Viele Journalisten im Festsaal des Pariser Élysée-Palastes denken, sie hören nicht recht. Vor ihnen steht der sozialistische Staatspräsident François Hollande und kündigt niedrigere Unternehmenssteuern, weniger Bürokratie und weniger Staat an. Nach rund zwei desaströsen Amtsjahren will der angeschlagene Präsident in der zweitgrößten Volkswirtschaft der Euro-Zone einen überfälligen marktwirtschaftlichen Kurswechsel einläuten. Und damit das auch jeder im Saal richtig versteht, fügt er seiner ökonomischen Ruck-Rede das liberale Credo schlechthin hinzu: „Jedes Angebot schafft sich seine Nachfrage.“
Diese von Hollande Mitte Januar genutzte Formulierung ist ziemlich alt. Sie ist als Say’sches Theorem in die Geschichte der Volkswirtschaftslehre eingegangen und bringt auf den Punkt, was einst ein anderer, durch und durch liberaler, Franzose niederschrieb. Jean Baptiste Say (1767–1832) hat mit seinem 1803 veröffentlichten Hauptwerk „Traité d’Économie Politique“ eines der Standardwerke angebotsorientierter Wirtschaftspolitik geschaffen. Er gilt damit als ein Vordenker der klassischen Theorie. Says Werk liest sich wie eine einzige Warnung vor falscher Steuerpolitik: Werden Unternehmen zu hoch besteuert, trifft sie das in ihrer Substanz. Bei niedrigen Steuern hingegen könnten Firmen billiger produzieren und setzten mehr Produkte ab.
Ein schlanker Staat mit möglichst niedrigen Steuern? Das muss auf Says Zeitgenossen Anfang des 19. Jahrhunderts radikal und realitätsfremd gewirkt haben. Bis dato stand die Wirtschaft unter dem Einfluss des Merkantilismus, einer von Interventionismus und hohen Staatsausgaben geprägten Wirtschaftsordnung. Doch Say war kein Theoretiker, der sich im Elfenbeinturm der Wissenschaft verirrt hatte. Er war Nationalökonom, Geschäftsmann – und überdies politisch engagiert. 1767 in der Nähe von Lyon geboren, arbeitet er zunächst als Lehrling im elterlichen Betrieb. Um seine Kaufmannslehre fortzuführen, wird er nach England geschickt, wo die industrielle Revolution gerade Fahrt aufnimmt. Say erkennt die Vorteile des internationalen Handels, er lernt die englische Sprache und Kultur schätzen. Zurück in Paris, fällt ihm das Werk „Wealth of Nations“ des großen Ökonomen Adam Smith in die Hände. Die Lektüre weckt sein Interesse an der Nationalökonomie.
Während der Französischen Revolution sympathisiert Say mit den Republikanern und wird Mitglied des Tribunats, eines Gremiums, das über Gesetzgebung und Verfassung wacht. Unter Napoleon stößt Says liberale Haltung allerdings auf Widerstand, denn seine Forderung nach freiem Handel und niedrigen Steuern widersprechen der Politik des Generals, der auf steigende Staatsausgaben und Konsumsteuern setzt. 1804, dem Jahr, in dem sich Napoleon zum Kaiser wählen lässt, verliert Say sein Amt als Tribun im Ausschuss für öffentliche Finanzen. Er wird Mitunternehmer einer Baumwollmanufaktur.
Doch das Geschäft leidet unter den Lasten der öffentlichen Abgaben. 1819 wird Say Professor und lehrt am Conservatoire des artes et métiers. Bis zu seinem Tod durch Schlaganfall 1832 bleibt er der Lehre treu.
Güterproduktion entscheidet
Wenn Wirtschaftswissenschaftler heute von Say sprechen, beziehen sie sich meist auf das Say’sche Theorem, auch „Gesetz der Absatzwege“ genannt. Danach ist in einer Volkswirtschaft die Summe der Einnahmen aus dem Verkauf von Gütern und Dienstleistungen identisch mit der Summe der Ausgaben, die zum Kauf dieser Güter und Leistungen benötigt wird. Das bedeutet, dass die Güterproduktion nötig ist, um die für Güterkäufe erforderlichen Mittel bereitzustellen. „Es ist die Produktion, welche die Nachfrage nach Produkten erzeugt“, schreibt Say. „Da die einzige Einsatzmöglichkeit für das Geld der Kauf anderer Produkte ist, öffnen die Umstände der Erschaffung eines Produktes einen Weg für andere Produkte.“
Das Angebot bestimmt also das reale Volkseinkommen. Geld ist in dieser Sichtweise nur ein Transaktionsmittel, ein Schleier. Die Anhänger der klassischen Denkschule sprechen deshalb von natürlichen Preisen, weil diese genau den Produktionsfaktoren Arbeit, Boden und Kapital entsprechen, die nötig sind, um das jeweilige Gut zu produzieren. Steigt der Preis, weist dies auf ein knappes Gut hin, umgekehrt sinkt der Preis bei Überproduktion. Ein Überangebot oder eine Übernachfrage nach Gütern ist in diesem Modell unmöglich. Gesamtwirtschaftliches Angebot und Nachfrage tendieren zu einem Gleichgewicht mit Vollbeschäftigung.
Say glaubt, dass das Geld auch dann der Nachfrage zur Verfügung steht, wenn die Menschen sparen. Denn die Banken geben dieses Geld als Kredite an die Unternehmen weiter. Diese wiederum investieren in neue Fabriken. So entsteht neues Einkommen für Arbeiter, die wiederum für steigenden Konsum sorgen. Gespartes fließt dem Wirtschaftskreislauf wieder zu, und das Volkseinkommen bleibt stabil.
Say glaubte so bewiesen zu haben, dass der freie Markt immer zum Gleichgewicht neigt – und zwar ohne staatliches Zutun. So überrascht es nicht, dass Say dem Staat im Wirtschaftsgeschehen nur eine Nebenrolle zugesteht. Wenn überhaupt, dann solle er tätig werden, um die Produktion zu stimulieren. Mindestlöhne etwa würden die Nachfrage nach Arbeitskräften einschränken, Preisvorgaben würden das natürliche Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage konterkarieren. Die perfekte Steuerpolitik lautet demnach: Steuern und Abgaben runter! Denn wer zu hoch besteuert, entzieht der Wirtschaft das Fundament, was die Steuereinnahmen insgesamt sinken lässt. Niedrige Steuern wiederum führen im Endeffekt sogar zu einem höheren Steueraufkommen. Mit dieser These legte Say den Grundstein für die von US-Ökonom Arthur Laffer in den Achtzigerjahren entwickelte „Laffer-Kurve“.
Umdenken nach dem Crash
Lange bezweifelte niemand die Say’sche Logik, warum auch. Die Maschinen brummten, täglich strömten die Arbeiter in die Fabrikhallen, die industrielle Revolution war in vollem Gange. Doch die Krisen nahmen zu. Spätestens mit der Weltwirtschaftskrise Anfang des 20. Jahrhunderts setzte ein radikales Umdenken in der Wirtschaftswissenschaft ein. Börsencrash, Massenarbeitslosigkeit, Hungersnöte – unter den Eindrücken der Great Depression formulierte Says größter Kritiker seinen Gegenentwurf: John Maynard Keynes. Plötzlich waren die Prämissen der Klassik und Neoklassik nicht mehr Standard. Keynes drehte den Spieß um. Für ihn ist die gesamtwirtschaftliche Nachfrage die entscheidende Größe für Produktion und Beschäftigung. Nachfrage und Angebot seien nicht immer so verknüpft, dass Vollbeschäftigung herrsche, weil der Konsum nie die gesamte Produktion absorbieren könne. Keynes bezweifelte, dass sich Ersparnisse per se in Kredite verwandeln. In Krisenzeiten neige die Industrie dazu, Arbeitsplätze abzubauen, anstatt zu investieren. Für Keynes muss in diesen Fällen der Staat einspringen.
Die angebotsorientierten Monetaristen und ihr wohl prominentester Vertreter Milton Friedman holten das Say’sche Theorem später allerdings wieder aus der Versenkung. Seither liefern sich die beiden Denkschulen einen Wettstreit um die beste Wirtschaftspolitik.
Streng formal betrachtet, gilt das Say’sche Theorem in modernen Volkswirtschaften nicht mehr. Schon Karl Marx hatte Say als Vertreter der „Vulgärökonomie“ gescholten. Wenn jedes Angebot von alleine den Absatz produzierter Ware sicherstellen würde, könnte es keine Konjunkturschwankungen und unfreiwillige Arbeitslosigkeit geben. In der Realität sind Konsum- und Sparneigungen der Menschen nicht so einfach gestrickt. Say ging in seinem Modell zudem von einer Vollauslastung der Kapazitäten aus.
Dennoch, Say wird auch heute noch als Argument gegen eine ausschließlich nachfrageorientierte Politik und gegen einen zu starken Staatssektor herangezogen. Die Schulbuch-VWL verschreibt sich heute weder dem einen noch dem anderen Extrem, sondern plädiert für einen Mittelweg zwischen Keynesianismus und Denkschulen, die auf die Klassik zurückgehen.
Dass sich nun ausgerechnet der staatsgläubige François Hollande auf Say bezieht, zeigt indes, welche Wirkung klassische Ökonomen auch heute noch auf politische Entscheidungsprozesse haben können. „Langfristig kann die französische Wirtschaft in der Tat von der Stärkung der Angebotsseite profitieren“, sagt Klaus Schmidt, Ökonomieprofessor an der Universität München.
Eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik müsse nun mal beide Seiten beachten – die Nachfrage, aber auch das Angebot.