenn es nicht so traurig wäre, man könnte darüber lachen. Aber leider ist der neue Pamphletismus der Ökonomenzunft kein lässlicher Schnitzer, sondern präziser Ausdruck ihrer umfassenden Orientierungsschwäche. Fünf Jahre nach Beginn der Finanzkrise – am 9. August 2007 stiegen die Zinsen für Interbankkredite sprunghaft an – kann von frischen Ideen in der Volkswirtschaftslehre nicht einmal ansatzweise die Rede sein. Nach der Großen Depression 1929 kreuzten sozialwissenschaftlich beschlagene Gelehrte wie John Maynard Keynes, Joseph Schumpeter und Friedrich August von Hayek die Klingen, um die Effizienzhypothese der Märkte und den Einfluss der Wirtschaftspolitik infrage zu stellen. Sie klärten uns über die Gefahren von Monopolbildung und Kapitalkonzentration auf, über die Instabilität des Kapitalismus, die Vorzüge und Grenzen des Wettbewerbs – und sie stritten leidenschaftlich darüber, ob es besser sei, ökonomische Krisen von Staats wegen zu heilen oder aber stattfinden zu lassen, damit der infizierte Markt möglichst schnell wieder gesunde. Die Debatte hatte eine intellektuelle Tiefe, die immer noch beeindruckt. Und heute?

Literatur von und über Adam Smith

Heute genügen sich die Ökonomen darin, den Regierenden ihre Kassandradienste zu erweisen. Ein Manifest folgt aufs andere, das Alarm schlägt und zur Umkehr aufruft, ob pro Bankenrettung oder kontra, mit Euro oder ohne. Im besten Fall schwingen sich die Ökonomen dabei zu Notaren der Krise auf – zu Cheftautologen, die das tagespolitisch Ersichtliche, so oder so, professoral beglaubigen. Was aber haben die Ökonomen denen zu bieten, die nicht zu den eifrigen Lesern ihrer formelakrobatischen Fachaufsätze gehören, aber wenigstens ein wenig über den Tellerrand des ökonomischen Zeitgeschehens hinausschauen wollen?

Der Mensch - Ein Rationalitätsbündel

Noch immer zaudern die Wirtschaftswissenschaftler, von der klassischen Markt-Harmonie-Lehre abzurücken – obwohl Adam Smith (was das anbelangt) spätestens seit Schumpeter erledigt ist. Noch immer halten sie daran fest, Märkte naturgesetzlich erklären zu wollen, obwohl es sich mittlerweile herumgesprochen haben sollte, dass es einen politisch unbeeinflussten Markt nie gegeben hat und Menschen nun mal keine berechenbare Vernunftwesen sind. Gleichzeitig werden Robert Shiller, George Akerlof oder Daniel Kahneman für genau diese „Erkenntnis“ als Innovatoren der Zunft gefeiert und für die „Entdeckung“ der Unvernunft mit Nobelpreisen geehrt. Warum eigentlich? Weil sie die Menschen nicht mehr zu Rationalitätsbündeln degradieren, sondern zu Reizreaktionsmaschinen?

Die Volkswirtschaftslehre leidet unter Autismus

Adam Smith machte die Nationalökonomie zur eigenständigen Wissenschaft und untersuchte als Erster systematisch die wohlstandsfördernde Wirkung von Arbeitsteilung und freien Märkten.
von Bert Losse

Jeder Geisteswissenschaftler schämt sich fremd, wenn Ökonomen erst heute auf den Trichter kommen, dass der Mensch in seinem Denken, Erinnern, Urteilen und Handeln möglicherweise kognitiven Verzerrungen unterliegt, weil es tatsächlich so etwas wie animal spirits gibt – Dezennien nach den Trieblehren von Arthur Schopenhauer und Sigmund Freud. Auch das Feld der ökonomischen Glücksforschung erblüht so frühlingshaft, als hätte es die Sinnangebote von Religion, Mystik, Bildung und Kunst nie gegeben, als hätten Theodor Fontane, Max Weber, Georg Simmel und Theodor W. Adorno uns nicht schon vor Ewigkeiten über die Folgekosten einer metaphysisch verarmten Geld-Welt informiert.

Schließlich die Tempelwächter der individuellen Freiheit, der Selbstsucht, des Homo oeconomicus: Kann es wirklich sein, dass die Wirtschaftswelt systematisch an den einschlägigen Schriftsätzen über die Sympathie (Adam Smith), das Mitleid (Jean-Jacques Rousseau), die soziale Arbeitsteilung (Émile Durkheim) und die Anerkennung (G.W.F. Hegel) vorbei gelesen hat? Haben die Ökonomen nicht mitbekommen, dass Gemeinschaft, Freundschaft, Familie und Paarbeziehung schon seit Aristoteles’ Zeiten als gehaltvolle Alternativen zum methodologischen Individualismus etabliert sind, der ihr Modelldenken noch immer beherrscht? Wie ist es möglich, dass in einen anerkannten Forscher wie Dennis Snower, Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, noch anno 2012 der Blitz der Erkenntnis fährt, dass „hergebrachte ökonomische Modelle“ unberücksichtigt ließen, „dass Menschen einander stark beeinflussen“ und „dass zwischenmenschliche Beziehungen große Auswirkungen auf unser Verhalten haben“?

All das führt zu dem beklemmenden Schluss, dass die Volkswirtschaftslehre unter schwerem Autismus leidet. Die Ökonomen haben ihre Disziplin mit Markt-Modell-Mathematik und Neuro-Schnickschnack von der Realwissenschaft entkoppelt – und sind im Wolkenkuckucksheim systemblinder Selbstreferenz gelandet. Sie müssen einsehen, dass ihnen der Kapitalismus ohne Kenntnis seiner anthropologischen Voraussetzungen, ohne Kritik seiner Entstehungs- und Erhaltungsbedingungen und ohne seine Analyse als menschliche „Kulturform” (Schumpeter) vollkommen unverständlich bleibt. Eine Öffnung hin zu den Geisteswissenschaften tut bitter not: Nur durch den interdisziplinären Austausch mit Philosophen, Soziologen, Historikern, Literaturwissenschaftlern und Juristen kann die Volkswirtschaft ihre verheerende Verengung zur Business-School-Economy überwinden.

Effizienz vor Relevanz

Diese Business-School-Economy versteht sich als Lehre der Effizienz, nicht als Lehre von gesellschaftspolitischer Relevanz; mathematische Exzellenz ist ihr wichtiger als sozialwissenschaftliche Bedeutung. Ihre Metiersicherheit ist fraglos beeindruckend – und doch verhält sich das Wachstum ihrer wirtschaftswissenschaftlichen Funktionsintelligenz (Ökonometrie, Statistik, Börsenphysik und so weiter) proportional zum Schrumpfprozess ihrer ordnungstheoretischen Selbstansprüche. Anders gesagt: Die Business-School-Economy beschreibt ihren Forschungsgegenstand funktionalistisch, ohne nach der Herausbildung der normativen Ordnung zu fragen, die sie prägt und beeinflusst – und innerhalb derer sich die „Wirtschaft der Gesellschaft“ (Niklas Luhmann) vollzieht. Als kritisch-distanzierte, sich selbst, ihre Rolle und Bedingtheit in einer sich stetig wandelnden Gesellschaft beobachtende moral science fristet sie ein blamabel marginales Dasein.

Die paradoxe Folge ist, dass der „Prozess der Zivilisation“, der sich spätestens seit der industriellen Revolution sehr weitgehend im Modus des Ökonomischen ereignet, ausgerechnet vonseiten der Wirtschaftswissenschaften nicht (mehr) auf verbindliche Begriffe zu bringen ist. Die Austauschbarkeit schwankender Wertvorstellungen, der Vormarsch der institutionellen Vernunft, die Expansion marktähnlicher Beziehungen, die Anonymisierung globalen Geschäftsverkehrs, die Verfeinerung des Geldwesens, die Fiktionalisierung der Finanzmärkte – das alles sind Entwicklungen, für die einer mathematisch zugerüsteten Volkswirtschaft die Worte fehlen. Was ihr fehlt, ist „eine sprachliche Apparatur, die dem allmählichen Gleiten” der historischen Verläufe angemessen wäre, die die „Polyfonie der Geschichte“ (Norbert Elias) im Ohr hätte, die nicht das Sein und Sollen einer (mehr oder weniger) funktionierenden Wirtschaft und ihrer Ideen beschriebe, sondern ihr Werden und Gewordenes als dominante Gesellschaftssphäre.

Wortgewalt - und Sprachlosigkeit

Die verborgenen Schätze der Krisenländer
Griechenland - Schwieriger PrivatisierungsplanDer griechische Staat besitzt Unternehmensbeteiligungen im geschätzten Wert von 34 Milliarden Euro. Hinzu kommt staatlicher Grundbesitz, den die Regierung in Athen auf rund 280 Milliarden Euro taxierte. Doch die Privatisierung der Besitztümer kommt nicht so richtig in Gang. Bisher konnten nur 1,8 Milliarden Euro durch Privatisierungen eingenommen werden. In diesem Jahr soll nach Aussage der Regierung nur noch die staatliche Lotterie und ein Gebäude in Athen verkauft werden. Das hier zu sehende Parlamentsgebäude in Athen steht jedoch nicht zum Verkauf. Quelle: dpa
Der griechische Staat soll mehr als 50 öffentliche Unternehmen besitzen, vom Athener Gemüse-Großmarkt über Hafenanlagen bis zu den Staatsbahnen OSE. Doch die meisten Unternehmen schreiben rote Zahlen und sind deshalb schwer zu verkaufen. Das ist allerdings die einzige noch verbleibende Vermögensquelle des Landes: Die Gold- und Devisenreserven sind auf gerade mal 5,8 Milliarden geschmolzen. Immerhin befinden sich noch 244 Milliarden Euro an Geldvermögen im Besitz der Bürger. Quelle: dpa
Portugal - Versteckte GoldreservenGemessen am Bruttoinlandsprodukt hat Portugal mit sechs Prozent die größten Gold- und Devisenreserven der Euro-Zone: 18 Milliarden Euro ist der Schatz der Notenbank wert. Doch laut Gesetz kann die Zentralbank dem Finanzministerium nur jedes Jahr die Erträge aus Zins- und Wertpapiererträgen überweisen - das Gold kann also nicht zur Schuldentilgung verwendet werden. Portugals Privathaushalte besitzen ein Geldvermögen von immerhin 384 Milliarden Euro. Ein Teil davon stünde für eine Vermögensabgabe und damit zur Sanierung der Staatsfinanzen zur Verfügung. Quelle: dpa
Außerdem befinden sich Unternehmensbeteiligung im Wert von 32 Milliarden Euro im Besitz des Staates. Der aktuelle Sanierungsplan der Troika sieht acht Milliarden Euro aus Privatisierungserlösungen vor - bisher nahm die Regierung circa drei Milliarden Euro ein. Derzeit stehen noch der Flughafenbetreiber ANA, das Energieunternehmen GALP sowie die Fluggesellschaft TAP zum Verkauf, für die sich auch die Deutsche Lufthansa interessiert. Quelle: dpa
Irland - Die Angst vor dem RamschverkaufDie Regierung in Dublin (Foto) hat der Bevölkerung versichert, sie lasse sich von den internationalen Geldgebern nicht zu einem „Ramschverkauf" von Staatsvermögen zwingen. Geschätzt wird der Wert der Unternehmen in Staatsbesitz auf knapp 22 Milliarden Euro geschätzt. Die in der Krise verstaatlichten Banken sind jedoch nach wie vor defizitär und praktisch unverkäuflich. Irlands Refinanzierungsbedarf bis Ende 2013 beläuft sich auf knapp zwölf Milliarden Euro. In der nächsten Zeit stehen die Privatisierung der Lotterie, der Ländereien und Holtzwerke, des Gasversorgers BGE an und der restliche 25-Prozent-Anteil an Aer Lingus an. Quelle: dapd
Darüber hinaus besitzt der irische Staat ganz oder teilweise ein Dutzend Häfen, mehrere Nahverkehrs- und Busunternehmen, die Eisenbahn, Stromversorger, den staatlichen Rundfunk- und TV-Sender RTE und die Nationale Agentur für Ölreserven. Dieses Portfolio soll aber offenbar nicht privatisiert werden Bei den eigenen Gold- und Devisenreserven ist für das Land, dessen Banken voll von der Finanzkrise getroffen wurden, nichts mehr zu holen. Der "Staatsschatz" beträgt nur noch 1,4 Milliarden Euro. Dagegen besitzen die Privathaushalte ein Geldvermögen von 297 Milliarden Euro, das zum Teil durch eine Vermögensabgabe abgeschöpft werden könnte. Quelle: dapd
Italien - Reiche leben das Dolce VitaRegierungschef Mario Monti (Foto) will 26 Milliarden Euro will er binnen drei Jahren im Haushalt einsparen. Auch von der Bevölkerung mehrheitlich abgelehnte Privatisierungen sind kein Tabu, um den Schuldenberg von fast zwei Billionen Euro abzubauen. Und hier ist einiges zu holen: Der Immobilienbesitz des Landes wird auf bis zu 370 Milliarden Euro geschätzt, hinzu kommen Unternehmensbeteiligungen für mehr als 100 Milliarden Euro. Viele Immobilien lassen sich allerdings nicht sofort zu Geld machen, weil sie Ministerien oder Ämter beherbergen. Aus ihrem Gebäudebestand will die Regierung nun Immobilien im Wert von rund 40 Milliarden Euro über Fonds verkaufen. Bei der Privatisierung von Staatsunternehmen zögert sie noch, weil der Versorger Enel und der Ölkonzern Eni, an denen der Staat je ein Drittel hält, lange als Dividenden-Garanten galten. Quelle: Reuters

Die Sprachlosigkeit der Volkswirte wurzelt in der Statik ihrer Lehrsätze, Normen und Begriffe – eine Statik übrigens, die die sozialphilosophischen Grundlagen der Ökonomie systematisch unterläuft: Zukünfte, die von keinem Einzelnen beabsichtigt sind und doch aus den Absichten und Aktionen vieler Einzelner hervorgehen, lassen sich nun einmal nicht in überzeitlichen Harmoniegesetzen („unsichtbare Hand“) abbilden, erfahrungsgemäß hochrechnen und charttechnisch extrapolieren. Evolutorische Ordnungen, die sich ständig in Bewegung befinden und aus blinden Wettbewerbsprozessen hervorgehen, gehorchen eben keiner empirisch aufweisbaren Logik (zyklische Wirtschaftsentwicklung) und lassen sich schon gar nicht planvoll optimieren (Niedrigzins- und Nachfragepolitik). Spontan auftauchende Denkweisen, die unsere Wirklichkeitswahrnehmung verändern, sind nicht Genieprodukte rational denkender Monster, sondern das Ergebnis multi-individueller Vernunft- und Gefühlsregungen im Rahmen eines sich ständig wandelnden kollektiven Bewusstseins. Entsprechend wird heute keine Krise der Welt durch Lösungen beendet, die Ökonomen wortgewaltig zum Patent anmelden („Schuldenschnitt!“, „Zurück zur D-Mark!“, „Banken zerschlagen!“), sondern laufend bemeistert – und zwar dadurch, dass wir uns diese Krisen eingestehen und sie bearbeiten.

Die größten Risiken für die deutsche Wirtschaft

Die Ökonomen blicken angesichts einer Vergangenheit, deren Geschehen unser Verstehen beeinflusst, angesichts einer Gegenwart, die sich laufend selbst überholt und angesichts einer Zukunft, von der man nur wissen kann, dass sie wahrscheinlich ist, rührend ratlos auf ihre Formeln und Tabellen. Sie suchen eine Wirklichkeit zu bannen, die sich ihnen immerzu entwindet – ganz so wie die Eleaten den Flug des Pfeiles zu bannen suchten, als befände er sich in unendlich vielen, aneinandergereihten Ruhezuständen. In einer heraklitischen Welt jedoch („Panta rhei“), in der Wahrheit nur im Wege einer verstehenden Auslegung ergriffen werden kann, stellt sich eine Ökonomie, die auf einem naturrechtlich hergeleiteten Individualismus und auf der Grundannahme paratheologischer Gesetzmäßigkeiten besteht, methodologisch ins Abseits.

Der Gründungsmythos freier Kaufleute

Ihren Urgrund hat die Borniertheit der Branche im Begriff, den sie sich vom Geld als Tausch- und Wertaufbewahrungsmittel macht. Ein solcher Geld-Begriff ist statisch, geschichtslos und normativ; er enthält, konserviert und formiert die liberale Utopie einer friedlich handelnden Gesellschaft, für die Geld nichts weiter ist als das pazifizierende Instrument einer arbeitsteiligen Wirtschaft. Der Gründungsmythos einer Marktwirtschaft freier Kaufleute verstellt den Blick auf die historische Prozesshaftigkeit einer Geld-Welt, die keine Gesetze, Stabilitäten und Gleichgewichte kennt, die niemals von Homines oeconomici bevölkert war und in der es zu keiner Zeit eine Trennung von Staat und Markt gegeben hat.

Ohne eine theoretische Aufwertung des Geldes wird die Ökonomie daher in der anhaltenden Debatte über die Zukunft des Kapitalismus auf die Rolle eines Zaungastes verwiesen bleiben. Die Einsicht in die real- und ideengeschichtlichen Prozesse, die die konstitutive Ambivalenz des Geldes als Lebens-Mittel und Lebens-Zweck zum Vorschein bringen (Georg Simmel), der beispiellose Aufstieg des Geldes zur Zentralkategorie wirtschaftlichen Handelns, die Würdigung seiner ungeheuren Bedeutungsvielfalt als Kapital, Schuld, Zins, Preis, Ertrag, Mehrwert, Eigentum und Vermögen – das alles ist in der Volkswirtschaft des 21. Jahrhunderts weitgehend brachliegendes Terrain.Noch immer taucht das Geld in VWL-Lehrbüchern an verlässlich später Stelle auf.

Damit ist selbstverständlich nicht gesagt, dass Volkswirtschaftler nicht ihr mathematisches Handwerk beherrschen sollten. Das müssen sie zweifellos. Die „Reform einer Wissenschaft“ aber vermag heute nicht mehr, wie noch Carl Menger meinte, „nur aus ihr selbst, nur aus den Tiefen ihrer eigenen Ideenkreise hervorzugehen“, im Gegenteil: Sie kann und darf nicht „nur das Werk der in die eigenen Probleme ihrer Disziplin sich vertiefenden Forscher sein“.

Der Methodenstreit

Börsenhändler an der New Yorker Börse Quelle: dpa

Der sogenannte Methodenstreit, den Menger und Gustav Schmoller 1883/84 ausfochten, hat sich vor dem Hintergrund einer Kontroverse über das richtige Menschenbild und die richtige Wirtschaftspolitik abgespielt. Menger erhob den Individualismus zum Ausgangspunkt seiner Disziplin und verteidigte ihn gegen Schmollers Verdikt, es gebe keine unveränderlichen Gesetze menschlichen Handelns. Schmoller zog daraus den Schluss, dass die Ökonomie vor allem ihre veränderliche Rolle im Kollektiv des Staates und der Gesellschaft in den Blick zu nehmen habe.

Natürlich ist die Kontroverse, auch wenn die meisten Ökonomen sie für aktuell halten, längst überholt: Schon Émile Durkheim hat 1893 die alles entscheidende Frage gestellt: „Wie geht es zu, dass das Individuum, obgleich es immer autonomer wird, immer mehr von der Gesellschaft abhängt?“ Nun, das ist in der Tat die Frage – und sie blamiert vor allem Menger: Erstens, weil Durkheim das Individuum nicht als Ichling, sondern im Hinblick auf Zweite und Dritte, genauer: auf ihre wechselseitige Abhängigkeit in einer arbeitsteiligen Welt hin entwirft. Zweitens, weil er damit zugleich die Formelhaftigkeit einer Ceteris-Paribus-Ökonomie (veränderte Parameter unter ansonsten gleichen Bedingungen) als wissenschaftstheoretischen Autismus demaskiert: „Der Chemiker darf wagen, von den physikalischen Eigenschaften eines chemischen Gegenstandes zu abstrahieren, aber, wenn er die atmosphärische Luft untersuchte und nach dem Grundsatze Menger’scher Isolierung sagte: ich ziehe dabei den Stickstoff in Betracht, weil er vorherrscht, so würde man ihn sofort aus dem Laboratorium werfen.“

Die Instrumente zur Euro-Rettung

Ausgerechnet Friedrich August von Hayek, ein Enkel der von Menger begründeten „Österreichischen Schule“, springt Schmoller 1956 bei. Für Hayek ist klar, dass die „wirklich fruchtbare Forschungstätigkeit eine sehr differenzierte Kombination von verschiedenen Arten von Wissen und Kenntnissen“ zur Voraussetzung hat – und dass die Ökonomie vor allem eine Lebenswissenschaft ist, die nicht nur mit Formeln operieren darf, sondern sich hermeneutischer (verstehender) Verfahren zu bedienen hat. Die Ökonomie, so Hayek, dürfe den Blick nicht nur nach innen richten und auf empirisch belastbare Systemimmanenz zielen: Sie muss sich auch selbst auslegen, kulturell einbetten, historisch verorten. Andernfalls sei sie keine Wissenschaft des Menschen, sondern eine Wissenschaft der Zahl, die ihre eigene Grundannahme – methodologischer Individualismus – desavouiert, indem sie Menschen als Totalquanten und aggregierte Datenbündel beschreibt. Hayek: „Niemand kann ein großer Ökonom sein, der nur Ökonom ist, und ich bin sogar versucht hinzuzufügen, dass der, der ausschließlich Ökonom ist, leicht zum Ärgernis, wenn nicht gar zu einer wirklichen Gefahr wird.“

Krise des Feuilletons

Freilich, zum Ärgernis, wenn nicht gar zu einer wirklichen Gefahr, sind im Verlauf der Krise auch die geworden, die sich als Angehörige der „kulturellen Fraktion“ über die Händel der Geld-Welt erhaben fühlen – und die das Geschäftstreiben vom Hochsitz ihrer verfeinerten Bildung aus mit soziologisch geschulter Distanz und widerwilliger Faszination zur Kenntnis nehmen. Es gehört offenbar immer noch zum guten Ton in den Geisteswissenschaften, die Vorzüge der Marktwirtschaft, die zivilisatorischen Errungenschaften des Fortschritts und das Bewegungsgesetz des Kapitalismus – Kredit, Innovation, Instabilität – möglichst schlecht gelaunt zur Kenntnis zu nehmen. Anders jedenfalls ist die Jubelbereitschaft, mit der das Feuilleton das parareligiöse (Tausch-)Paradigma der Ökonomen durch das (Schuld- und Vertrauens-)Paradigma der Anthropologie (David Graeber) ersetzt und zur „neuen“ Geschäftsgrundlage des Kapitalismus erklärt, nicht zu verstehen – zumal uns der Archäologe Bernhard Laum auf diese Geschäftsgrundlage schon 1924 aufmerksam gemacht hat. Tatsächlich liegt die Wahrheit, wie immer, in der Mitte – oder besser: mitten in der wachsenden Kluft des Unverständnisses, die zwischen Ökonomen und Kulturwissenschaftlern aufreißt, an den Universitäten, aber auch in den Ressorts der Zeitungen und Magazine.

Die Fronten stehen sich steiltheoretisch gegenüber. Liberale Ökonomen denunzieren den Schuldenstaat als Quelle aller Finanzübel, die derselbe Schuldenstaat mit der Rettung großer Banken zugleich aus der Welt schaffen soll. Und erlösungsbereite Geisteswissenschaftler begrüßen die Entheiligung der Märkte, die Unvernunft der Spekulation und die „Entdeckung“ eines referenzlosen Gespensterkapitals, das als Binärcode um den Globus vagabundiert (Joseph Vogl) – ganz so, als sei der Finanzmarkt nie der Altarraum gewesen, in dem einst auch seine Kritiker das Opfer ihrer Lebensversicherungen (und Vernunft) gebracht hätten. Was bei diesen rituellen Tänzen um Vorurteile auf der Strecke bleibt, ist vor allem zweierlei: das Verständnis für konstitutive Instabilität des Kapitalismus – und für die Komplementarität der Sphären „Staat“ und „Markt“.

Die Ur-Ursache der Krise

Abgeordnete im Bundestag Quelle: dapd

Weder „mehr Markt“ noch „mehr Staat“ sind angemessene Forderungen in einer Geld-Welt, die sich durch eine systemische Verschränkung von Markt und Staat auszeichnet. Eine Chance zur Lösung der Krise besteht deshalb nicht darin, den Markt zugunsten des Staates auszubremsen, Banken gegen Steuerzahler auszuspielen, Ratingagenturen ihrer Kontrollfunktion zu berauben – und schon gar nicht in einer Politisierung des Geldes, wie sie den Occupy-Bewegten vorschwebt. Vielmehr geht es darum, die Funktionstüchtigkeit der Sphären Staat und Markt durch klar definierte Aufgabenbeschreibungen zu stärken – und sei es vorerst im Wege des Ausschlussverfahrens: Der Staat ist nicht dazu da, die globalen Wettspiele einer Finanzaristokratie zu lizenzieren, die ihre Gewinne einstreicht und ihre Verluste der Allgemeinheit aufbürdet. Und die Finanzmärkte sind nicht dazu da, eine Politik zu finanzieren, die die Illusion von Wachstum nur noch dadurch aufrechterhalten kann, dass sie der Zukunft mit der Aufnahme immer neuer Schulden ihre Reserven stiehlt.

Wenn es eine Ur-Ursache dieser Krise gibt, dann ist es die Wachstumsdelle der Industrienationen in den Sechzigerjahren, die Kreditexplosion nach Aufgabe des Bretton-Woods-Systems 1971 und die Entstehung eines finanzmarktliberalen Sozialstaatsschulden-Kapitalismus, dessen Gedeih (und Verderb) auf der infiniten Produktion von Krediten beruht. Seit die westlichen Industrienationen nicht mehr im Schwellenland-Tempo wachsen, sind Finanzmärkte und Notenbanken Vehikel ihrer Regierungen geworden, um ein Wachstum aufrechtzuerhalten, das von den Fesseln der Realwirtschaft befreit ist. Die Notenbanken erfüllen ihre Aufgabe, indem sie unendlich viel Geld schöpfen – und die Finanzmärkte, indem sie das Kapital nicht mehr um Waren und Güter kreisen lassen, sondern vor allem um sich selbst. Der Unterschied zwischen Europa und den USA besteht darin, dass man sich den Sozialstaat diesseits des Atlantiks mit dem Mittel der Kreditaufschäumung erkaufte, während man ihn sich jenseits des Atlantiks mit zinskeynesianischen Mitteln ersparte – und seine realwirtschaftlich verarmende Bevölkerung stattdessen zu Häuser- und Ratenkäufen ermunterte.

Die Geldkrisen der Gegenwart sind daher kein Ausdruck von Marktversagen, keine Krise des Kapitalismus, kein Argument gegen die Gier und die Spekulation, sondern das Ergebnis eines staatskapitalistischen Systemversagens. Wenn Staaten heute mit Steuergeldern Banken kapitalisieren, handelt es sich dabei um verschuldete Staaten, die zur Erfüllung wohlfahrtsstaatlicher Bürger-Ansprüche von Banken kapitalisiert werden – und die genau deshalb angezählt sind, weil die Banken den Staaten bereits viel zu viel Geld für ihre fortgesetzte Wählerbeglückung geliehen haben. Insofern handelt es sich bei dieser Krise nicht um eine Pathologie des Kapitalismus, sondern um seine Heilung: Die allmähliche Realisierung der Kreditillusionen, auf die wir seit Jahrzehnten unsere Zukunft gebaut haben, bringt uns der tatsächlichen Kaufkraft der Gegenwart wieder ein kleines Stückchen näher.

Schlag nach bei Röpke

Wilhelm Röpke, der große Denker der sozialen Marktwirtschaft, hat bereits 1957 darauf hingewiesen, worauf es heute ankommt: „Den Regierenden die Herrschaft [über das Geld] zu nehmen und das Geldwesen von ihrer Willkür, Einsichtslosigkeit oder Schwäche unabhängig zu machen.“ Für Röpke war die Verletzung der „Unantastbarkeit des Geldes“ eines „der ernstesten Anzeichen für die äußerste Gefahr, in der sich Gesellschaft und Staat befinden“. Ahnungsvoll fürchtete er das Heraufziehen eines „Fiskalsozialismus“, der die Fata Morgana finanzieller Großspielräume durch die Schöpfung von Kreditgeld für bare Münze nimmt.

Natürlich, Röpke wendet sich damals, gegen Ende des ersten Wirtschaftswunder-Jahrzehnts mit einem durchschnittlichen Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 8,2 Prozent, noch nicht gegen den Schuldenstaat, sondern gegen eine antideflationäre Wirtschaftspolitik, die auf Kosten der Geldstabilität das Ziel der Vollbeschäftigung verfolgt. Eines aber ist ihm schon damals mit beängstigender Hellsichtigkeit klar: dass die Regierenden die schleichende Geldentwertung nicht mit der Erhöhung ihrer Sparanstrengungen beantworten werden, sondern mit der Ausweitung der Geldmenge – bis zuletzt die Notenbanken in die politische Pflicht genommen werden: „Nachdem die Goldwährung gefallen ist, war als letztes Gegengewicht gegen die unbeschränkte Herrschaft der Regierungen über das Geld noch ein gewisses Maß an Unabhängigkeit der Zentralnotenbanken übrig geblieben. Aber auch dieser Damm ist… geborsten… Auch die unabhängigen Zentralbanken scheinen zu den Bastillen zu gehören, die dem Jakobinismus unserer Zeit keine Ruhe lassen, bis sie geschleift sind.“

Widerspruch: stabilisierter Kapitalismus

Menschen in einer Einkaufsstraße Quelle: dpa

Und was lernen wir daraus? Vom Markt, der „kein Herz und kein Gehirn hat“, wie Paul Samuelson sich einmal treffend ausdrückte, der einfach „tut, was er tut“, ist keine Antwort auf die Krise zu erwarten. Die Börsen sind Kapitalumschlagplätze und Kreditvermehrungsmaschinen; hier arbeiten Herdentiere der Konjunktur, Lemminge der Liquidität, Profiteure der Geldflut. Es gehört zur Berufsbeschreibung von Spekulanten, dass sie einem Geldismus frönen, der Aktionäre zulasten der Mitarbeiter privilegiert, der schnelles Wachstum statt langfristiges Gedeihen belohnt und jede wirtschaftspolitische Rahmensetzung als Freiheitsberaubung empfindet.

Allein der Staat kann daher eine Ordnung durchsetzen, die von der Freiheit, die er den Finanzmärkten gewährt, nicht zugrunde gerichtet wird: mit ordnungspolitischer Schärfe und Selbstbescheidung, mit Verboten realwirtschaftlich relevanzloser Glücksspiele und mit der entschlossenen Abkehr von einem kreditexpansiven Wirtschaftsmodell, das sich von „kreativen Finanzprodukten“ abhängig macht. Eine Entpolitisierung des Geldes hat daher zur Bedingung und zum Ziel, die systemische Verklammerung von Markt und Staat zu lockern, um beide Sphären funktionell zu stärken. Ohne eine Rehabilitation des Staates als recht- und rahmensetzende Gewalt (durch die Revision seines Selbstverständnisses als Deregulierungsagentur zur Förderung der Finanzoligarchie) werden sich die allerorts erhobenen Wünsche nach einem Stabilitätsplus des Kapitalismus nicht erfüllen. Und ohne eine Rehabilitation des Marktes als Preisfindungsinstitut (durch die Revision seines Daseinszwecks als internationales Wettbüro und Kreditbroker für klamme Staaten) auch nicht.

Mag sein, dass es sich hierbei um den einzigen Gedanken handelt, den Markt- und Staatsverächter von sich weisen. Und doch spricht alles für die Diagnose, dass es sich bei der gegenwärtigen „Krise des Kapitalismus“ weniger um eine Folge der Instabilität des Marktgeschehens handelt, vielmehr um das Ergebnis von Bemühungen, vermeintliche Instabilitäten politisch zu stabilisieren. Klärt uns nicht jeder weitere Tag, an dem die Euro-Krise ihren Lauf nimmt, darüber auf, dass die wirtschafts-, finanz- und geldpolitischen Interventionen der „souveränen“ Staaten und ihrer Notenbanken die Lage zugleich stabilisieren und destabilisieren? Wer diese Frage bejaht, kann nicht anders als einverstanden sein mit der Forderung, dass die Politik ihre Abhängigkeit von den Märkten reduzieren muss, um ihre eigene Handlungsfähigkeit zu stärken – und die Märkte sich gegen staatliche Inanspruchnahme verwahren müssen, um sich ihre Funktionstüchtigkeit zu erhalten.

Der Streit, ob es sich beim Markt mit seinen himmlischen Harmoniegesetzen um die beste aller möglichen Wirtschaftswelten handelt (Grundannahme der Ökonomie) oder nur um eine wirkmächtige Fiktion mit quasitheologischem Gehalt (Grundannahme der Geisteswissenschaftler), ist daher vor allem irrelevant. Erstens ist keine größere Fiktion denkbar als die, die Politik könne das Marktgeschehen besser organisieren – „sichtbare Hände“ können einer von ihr gelenkten Wirtschaft schon per definitionem nicht den Weg in eine ungewisse Zukunft weisen. Zweitens können die (Finanz-)Märkte ihre Funktion als Informationslieferant gar nicht nachweisen, solange sie von der Realwirtschaft entkoppelt und mit der Finanzierung von Schuldenstaaten beauftragt sind. Drittens ist die These von der Selbstregulierungskraft des Marktes nicht dadurch entkräftet, dass Staaten Banken retten müssen, weil Banken zugleich Staaten finanzieren müssen – und die Marktkrise daher gar nicht ihre Funktion erfüllen kann, das eine oder andere Institut oder Land seiner überfälligen Insolvenz auszuliefern.

Vor allem aber ist stabilisierter Kapitalismus ein Widerspruch in sich. Kapitalismus ist Veränderung. Sein Tempus ist nicht Gegenwart, sondern Zukunft. Seine Modi sind nicht Kreislauf und Wiederkehr, sondern Expansion und Wandel. Sein Geld ist nicht akkumuliertes Vermögen (Kapital), sondern geschöpftes Versprechen (Kredit). Entsprechend hätte sich auch die Wissenschaft vom Kapitalismus als offener Erkenntnisweg und interdisziplinäre Schnittstelle zu verstehen: als andauernder Versuch, analytische Gebäude in nimmer endender Folge aufzubauen, auszubauen und niederzureißen – ganz so wie Joseph Schumpeter es immer gepredigt hat. Nicht die eine Spiel-, Angebots-, Konjunktur- oder Grenznutzentheorie weist uns den Weg in die Zukunft, sondern der kapitalistische Imperativ: Denke immer das Neue ins Offene!

Kurzum: Schumpeter macht den widersprüchlichen Gedanken stark, dass sich die Stabilität der modernen Wirtschaftsordnung vor allem dadurch auszeichnet, dass sie sich ihre Instabilität erhält. Es wird höchste Zeit, dass sich die VWL der Erforschung dieser stabilen Instabilität zuwendet. Dabei fällt ihr nicht die Aufgabe zu, das kapitalistische Paradox aufzulösen. Sie muss nur den unendlichen Versuch unternehmen, es immer wieder neu zu begreifen. Ohne Abschied von Marktharmonielehre, überzeitlichen Gesetzmäßigkeiten und methodologischem Individualismus, ohne einen kulturhistorisch erweiterten Geldbegriff, ohne die Integration der Staatssphäre in die Marktanalyse und ohne ein runderneuertes Selbstverständnis der Branche als Sozialwissenschaft wird es nicht gehen. Die Ökonomen haben die Wahl: Sie können weiter versuchen, einen Markt zu erklären, den es nicht gibt. Oder sie fangen endlich an, die Wirtschaft zu verstehen.

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