Essay Ökonomen verstehen nichts von Wirtschaft

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Widerspruch: stabilisierter Kapitalismus

Menschen in einer Einkaufsstraße Quelle: dpa

Und was lernen wir daraus? Vom Markt, der „kein Herz und kein Gehirn hat“, wie Paul Samuelson sich einmal treffend ausdrückte, der einfach „tut, was er tut“, ist keine Antwort auf die Krise zu erwarten. Die Börsen sind Kapitalumschlagplätze und Kreditvermehrungsmaschinen; hier arbeiten Herdentiere der Konjunktur, Lemminge der Liquidität, Profiteure der Geldflut. Es gehört zur Berufsbeschreibung von Spekulanten, dass sie einem Geldismus frönen, der Aktionäre zulasten der Mitarbeiter privilegiert, der schnelles Wachstum statt langfristiges Gedeihen belohnt und jede wirtschaftspolitische Rahmensetzung als Freiheitsberaubung empfindet.

Allein der Staat kann daher eine Ordnung durchsetzen, die von der Freiheit, die er den Finanzmärkten gewährt, nicht zugrunde gerichtet wird: mit ordnungspolitischer Schärfe und Selbstbescheidung, mit Verboten realwirtschaftlich relevanzloser Glücksspiele und mit der entschlossenen Abkehr von einem kreditexpansiven Wirtschaftsmodell, das sich von „kreativen Finanzprodukten“ abhängig macht. Eine Entpolitisierung des Geldes hat daher zur Bedingung und zum Ziel, die systemische Verklammerung von Markt und Staat zu lockern, um beide Sphären funktionell zu stärken. Ohne eine Rehabilitation des Staates als recht- und rahmensetzende Gewalt (durch die Revision seines Selbstverständnisses als Deregulierungsagentur zur Förderung der Finanzoligarchie) werden sich die allerorts erhobenen Wünsche nach einem Stabilitätsplus des Kapitalismus nicht erfüllen. Und ohne eine Rehabilitation des Marktes als Preisfindungsinstitut (durch die Revision seines Daseinszwecks als internationales Wettbüro und Kreditbroker für klamme Staaten) auch nicht.

Mag sein, dass es sich hierbei um den einzigen Gedanken handelt, den Markt- und Staatsverächter von sich weisen. Und doch spricht alles für die Diagnose, dass es sich bei der gegenwärtigen „Krise des Kapitalismus“ weniger um eine Folge der Instabilität des Marktgeschehens handelt, vielmehr um das Ergebnis von Bemühungen, vermeintliche Instabilitäten politisch zu stabilisieren. Klärt uns nicht jeder weitere Tag, an dem die Euro-Krise ihren Lauf nimmt, darüber auf, dass die wirtschafts-, finanz- und geldpolitischen Interventionen der „souveränen“ Staaten und ihrer Notenbanken die Lage zugleich stabilisieren und destabilisieren? Wer diese Frage bejaht, kann nicht anders als einverstanden sein mit der Forderung, dass die Politik ihre Abhängigkeit von den Märkten reduzieren muss, um ihre eigene Handlungsfähigkeit zu stärken – und die Märkte sich gegen staatliche Inanspruchnahme verwahren müssen, um sich ihre Funktionstüchtigkeit zu erhalten.

Der Streit, ob es sich beim Markt mit seinen himmlischen Harmoniegesetzen um die beste aller möglichen Wirtschaftswelten handelt (Grundannahme der Ökonomie) oder nur um eine wirkmächtige Fiktion mit quasitheologischem Gehalt (Grundannahme der Geisteswissenschaftler), ist daher vor allem irrelevant. Erstens ist keine größere Fiktion denkbar als die, die Politik könne das Marktgeschehen besser organisieren – „sichtbare Hände“ können einer von ihr gelenkten Wirtschaft schon per definitionem nicht den Weg in eine ungewisse Zukunft weisen. Zweitens können die (Finanz-)Märkte ihre Funktion als Informationslieferant gar nicht nachweisen, solange sie von der Realwirtschaft entkoppelt und mit der Finanzierung von Schuldenstaaten beauftragt sind. Drittens ist die These von der Selbstregulierungskraft des Marktes nicht dadurch entkräftet, dass Staaten Banken retten müssen, weil Banken zugleich Staaten finanzieren müssen – und die Marktkrise daher gar nicht ihre Funktion erfüllen kann, das eine oder andere Institut oder Land seiner überfälligen Insolvenz auszuliefern.

Vor allem aber ist stabilisierter Kapitalismus ein Widerspruch in sich. Kapitalismus ist Veränderung. Sein Tempus ist nicht Gegenwart, sondern Zukunft. Seine Modi sind nicht Kreislauf und Wiederkehr, sondern Expansion und Wandel. Sein Geld ist nicht akkumuliertes Vermögen (Kapital), sondern geschöpftes Versprechen (Kredit). Entsprechend hätte sich auch die Wissenschaft vom Kapitalismus als offener Erkenntnisweg und interdisziplinäre Schnittstelle zu verstehen: als andauernder Versuch, analytische Gebäude in nimmer endender Folge aufzubauen, auszubauen und niederzureißen – ganz so wie Joseph Schumpeter es immer gepredigt hat. Nicht die eine Spiel-, Angebots-, Konjunktur- oder Grenznutzentheorie weist uns den Weg in die Zukunft, sondern der kapitalistische Imperativ: Denke immer das Neue ins Offene!

Kurzum: Schumpeter macht den widersprüchlichen Gedanken stark, dass sich die Stabilität der modernen Wirtschaftsordnung vor allem dadurch auszeichnet, dass sie sich ihre Instabilität erhält. Es wird höchste Zeit, dass sich die VWL der Erforschung dieser stabilen Instabilität zuwendet. Dabei fällt ihr nicht die Aufgabe zu, das kapitalistische Paradox aufzulösen. Sie muss nur den unendlichen Versuch unternehmen, es immer wieder neu zu begreifen. Ohne Abschied von Marktharmonielehre, überzeitlichen Gesetzmäßigkeiten und methodologischem Individualismus, ohne einen kulturhistorisch erweiterten Geldbegriff, ohne die Integration der Staatssphäre in die Marktanalyse und ohne ein runderneuertes Selbstverständnis der Branche als Sozialwissenschaft wird es nicht gehen. Die Ökonomen haben die Wahl: Sie können weiter versuchen, einen Markt zu erklären, den es nicht gibt. Oder sie fangen endlich an, die Wirtschaft zu verstehen.

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