Auffälliger geht´s nicht mehr. Am Donnerstag schaltete der bekannte französische Fondsmanager Edouard Carmignac ganzseitige Anzeigen in führenden deutschen Tageszeitungen, darunter der "FAZ" und dem "Handelsblatt". In der Form eines offenen Briefes an den „sehr geehrten Herrn Draghi“ forderte Carmignac die EZB auf, die Mitgliedstaaten der Währungsunion „unbedingt durch eine sehr lockere Geldpolitik zu entlasten und so den Euro zu schwächen, damit die europäische Wirtschaft wieder wettbewerbsfähig ist und die Inflation auf rund zwei Prozent steigt.“ Um dieses Ziel zu erreichen, empfiehlt Carmignac EZB-Chef Mario Draghi, den Leitzins von derzeit 0,25 auf Null Prozent zu senken und für monatlich 50 Milliarden Euro Staatsanleihen der Euro-Mitgliedstaaten zu kaufen.
Mit seinem Wunsch, die Geldschleusen zu öffnen, steht Carmignac nicht allein da. Derzeit vergeht kaum ein Tag, an dem nicht ein Vertreter der Finanzindustrie oder ein Politiker aus den Euro-Krisenländern die EZB drängt, die geldpolitischen Zügel zu lockern. Seit EZB-Chef Draghi Anfang April klar gemacht hat, die EZB erwäge Staatsanleihen der Euroländer in großem Stil zu kaufen, um „gegen das Risiko einer zu langen Periode niedriger Inflationsraten vorzugehen“, wittern die Märkte Morgenluft. Das von Draghi ins Spiel gebrachte Kaufprogramm, in der Finanzindustrie unter dem Namen „Quantitative Easing (QE)“ bekannt, ließe einen wahren Geldregen über die Eurozone niedergehen. Die EZB folgte damit den Notenbanken in den USA, Großbritannien und Japan, die schon seit längerem Staatsanleihen kaufen und im Gegenzug Zentralbankgeld ins Finanzsystem pumpen.
Vordergründig geht es der EZB darum, die Eurozone vor einem Absturz in die Deflation zu bewahren. Darunter versteht man einen dauerhaften Rückgang des Preisniveaus. Zuletzt stiegen die Preise in der Eurozone um lediglich 0,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Der geringe Inflationsdruck ist Folge der sinkenden Lohnkosten in den Krisenländern der Währungsunion, die auf diese Weise versuchen, wieder wettbewerbsfähig zu werden. Den Währungshütern ist die Teuerungsrate von 0,5 Prozent jedoch zu gering. Sie fürchten, dass es von dort nur ein kleiner Schritt ist bis zu einer ausgewachsenen Deflation.
Die vor allem von Notenbankern und Politikern aus den südeuropäischen Ländern geschürte Deflationsangst ist bei genauem Hinschauen jedoch unbegründet. Ein nachhaltiger Rückgang des Preisniveaus, der die gesamte Eurozone umfasst, ist nur möglich, wenn die Geldmenge sinkt. Davon aber kann derzeit keine Rede sein. Die breit gefasste Euro-Geldmenge M3 (dazu gehören Bargeld, Sicht-, Spar- und Termineinlagen sowie Anteile an Geldmarktfonds) wächst um 1,3 Prozent gegenüber dem Vorjahr (siehe Grafik unten). Die eng gefasste Geldmenge M1 (Bargeld und Sichteinlagen) expandiert sogar um 6,2 Prozent. Das spricht gegen eine Deflation.
Hilfe für überschuldete Staaten
Daher liegt es nahe, dass es den Befürwortern von Anleihekäufen in Wahrheit um etwas anderes geht: Sie wollen mit einer neuen Geldschwemme die hoffnungslos überschuldeten Staaten der Eurozone vor dem Bankrott retten. Grundsätzlich hängt die Schuldenquote eines Landes (Schulden in Relation zum Bruttoinlandsprodukt (BIP)) von fünf Faktoren ab: der Schuldenquote in der Vergangenheit, dem Haushaltssaldo ohne Zinsausgaben, dem Zinssatz für die Verbindlichkeiten des Staates, dem realen Wirtschaftswachstum und der Inflationsrate.
Weil Schuldenschnitte politisch tabu, Sparmaßnahmen unpopulär und die realen Wachstumsraten mikroskopisch klein sind, bleiben nur Zinssenkungen und/oder höhere Inflationsraten als Mittel zur Entschuldung der Staaten. Dabei gilt: Je deutlicher die Zinsen unter der Wachstumsrate des nominalen BIP liegen, desto geringer fällt die Schuldenquote des Staates aus.
Das spricht dafür, dass die EZB solange Anleihen kaufen wird, bis die Zinsen unter die Wachstumsrate des BIP gesunken sind. So erklärte Benoit Coeure, Mitglied im Direktorium der EZB, die quantitative Lockerung sei eigentlich die falsche Bezeichnung für das Programm. „Bei Wertpapierkäufen im Euroraum geht es nicht um die Menge, sondern um den Preis“, so Coeure.
Zwei Wirkungskanäle
Allerdings laufen Zinssenkungen ins Leere, wenn das Preisniveau zurück geht und das nominale BIP schrumpft. Daher sind die Notenbanker erpicht darauf, dass die Anleihekäufe die Inflation in die Höhe treiben. Das kann über den Kredit- und den Wechselkurskanal geschehen. Kauft die EZB von den Geschäftsbanken Staatsanleihen, so bezahlt sie diese mit Zentralbankgeld. Die Banken können das Geld der Zentralbank verwenden, um damit Kredite an Unternehmen und private Haushalte zu refinanzieren. Auf diese Weise entsteht neues Geld in den Händen der Bürger und Unternehmen. Kaufen sie damit Güter und Dienstleistungen, steigen die Preise.
Doch derzeit funktioniert der Kreditkanal in den Krisenländern nicht. Das hat mehrere Gründe. Zum einen sind die Ausfallrisiken für Kredite wegen der schlechten Wirtschaftslage hoch. Die Banken stellen ihren Kunden daher (zu Recht) vergleichsweise hohe Zinsen in Rechnung (siehe Grafik).
Das bremst die Kreditnachfrage. Zum anderen sind viele Bürger und Unternehmen in den Peripherieländern bis zur Halskrause verschuldet. Sie haben kaum Interesse an neuen Krediten. Dazu kommt, dass die schlechten Absatzaussichten und die hohe Arbeitslosigkeit die Nachfrage nach Investitions- und Konsumkrediten dämpfen. Zudem sind die Banken zurückhaltend bei Kreditgeschäften, weil sie ihre Bilanzen wegen der Überprüfung durch die EZB nicht mit wackeligen Krediten belasten wollen. Kein Wunder also, dass die Unternehmenskredite in Italien ihr Vorjahresniveau derzeit um fünf Prozent, in Spanien sogar um rund zehn Prozent unterschreiten.
Die EZB könnte den gestörten Kreditkanal jedoch umgehen. Dazu müsste sie Anleihen und andere Wertpapiere direkt von den Bürgern und Unternehmen kaufen. Die Banken schrieben ihren Kunden den Verkaufserlös dann auf deren Konten gut. Das erhöht den Bestand an Sichteinlagen und die Geldmengen M1 und M3. Die EZB kann die Wirtschaft mithin auch mit Geld fluten und die Inflation erhöhen, wenn der Kreditkanal verstopft ist.
EZB misst Wechselkurs große Bedeutung zu
Der zweite Kanal, der der EZB zur Verfügung steht, ist der Wechselkurs des Euro. Kauft sie Staatsanleihen, so drückt sie deren Rendite nach unten. Das schmälert die Attraktivität von Anlagen in der Eurozone und verringert die Nachfrage nach dem Euro. Zudem dürften die Banken einen Teil des Geldes, das sie von der Zentralbank erhalten, in Ländern außerhalb der Eurozone anlegen, die mit höheren Zinsen locken. Das schickt den Euro-Wechselkurs auf Talfahrt und verteuert die Importe. Die EZB misst dem Wechselkurs des Euro zur Re-Inflationierung der Währungsunion große Bedeutung zu. Das zeigen die jüngsten Warnungen der Notenbanker vor einem starken Euro.
Sollen die Anleihekäufe die Zinsen spürbar senken und die Inflation erhöhen, muss die EZB tief in die Tasche greifen. 1000 Milliarden Euro, so heißt es in Zentralbankkreisen, plane sie für den Kauf von Anleihen. Das entspricht rund zehn Prozent der Wirtschaftsleistung der Eurozone. Die Bilanzsumme der Notenbank erhöhte sich dadurch um mehr als 46 Prozent. Welche Anleihen aber wird die EZB kaufen? Um den Euro zu schwächen, böte es sich an, neben Euro-Staatsanleihen auch US-Staatsanleihen zu erwerben. Allerdings riskierte die EZB dann den Vorwurf, sie manipuliere die Devisenkurse.
Um den Eindruck zu vermeiden, bei den Anleihekäufen ginge es um die Staatsfinanzierung mit der Notenpresse, könnte die EZB neben Staatsanleihen auch Unternehmensanleihen, Bankanleihen und Aktien erwerben. Bei der regionalen Auswahl könnte sie sich am Anteil der Länder am EZB-Kapital orientieren. Das bedeutet, die Notenbank würde 26 Prozent deutsche Anleihen, 20 Prozent französische und 18 Prozent italienische Anleihen erwerben. Außerdem könnte der EZB-Rat beschließen, dass die nationalen Zentralbanken nur Anleihen ihres eigenen Landes kaufen. Das trüge dazu bei, den zu erwartenden Widerstand der Bundesbank gegen ein Anleihekaufprogramm zu brechen.
Ordnungspolitischer Sündenfall
Doch egal, wie die Anleihekäufe ausgestaltet werden: Sie bleiben ein ordnungspolitischer Sündenfall, dessen ökonomische Folgeschäden kaum reparabel sind. Denn durch künstlich nach unten gedrückte Zinsen erscheinen Investitionen rentabel, die es bei genauer Betrachtung gar nicht sind. Früher oder später müssen diese Investitionen liquidiert werden. Auf den Boom folgt dann der Bust. Die Eurozone stürzt in die nächste Krise.
Darüber hinaus mindern niedrige Zinsen den Reform- und Spardruck auf die Regierungen. Unter dem Schutzschirm der EZB und der Euro-Rettungsprogramme haben Italien und Frankreich bei ihren Reform- und Sparanstrengungen unlängst nachgelassen. Drückt die EZB die Zinsen weiter nach unten, gibt sie den Politikern Anreize, noch mehr Schulden aufzunehmen. Die Eurozone pervertierte endgültig zur Schuldenunion.
Das aber änderte die Rolle der EZB. Denn je höher die Ausfallrisiken sind, die sie sich durch den Kauf von Staatsanleihen in die Bilanz holt, desto abhängiger wird sie von den Regierungen. Können diese ihre Schulden nicht mehr bedienen, entstehen der EZB milliardenschwere Verluste, die ihr Eigenkapital aufzehren. Für die Rekapitalisierung der EZB müssten die Steuerzahler auch in den solide wirtschaftenden Ländern bluten. „Die EZB wird zusehends Gläubiger von schlechten Kreditnehmern - und von ihnen abhängig“, warnt Thorsten Polleit, Chefvolkswirt der Degussa. Um ihre Bilanz zu retten, muss die EZB die Regierungen flüssig halten. Im Klartext heißt das: Die Notenbanker werden noch mehr Geld drucken.
Neue Blasen
Schon der Anleihekauf von 1000 Milliarden Euro könnte der Inflation einen kräftigen Schub verleihen. So kalkulieren die Ökonomen der EZB mit einem Anstieg der Inflationsrate um 0,2 bis 0,8 Prozentpunkte. Deutlich höher könnte der Teuerungsschub ausfallen, wenn die EZB den Betrag von 1000 Milliarden Euro für den direkten Ankauf von Anleihen von Bürgern, Unternehmen und anderen Nichtbanken verwendet. Nach Berechnungen von Degussa-Ökonom Polleit stiege die Geldmenge M3 in diesem Fall um rund zehn Prozent (siehe Tabelle oben).
Wächst die gesamtwirtschaftliche Produktion im Trend um 2,0 Prozent und sinkt die Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes um 0,5 Prozent, so klettert das Preisniveau um 7,5 Prozent in die Höhe. Ein Großteil des Inflationsschubs dürfte sich in den Vermögenspreisen entladen, vermutet Polleit. Schon die Geldschwemme der vergangenen Jahre hat vor allem die Preise von Grundstücken, Häusern, Rohstoffen, Aktien und Anleihen in die Höhe getrieben. Die Folgen waren Blasen, deren Platzen die Wirtschaft in die Krise stürzte.
Fondsmanager Carmignac aber juckt das alles nicht. Finanzjongleure wie er leben von liquiditätsgetriebenen Haussen. Je größer diese ausfallen, desto höher die Kursgewinne, die sie einfahren. Ebbt die Geldzufuhr von der Zentralbank hingegen ab und verharren die Zinsen über der Wachstumsrate des nominalen BIP, drohen die Eurostaaten auf den Bankrott zuzusteuern.
Dann hat auch Carmignac nichts mehr zu lachen. Er müsste seinen Kunden erklären, warum er deren Geld jahrelang in die Schuldpapiere politischer Hasardeure und Bankrotteure gesteckt hat.