Hans-Werner Sinn "Wir können den Sozialstaat nicht für die ganze Welt öffnen"

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"Der Euro ist ein historischer Fehler"

Bei den Debatten, die sie angestoßen haben, ging es nicht nur um die Wertschöpfungsverteilung zwischen In- und Ausland, sondern auch um Themen wie die Target-Salden im Euro-System und die Haftungsrisiken der Euro-Rettung. Welcher Vorstoß war am fruchtbarsten?

Ich habe 2003 ein Buch geschrieben mit dem Titel: „Ist Deutschland noch zu retten?“ Darin habe ich analysiert, wie Deutschlands Arbeitnehmer im Zeitalter der Globalisierung wegen Strukturdefiziten und hohen Arbeitskosten ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren drohen, wenn nicht gehandelt wird. Meine Vorstellungen zu einer stärkeren Lohnspreizung, einem Niedriglohnsektor und einem aktivierenden Sozialstaat, der mehr Geld fürs Mitmachen und weniger fürs Wegbleiben zahlt, sind in die Agenda 2010 von Kanzler Gerhard Schröder eingeflossen.

Bekommt die Frage „Ist Deutschland noch zu retten?“ bald wieder ungeahnte Aktualität? Manche sehen in uns mittelfristig den neuen kranken Mann Europas.

Manche der Probleme, die ich damals ansprach, sind noch nicht gelöst. Wir werden massive demografische Probleme bekommen, wenn die Babyboomer in Rente gehen. Bei der Exportwirtschaft müssen wir aufpassen. Im Moment wird vieles wegen des künstlich gesenkten Eurokurses übertüncht. Wenn die Schwellenländer anfangen, die Maschinen, die sie bislang bei uns gekauft haben, selbst herzustellen, wird es eng. Wir müssen uns auch fragen, ob es unsere Automobilwirtschaft nach dem VW-Debakel schaffen wird, die Investitionsmittel aufzubringen, die benötigt werden, um den Angriff der Google-Autos zu parieren. Zum dritten gibt es auch politische Fehler, die den Standort schwächen.

Zum Beispiel?

Die Arbeitsmarktreformen der Regierung unter Gerhard Schröder werden sukzessive zurückgedreht. Wir machen eine Energiewende, die über eine Billion Euro kostet. Wir machen eine Euro-Rettungspolitik, die uns hunderte von Milliarden Euro an Haftungsrisiken beschert. Wir machen eine Flüchtlingspolitik, deren Kosten nach seriösen Schätzungen in ähnlicher Größenordnung liegen. Weil die Konjunktur läuft, haben viele das Gefühl, die Wirtschaft sei unverletzlich. Wenn sie sich da nicht mal täuschen.

Was bedeutet es für Europa, wenn das Zugpferd Deutschland selbst in die Krise rutscht?

Dann würde die Attraktivität des europäischen Modells für einige Länder schwinden. Machen wir uns nichts vor: Warum wollten die Südländer in den Euro? Weil sie wegen ihrer hohen Schulden niedrigere Zinsen brauchten. Die haben sie bekommen, doch statt nun ihre Schulden zu tilgen, liehen sie sich noch mehr Geld und bliesen ihre Löhne auf, bis die Wettbewerbsfähigkeit des Verarbeitenden Gewerbes kaputt war. Jetzt sind die Staaten zu kreditsüchtigen Junkies geworden. Solange Deutschland durch seine Garantien die Zinsen niedrig hält, funktioniert das System. Wenn Deutschland das nicht mehr kann, wird es schwierig im Euroraum.

Ökonomen zu den Staatsanleihenkäufen der EZB

Sie haben sich in der Euro-Krise immer wieder kritisch zu Wort gemeldet, den Euro aber nie grundsätzlich in Frage gestellt. Warum nicht?

Aus politischen Gründen. Es wäre zu schwierig, den Euro wieder durch nationale Währungen zu ersetzen. Ich sage aber ganz klar: Der Euro ist ein historischer Fehler. Wir hätten ihn niemals einführen dürfen. Aber wie in einer Ehekrise sollte man nicht gleich an Scheidung denken, sondern erst mal zur Paartherapie übergehen.

Das heißt: Sie glauben an das langfristige Überleben der Währungsunion?

Das ist das wahrscheinlichste Szenario. Der Euro wird überleben – vermutlich allerdings im Rahmen einer unheilvollen Transferunion und gepaart mit wirtschaftlicher Stagnation. Die Europäische Zentralbank (EZB) und die Euro-Rettungsschirme üben mit ihren Schutzversprechen eine starke Lenkungswirkung auf den Kapitalmarkt aus. Sie locken Kapital in unproduktive Verwendungen. Statt unsere Ersparnisse in Deutschland zu investieren, landen sie letztlich in Staatspapieren südlicher Länder und in nicht immer soliden Immobilienfinanzierungen. Diese staatliche Verzerrung des Kapitalmarkts bewirkt mittelfristig gravierende Wohlfahrts- und Wachstumsverluste.

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