Wildnis? Spätestens hier dürfte klar werden, dass sich die im 19. Jahrhundert konstruierten Ringe kaum eins zu eins auf die heutige Zeit übertragen lassen – zumal in Zeiten der Globalisierung. „Insgesamt sind die Ringe ein Was-wäre-wenn-Modell unter eng definierten Bedingungen – ändern sich die Bedingungen, ändern sich die Ergebnisse“, sagt Thünen-Experte Kurz. „Gleichwohl finden wir bisweilen in wenig entwickelten Volkswirtschaften und in einigen ländlichen Regionen Europas wie der Toskana eine Raumordnung vor, die den Thünenschen Ringen nahekommt.“ Die Frage nach räumlicher Spezialisierung – ob sich etwa Getreide am lukrativsten in Russland, Deutschland oder Frankreich anbauen lässt – sei „im Zeitalter der Globalisierung wichtiger denn je“.
Unbekannte Schriften in Vorbereitung
„Unter Geografen und Raumwirtschaftstheoretikern ist Thünen der Gründungs-Gott“, schrieb der US-Nobelpreisträger Paul A. Samuelson. Sein Kollege Paul Krugman, ebenfalls Nobelpreisträger, bezieht sich in seinem wirtschaftsgeografischen Lehrbuch „Development, Geography and Economic Theory“ mehrfach auf den Deutschen. Thünen gab zudem wichtige Impulse für die heutige Stadtökonomie, die das bauliche, soziale und wirtschaftliche Geschehen rund um die Zentren der Ballungsräume untersucht. Und offenbar schlummern weitere Erkenntnisse in den Archiven: Der Ausschuss für Theoriegeschichte des Vereins für Socialpolitik bereitet derzeit die Veröffentlichung bislang unbekannter Schriften Thünens zur Ressourcenökonomik vor.
Wenig bekannt ist zudem, dass sich Thünen auch als Sozialreformer sah. „Er war ein großer Humankapitaltheoretiker, der sich intensiv mit der sozialen Frage auseinandersetzte“, sagt Kurz. 1850 veröffentlichte Thünen die Schrift „Der naturgemäße Arbeitslohn und dessen Verhältnis zum Zinsfuß und zur Landrente“. Er führte ein für die damalige Zeit revolutionäres Gewinnbeteiligungsmodell für seine Arbeiter ein, er zahlte Leistungslöhne und baute zwei Wohnhäuser fürs Personal.
In seiner mecklenburgischen Heimat ist Thünen denn auch nicht vergessen: Auf dem Gutsgelände in Tellow ist heute ein Thünen-Museum untergebracht. Gleich daneben gibt es einen Thünen-Park und eine Thünen-Begegnungsstätte. Im historischen Gutshaus, wo der Agrarforscher im 19. Jahrhundert über seinen Berechnungen brütete, können sich Ruhesuchende nun Ferienwohnungen mieten.
Der Tourismus als zusätzliche Einnahmequelle – darauf ist Bauer Thünen zu seiner Zeit noch nicht gekommen.