Diesen Mann darf man getrost als B-Promi der Ökonomenzunft bezeichnen. Von Hermann Heinrich Gossen existiert kein einziges Bild. Er hat nur ein einziges Buch geschrieben, und das hat über Jahrzehnte hinweg niemand gelesen. In seiner Geburtsstadt Düren erinnert in der Steinstraße eine Gedenktafel an den Sohn der Stadt, aber ähnliche Ehre wird dort auch "Mundartdichtern" des 19. Jahrhunderts zuteil. In Köln, wo Gossen im Februar 1858 mit 47 Jahren an Tuberkulose starb, ist eine Straße nach ihm benannt - im unwirtlichen Gewerbegebiet Marsdorf. Man darf davon ausgehen, dass selbst VWL-Studenten, die sich hierher verirren, mit dem Namen nicht mehr viel anfangen können.
Wie aber kommt es dann, dass der renommierte Verein für Socialpolitik (VfS) auf seiner Jahrestagung vor einigen Wochen einen nach Gossen benannten Preis vergeben hat (an die junge Mannheimer Ökonomin Michèle Tertilt)? Was ist davon zu halten, dass der große französische Ökonom Léon Walras über den als faul, unstet und hedonistisch geltenden Gossen schrieb, dieser sei einer "der bemerkenswertesten Ökonomen, der je gelebt hat"? Oder dass der Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek zu einer Neuauflage von Gossens Werk im Jahr 1927 das respektvolle Vorwort verfasste?
Optimaler Konsumplan
Was den 1810 als Sohn eines Steuereintreibers geborenen Gossen posthum zu einer Größe der Wirtschaftsgeschichte werden lässt, sind seine Beiträge zur Konsum- und Grenznutzentheorie. Der Grazer Wirtschaftsprofessor Heinz D. Kurz bezeichnet den fast Vergessenen gar als "Gründungsvater der modernen Mikroökonomie".*
In seinem 1854 in Braunschweig veröffentlichen Erst- und Letztwerk mit dem sperrigen Namen "Entwickelung der Gesetze des menschlichen Verkehrs und der daraus fließenden Regeln für menschliches Handeln" setzt sich Gossen mit dem optimalen Konsumplan eines Haushalts auseinander. Er löst darin - mit einer für die damalige Zeit ungewöhnlich komplexen mathematischen Unterfütterung - das sogenannte Wertparadoxon der klassischen Ökonomie auf. Zugleich bereitet er den Boden für die spätere Grenznutzentheorie der neoklassischen Schule um Walras, Carl Menger und William Stanley Jevons.
Die klassischen Ökonomen hatten methodisch nicht erklären können, warum der objektive Wert eines Produktes von seinem Preis stark abweichen kann. Warum etwa sind überlebenswichtige Güter wie Wasser billig zu haben, während objektiv unwichtige Luxusprodukte wie Diamanten viel Geld kosten? Adam Smith (1723–1790), der Begründer der Nationalökonomie, unterschied zwar einen objektiven Tauschwert und einen Gebrauchswert. Doch warum diese auseinanderklaffen können, vermochte Smith nicht klar zu beantworten. Der Gebrauchswert von Wasser ist ungleich höher als der eines Diamanten - doch beim Tauschwert ist es umgekehrt.
*Heinz D. Kurz (Hrsg.): Klassiker des deutschen Denkens, Band 1, Verlag C.H. Beck
Wer war Gossen?
Gossen entwickelte eine subjektive Wertlehre, indem er den individuellen Nutzen des Konsums mit einbezog. "Gossen unterstellt, dass die verschiedenen Bedürfnisse unabhängig voneinander und addierbar seien", schreibt Ökonom Kurz. Nach dem 1. Gossen'schen Gesetz, auch Sättigungsgesetz genannt, nimmt der Nutzen, den ein Gut dem Konsumenten in einer bestimmten Zeit verschafft, mit jeder zusätzlich verbrauchten Einheit ab. Der Nutzen durch Konsum lässt sich also nicht linear steigern, da der Grad der Bedürfnisbefriedigung zunimmt. Der Preis eines Gutes folgt letztlich seinem Grenznutzen. Dieser sinkt, wenn ein Gut reichlich vorhanden ist, und steigt, wenn ein Produkt knapp und selten ist.
Chips oder Bier?
Da zudem jeder Mensch einer Zeitbeschränkung unterliegt, muss er zwischen Alternativen wählen und Konsumentscheidungen treffen. Das 2. Gossen'sche Gesetz besagt vor diesem Hintergrund, dass der Gesamtnutzen eines Haushaltes dann am höchsten ausfällt, wenn der Nutzen der zuletzt gekauften oder konsumierten Güter gleich groß ist. Zugespitzt könnte man sagen: Der Konsument ist im Optimum, wenn es ihm egal ist, ob seine letzten zwei Euro im Portemonnaie für Chips oder Bier draufgehen - weil ihm die letzte auf den Verzehr entfallene Sekunde bei beiden Produkten gleich viel Spaß macht.
Im schwer verständlichen O-Ton Gossens liest sich das dann so: "Der Mensch, dem die Wahl zwischen mehreren Genüssen frei steht, dessen Zeit aber nicht ausreicht, alle vollaus sich zu bereiten, muss... um die Summe seines Genusses zum Größten zu bringen, bevor er auch nur den größten sich vollaus bereitet, sie alle teilweise bereiten, und zwar in einem solchen Verhältnis, dass die Größe eines jeden Genusses in jedem Augenblick, in welchem seine Bereitung abgebrochen wird, bei allen noch die gleiche bleibt." Noch Fragen?
Vor dem Rausschmiss
Über das Leben Gossens ist nicht übermäßig viel bekannt. Die wenigen bekannten Fakten stammen von dem Mathematikprofessor Hermann Kortum, einem Neffen Gossens, den der Franzose Walras für einen geplanten wissenschaftlichen Aufsatz über Gossens Ideen kontaktierte. Unter der Überschrift "Un economiste inconnu" erschien der Beitrag 1885 im "Journal des Economistes".
Wer also war Gossen? Er wächst in Düren bei Köln auf, zieht dann 1824 mit den Eltern nach Muffendorf in der Nähe von Bonn. Er ist ein guter Schüler und überspringt eine Klasse. Auf Druck des Vaters studiert er nach dem Abitur ohne große Begeisterung Rechts- und Sozialwissenschaften an der Universität Bonn. 1831 zieht es ihn für kurze Zeit nach Berlin, doch als dort eine Cholera-Epidemie ausbricht, kehrt er flugs wieder zurück. Nach dem Studium geht er eher widerwillig in den Staatsdienst und beginnt 1834 als Referendar in Köln. Wie es scheint, macht er in der Domstadt allerdings eher durch Eskapaden als durch Fleiß und besondere Leistungen auf sich aufmerksam. Der Überlieferung nach steht Gossen mehrfach kurz vor dem Rausschmiss.
"Ein veritabler Misserfolg"
1847 kündigt er seine Stelle lieber gleich selbst. Der Tod des Vaters verschafft ihm eine erkleckliche Erbschaft und macht ihn finanziell unabhängig. Gossen gründet mit einem Partner eine Versicherungsgesellschaft in Köln. Er leitet diese kurze Zeit selbst, zieht sich aber schnell wieder aus dem Geschäft zurück. Stattdessen widmet er sich nun voll und ganz seinen ökonomischen Studien, während ihm seine Schwestern den Haushalt führen.
In vieler Hinsicht folgt Gossen den liberalen Ideen der Klassiker. Er lehnt staatliche Eingriffe und Protektionismus ab und vertraut auf die Selbstheilungskräfte des Marktes. Gossen sieht wie Adam Smith im Eigennutz eine produktive und für die Gesamtgesellschaft förderliche Triebfeder. In seiner Konsumtheorie finden sich erste Ansätze zur einer Allokationstheorie der Zeit, wie sie später unter anderem der amerikanische Nobelpreisträger Gary Becker entwickelte. An mangelndem Selbstbewusstsein scheint der Junggeselle nicht gelitten zu haben. Seine Ideen vergleicht er gern mit den kopernikanischen Himmelsgesetzen: "Was einem Kopernikus zur Erklärung der Zusammenhänge der Welten im Raum zu leisten gelang, das glaube ich für die Erklärung des Zusammenseins der Menschen auf der Erdoberfläche zu leisten."
Veritabler Misserfolg
Seine Mitmenschen sehen das freilich anders. Gossens Buch, für das er nur mit Mühe einen Verleger findet, wird "ein veritabler Misserfolg", schreibt Ökonom Kurz. "Nur wenige Exemplare werden verkauft, kaum eine Bibliothek erwirbt es, und über gut zwei Jahrzehnte hinweg nimmt die Fachwelt keine Notiz davon. Es ist, als wäre es nie geschrieben worden." Gossen ist darüber so erbost, dass er kurz vor seinem Tod dem Verlag Friedrich Vieweg & Sohn kurzerhand alle verbliebenen Exemplare abnimmt.
Der Nutzen dieser Aktion dürfte begrenzt gewesen sein.