Geistesblitze der Ökonomie (VII) Warum mehr Konsum nicht immer mehr Nutzen bringt

Das nach ihm benannte Gesetz des abnehmenden Grenznutzens brachte Ökonom Hermann Heinrich Gossen zu Lebzeiten keinen wissenschaftlichem Ruhm. Unser Konsumverhalten beschreibt es nach wie vor treffend.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Wie viel Konsum darf es sein? - Nach Gossens Theorie sinkt der Nutzen jeder zusätzlich konsumierten Einheit. Im Optimum ist der Nutzen aller zuletzt verbrauchten Güter identisch. Quelle: dpa

Diesen Mann darf man getrost als B-Promi der Ökonomenzunft bezeichnen. Von Hermann Heinrich Gossen existiert kein einziges Bild. Er hat nur ein einziges Buch geschrieben, und das hat über Jahrzehnte hinweg niemand gelesen. In seiner Geburtsstadt Düren erinnert in der Steinstraße eine Gedenktafel an den Sohn der Stadt, aber ähnliche Ehre wird dort auch "Mundartdichtern" des 19. Jahrhunderts zuteil. In Köln, wo Gossen im Februar 1858 mit 47 Jahren an Tuberkulose starb, ist eine Straße nach ihm benannt - im unwirtlichen Gewerbegebiet Marsdorf. Man darf davon ausgehen, dass selbst VWL-Studenten, die sich hierher verirren, mit dem Namen nicht mehr viel anfangen können.

Die größten Ökonomen
Adam Smith, Karl Marx, John Maynard Keynes und Milton Friedman: Die größten Wirtschafts-Denker der Neuzeit im Überblick.
Gustav Stolper war Gründer und Herausgeber der Zeitschrift "Der deutsche Volkswirt", dem publizistischen Vorläufer der WirtschaftsWoche. Er schrieb gege die große Depression, kurzsichtige Wirtschaftspolitik, den Versailler Vertrag, gegen die Unheil bringende Sparpolitik des Reichskanzlers Brüning und die Inflationspolitik des John Maynard Keynes, vor allem aber gegen die Nationalsozialisten. Quelle: Bundesarchiv, Bild 146-2006-0113 / CC-BY-SA
Der österreichische Ökonom Ludwig von Mises hat in seinen Arbeiten zur Geld- und Konjunkturtheorie bereits in den Zwanzigerjahren gezeigt, wie eine übermäßige Geld- und Kreditexpansion eine mit Fehlinvestitionen verbundene Blase auslöst, deren Platzen in einen Teufelskreislauf führt. Mises wies nach, dass Änderungen des Geldumlaufs nicht nur – wie die Klassiker behaupteten – die Preise, sondern auch die Umlaufgeschwindigkeit sowie das reale Produktionsvolumen beeinflussen. Zudem reagieren die Preise nicht synchron, sondern in unterschiedlichem Tempo und Ausmaß auf Änderungen der Geldmenge. Das verschiebt die Preisrelationen, beeinträchtigt die Signalfunktion der Preise und führt zu Fehlallokationen. Quelle: Mises Institute, Auburn, Alabama, USA
Gary Becker hat die mikroökonomische Theorie revolutioniert, indem er ihre Grenzen niederriss. In seinen Arbeiten schafft er einen unkonventionellen Brückenschlag zwischen Ökonomie, Psychologie und Soziologie und gilt als einer der wichtigsten Vertreter der „Rational-Choice-Theorie“. Entgegen dem aktuellen volkswirtschaftlichen Mainstream, der den Homo oeconomicus für tot erklärt, glaubt Becker unverdrossen an die Rationalität des Menschen. Seine Grundthese gleicht der von Adam Smith, dem Urvater der Nationalökonomie: Jeder Mensch strebt danach, seinen individuellen Nutzen zu maximieren. Dazu wägt er – oft unbewusst – in jeder Lebens- und Entscheidungssituation ab, welche Alternativen es gibt und welche Nutzen und Kosten diese verursachen. Für Becker gilt dies nicht nur bei wirtschaftlichen Fragen wie einem Jobwechsel oder Hauskauf, sondern gerade auch im zwischenmenschlichen Bereich – Heirat, Scheidung, Ausbildung, Kinderzahl – sowie bei sozialen und gesellschaftlichen Phänomenen wie Diskriminierung, Drogensucht oder Kriminalität. Quelle: dpa
Jeder Student der Volkswirtschaft kommt an Robert Mundell nicht vorbei: Der 79-jährige gehört zu den bedeutendsten Makroökonomen des vergangenen Jahrhunderts. Der Kanadier entwickelte zahlreiche Standardmodelle – unter anderem die Theorie der optimalen Währungsräume -, entwarf für die USA das Wirtschaftsmodell der Reaganomics und gilt als Vordenker der europäischen Währungsunion. 1999 bekam für seine Grundlagenforschung zu Wechselkurssystemen den Nobelpreis. Der exzentrische Ökonom lebt heute in einem abgelegenen Schloss in Italien. Quelle: dpa
Der Ökonom, Historiker und Soziologe Werner Sombart (1863-1941) stand in der Tradition der Historischen Schule (Gustav Schmoller, Karl Bücher) und stellte geschichtliche Erfahrungen, kollektive Bewusstheiten und institutionelle Konstellationen, die den Handlungsspielraum des Menschen bedingen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. In seinen Schriften versuchte er zu erklären, wie das kapitalistische System  entstanden ist. Mit seinen Gedanken eckte er durchaus an: Seine Verehrung und gleichzeitige Verachtung für Marx, seine widersprüchliche Haltung zum Judentum. Eine seiner großen Stärken war seine erzählerische Kraft. Quelle: dpa
Amartya Sen Quelle: dpa

Wie aber kommt es dann, dass der renommierte Verein für Socialpolitik (VfS) auf seiner Jahrestagung vor einigen Wochen einen nach Gossen benannten Preis vergeben hat (an die junge Mannheimer Ökonomin Michèle Tertilt)? Was ist davon zu halten, dass der große französische Ökonom Léon Walras über den als faul, unstet und hedonistisch geltenden Gossen schrieb, dieser sei einer "der bemerkenswertesten Ökonomen, der je gelebt hat"? Oder dass der Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek zu einer Neuauflage von Gossens Werk im Jahr 1927 das respektvolle Vorwort verfasste?

Optimaler Konsumplan

Was den 1810 als Sohn eines Steuereintreibers geborenen Gossen posthum zu einer Größe der Wirtschaftsgeschichte werden lässt, sind seine Beiträge zur Konsum- und Grenznutzentheorie. Der Grazer Wirtschaftsprofessor Heinz D. Kurz bezeichnet den fast Vergessenen gar als "Gründungsvater der modernen Mikroökonomie".*

In seinem 1854 in Braunschweig veröffentlichen Erst- und Letztwerk mit dem sperrigen Namen "Entwickelung der Gesetze des menschlichen Verkehrs und der daraus fließenden Regeln für menschliches Handeln" setzt sich Gossen mit dem optimalen Konsumplan eines Haushalts auseinander. Er löst darin - mit einer für die damalige Zeit ungewöhnlich komplexen mathematischen Unterfütterung - das sogenannte Wertparadoxon der klassischen Ökonomie auf. Zugleich bereitet er den Boden für die spätere Grenznutzentheorie der neoklassischen Schule um Walras, Carl Menger und William Stanley Jevons.

von Christopher Schwarz

Die klassischen Ökonomen hatten methodisch nicht erklären können, warum der objektive Wert eines Produktes von seinem Preis stark abweichen kann. Warum etwa sind überlebenswichtige Güter wie Wasser billig zu haben, während objektiv unwichtige Luxusprodukte wie Diamanten viel Geld kosten? Adam Smith (1723–1790), der Begründer der Nationalökonomie, unterschied zwar einen objektiven Tauschwert und einen Gebrauchswert. Doch warum diese auseinanderklaffen können, vermochte Smith nicht klar zu beantworten. Der Gebrauchswert von Wasser ist ungleich höher als der eines Diamanten - doch beim Tauschwert ist es umgekehrt.

*Heinz D. Kurz (Hrsg.): Klassiker des deutschen Denkens, Band 1, Verlag C.H. Beck

Wer war Gossen?

Welcher Besitz den Bürgern am wichtigsten ist
Schmuck, Taschen, Uhren: Acht Prozent der Befragten sind diese Gegenstände wichtig. Quelle: Das Meinungsforschungsinstitut forsa hat zu diesem Thema 1.008 Teilnehmer befragt. Die Generali Versicherung hatte die Umfrage in Auftrag gegeben. Quelle: dpa
Elf Prozent finden Haushaltsgeräte besonders wichtig. Quelle: obs
16 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass besonders Hobby- und Sportgeräte wichtigen Besitz darstellen. Quelle: dpa/dpaweb
23 Prozent der Befragten legen Wert auf Kleidung. Allerdings sehen das Männer naturgemäß gelassener: Nur 15 Prozent der männlichen Befragen halten das für wichtig - gegen 31 Prozent der Frauen. Quelle: dapd
28 Prozent legen Wert auf Elektro- und Unterhaltungsgeräte. Auch hier haben die Interviewer einen Unterschied zwischen den Geschlechtern ausgemacht: 37 Prozent der Männer sind TV-Fernseher und Playstation & Co besonders wichtig. Doch nur 19 Prozent der weiblichen Befragten teilen diese Ansicht. Quelle: dpa
Auch bei der Inneneinrichtung und Möbeln gibt es zwischen Männlein und Weiblein einen Unterschied: Während 28 Prozent der Männer der Besitz einer Couch wichtig ist und sich gerne um die Gardinen kümmert, sind schon 44 Prozent der Frauen der Ansicht, dass der Besitz von Möbeln besonders wichtig ist. Quelle: dpa
Wie sollte es auch anders sein: Männer bevorzugen zu 54 Prozent Wagen, Motoren und Fahrräder. Diese Art der Mobilität bevorzugen dagegen nur 44 Prozent der Frauen. Insgesamt 49 Prozent der Befragten finden Autos wichtig. Quelle: dpa

Gossen entwickelte eine subjektive Wertlehre, indem er den individuellen Nutzen des Konsums mit einbezog. "Gossen unterstellt, dass die verschiedenen Bedürfnisse unabhängig voneinander und addierbar seien", schreibt Ökonom Kurz. Nach dem 1. Gossen'schen Gesetz, auch Sättigungsgesetz genannt, nimmt der Nutzen, den ein Gut dem Konsumenten in einer bestimmten Zeit verschafft, mit jeder zusätzlich verbrauchten Einheit ab. Der Nutzen durch Konsum lässt sich also nicht linear steigern, da der Grad der Bedürfnisbefriedigung zunimmt. Der Preis eines Gutes folgt letztlich seinem Grenznutzen. Dieser sinkt, wenn ein Gut reichlich vorhanden ist, und steigt, wenn ein Produkt knapp und selten ist.

Chips oder Bier?

Da zudem jeder Mensch einer Zeitbeschränkung unterliegt, muss er zwischen Alternativen wählen und Konsumentscheidungen treffen. Das 2. Gossen'sche Gesetz besagt vor diesem Hintergrund, dass der Gesamtnutzen eines Haushaltes dann am höchsten ausfällt, wenn der Nutzen der zuletzt gekauften oder konsumierten Güter gleich groß ist. Zugespitzt könnte man sagen: Der Konsument ist im Optimum, wenn es ihm egal ist, ob seine letzten zwei Euro im Portemonnaie für Chips oder Bier draufgehen - weil ihm die letzte auf den Verzehr entfallene Sekunde bei beiden Produkten gleich viel Spaß macht.

Im schwer verständlichen O-Ton Gossens liest sich das dann so: "Der Mensch, dem die Wahl zwischen mehreren Genüssen frei steht, dessen Zeit aber nicht ausreicht, alle vollaus sich zu bereiten, muss... um die Summe seines Genusses zum Größten zu bringen, bevor er auch nur den größten sich vollaus bereitet, sie alle teilweise bereiten, und zwar in einem solchen Verhältnis, dass die Größe eines jeden Genusses in jedem Augenblick, in welchem seine Bereitung abgebrochen wird, bei allen noch die gleiche bleibt." Noch Fragen?

Vor dem Rausschmiss

Über das Leben Gossens ist nicht übermäßig viel bekannt. Die wenigen bekannten Fakten stammen von dem Mathematikprofessor Hermann Kortum, einem Neffen Gossens, den der Franzose Walras für einen geplanten wissenschaftlichen Aufsatz über Gossens Ideen kontaktierte. Unter der Überschrift "Un economiste inconnu" erschien der Beitrag 1885 im "Journal des Economistes".

Wer also war Gossen? Er wächst in Düren bei Köln auf, zieht dann 1824 mit den Eltern nach Muffendorf in der Nähe von Bonn. Er ist ein guter Schüler und überspringt eine Klasse. Auf Druck des Vaters studiert er nach dem Abitur ohne große Begeisterung Rechts- und Sozialwissenschaften an der Universität Bonn. 1831 zieht es ihn für kurze Zeit nach Berlin, doch als dort eine Cholera-Epidemie ausbricht, kehrt er flugs wieder zurück. Nach dem Studium geht er eher widerwillig in den Staatsdienst und beginnt 1834 als Referendar in Köln. Wie es scheint, macht er in der Domstadt allerdings eher durch Eskapaden als durch Fleiß und besondere Leistungen auf sich aufmerksam. Der Überlieferung nach steht Gossen mehrfach kurz vor dem Rausschmiss.

"Ein veritabler Misserfolg"

1847 kündigt er seine Stelle lieber gleich selbst. Der Tod des Vaters verschafft ihm eine erkleckliche Erbschaft und macht ihn finanziell unabhängig. Gossen gründet mit einem Partner eine Versicherungsgesellschaft in Köln. Er leitet diese kurze Zeit selbst, zieht sich aber schnell wieder aus dem Geschäft zurück. Stattdessen widmet er sich nun voll und ganz seinen ökonomischen Studien, während ihm seine Schwestern den Haushalt führen.

In vieler Hinsicht folgt Gossen den liberalen Ideen der Klassiker. Er lehnt staatliche Eingriffe und Protektionismus ab und vertraut auf die Selbstheilungskräfte des Marktes. Gossen sieht wie Adam Smith im Eigennutz eine produktive und für die Gesamtgesellschaft förderliche Triebfeder. In seiner Konsumtheorie finden sich erste Ansätze zur einer Allokationstheorie der Zeit, wie sie später unter anderem der amerikanische Nobelpreisträger Gary Becker entwickelte. An mangelndem Selbstbewusstsein scheint der Junggeselle nicht gelitten zu haben. Seine Ideen vergleicht er gern mit den kopernikanischen Himmelsgesetzen: "Was einem Kopernikus zur Erklärung der Zusammenhänge der Welten im Raum zu leisten gelang, das glaube ich für die Erklärung des Zusammenseins der Menschen auf der Erdoberfläche zu leisten."

Veritabler Misserfolg

Seine Mitmenschen sehen das freilich anders. Gossens Buch, für das er nur mit Mühe einen Verleger findet, wird "ein veritabler Misserfolg", schreibt Ökonom Kurz. "Nur wenige Exemplare werden verkauft, kaum eine Bibliothek erwirbt es, und über gut zwei Jahrzehnte hinweg nimmt die Fachwelt keine Notiz davon. Es ist, als wäre es nie geschrieben worden." Gossen ist darüber so erbost, dass er kurz vor seinem Tod dem Verlag Friedrich Vieweg & Sohn kurzerhand alle verbliebenen Exemplare abnimmt.

Der Nutzen dieser Aktion dürfte begrenzt gewesen sein.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%