Die Sowjetunion hätte Amerika 1980 aus ökonomischer Sicht hinter sich lassen müssen. Das sagte zumindest der amerikanische Ökonom und spätere Träger des Wirtschaftsnobelpreises Paul Samuelson in den Sechzigern voraus. Heute sind wir schlauer als Samuelsons damals – zumindest was den Status der Sowjetunion 1980 angeht. Von der amerikanischen Wirtschaftsleistung war sie weit entfernt. Samuelsons Vorhersage zeigt, dass selbst die größten Ökonomen Schwierigkeiten haben, die wirtschaftliche Zukunft von Volkswirtschaften vorherzusagen.
Larry Summers, der frühere US-Finanzminister und Wirtschaftswissenschaftler in Harvard, hat gemeinsam mit seinem Kollegen Lant Pritchett in einer Studie gezeigt, dass solche Vorhersagen stets sehr ungenau sind. Genau deswegen seien auch die Erwartungen der meisten Ökonomen an das chinesische Wachstum zu optimistisch.
Bis 2060 soll Chinas Wirtschaft im Schnitt um 6,6 Prozent wachsen, heißt es in einer OECD-Studie; die U.S. Intelligency Community geht davon aus, das Chinas Anteil an der Weltwirtschaft von 6,4 Prozent im Jahr 2011 auf bis zu 23 Prozent bis 2030 anwächst. Politik und Wirtschaft hierzulande wollen davon profitieren.
Der Handelspartner der Zukunft
China ist schon jetzt der fünftgrößte Abnehmer deutscher Exporte . 67 Milliarden Euro betrug der Wert der Waren, die im vergangenen Jahr nach China verfrachtet wurden. Deutsche Maschinen- und Anlagenbauer fahren dank ihrer Abnehmer im Reich der Mitte Rekordgewinne ein; deutsche Autobauer bauen für mehrere Milliarden Euro Fabriken dort; deutsche Politiker drücken – bemüht um gute Beziehungen – gerne ein Auge zu bei Menschenrechtsverletzungen und der Verfolgung von ethnischen Minderheiten und kritischen Journalisten. Denn: China ist die Zukunft.
Immerhin ist das chinesische BIP allein von 2002 bis 2012 um 170 Prozent gewachsen, wie Wirtschaftsblogger zeigen. Zum Vergleich: Das deutsche BIP legte im selben Zeitraum um lachhafte 12,6 Prozent zu. Aber kann man aus der vergangenen Performance einer Volkswirtschaft wirklich auf ihre Zukunft schließen?
Summers und Pritchett sehen das kritisch. Sie schreiben der Vergangenheit nur eine bedingte Aussagekraft zu. Und sie haben Gründe.
Drei Gründe, warum Chinas weiteres Wachstum schwer vorherzusagen ist
Das brasilianische BIP legte von 1967 bis 1980 jährlich um rund fünf Prozent zu. Oder Japan: In den späten Achtzigern war sich die ganze Welt sicher: Die japanische Industrie-Politik, Unternehmen, die fusionierten und die hohen Investitionen dort seien der Schlüssel zu dem rapiden Wachstum der Japaner damals. Und in der Tat: von 1961 bis 1991 verdoppelte sich die Arbeitsproduktivität der Japaner.
Staaten wie Brasilien oder Japan vollzogen damals, was Summers und Pritched „Episoden des super-schnellen Wachstums“ nennen – ihr BIP legte acht Jahre um mehr als sechs Prozent pro Jahr zu. Nur bei wenigen Staaten reichte es für ein neuntes Jahr. Auf das Superwachstum folgte meist eine Phase der Rezession.
Regionen, die China Probleme machen könnten
Die Regierung in Taiwan beobachtet die Proteste in Hongkong sehr genau: Taiwans Präsident sagte in einem Interview mit Al Dschasira, dass er hoffe, dass China und Hongkong zu einer akzeptablen demokratischen Lösung finden werden. Seit 1949 hat sich in der Republik China eine Demokratie entwickelt; Peking betrachtet Taiwan bis heute als "untrennbaren Bestandteil" des eigenen Territoriums.
Die Sonderverwaltungszone Hongkong gehört seit 1997 zu China. Bereits 2003 kam es zu Protesten, als Peking ein Gesetz einführen wollte, dass die Pressefreiheit abschaffen sollte und freie Religionsgruppen verboten hätte. Die Proteste nun treten für mehr Demokratie in Hongkong ein.
Auch Macau ist eine Sonderverwaltungszone, in der es momentan allerdings noch relativ ruhig zu sein scheint. 2007 gab es da den letzten großen Aufstand. Damals gingen 2400 Arbeiter auf die Straße, die sich gegen Korruption einsetzen wollten.
Seit Jahren schon dauern die Auseinandersetzungen zwischen Bürgern und der Polizei in der Region Xinjiang schon an. Das Problem: Die Uiguren wehren sich gegen die Repressionen der chinesischen Regierung, die sie aufgrund ihrer Religion und ihrer Sprache diskriminieren.
In Brasilien waren es 22 Jahre ohne Wirtschaftswachstum. In Japan ging die Arbeitsproduktivität von 1991 bis 2001 um sechs Prozent zurück, das Land geriet in eine Deflation und die Meinung der Welt über die japanische Industriepolitik schlug in ihr Gegenteil um: Plötzlich war sie nicht mehr der Treiber des Wachstums, sondern der Verursacher einer Wirtschaftskrise. Auch in Singapur, Taiwan, Chile, Irland und Griechenland folgte auf das Superwachstum der Crash.
Ausnahmen gab es von dieser Regel nur zwei: Südkorea und China. Seit 32 Jahren wächst die chinesische Wirtschaft ungebrochen und immer noch beeindruckend schnell. Das sei die längste Episode des Superwachstums in der Geschichte der Menschheit, schreiben Summers und Pritchett.
Wachstumsprozesse sind nicht monokausal erklärbar
Ob das ungebrochen so weiter geht – das sei aus drei Gründen schwierig einzuschätzen.
Erstens: Politische Umbrüche und ihre Wirkungen seien nur schwer vorherzusagen. Spätestens die Regenschirm-Protestbewegung in Hong Kong und der Reformkurs des chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping könnten zumindest einen demokratischen Umbruch andeuten. Ob sich dieser wirklich vollzieht und welche Auswirkungen das hätte – ebenfalls schwierig vorherzusagen. Einige Volkswirtschaften, die den Sprung von der Autokratie zur Demokratie wagten - wie etwa Griechenland, Indonesien oder Brasilien, mussten in den folgenden Jahren hohe Wachstumseinbußen hinnehmen. Ob das auch für China gelten würde - offen.
Zweitens: Die gesamte wirtschaftliche Entwicklung dieser Welt sei immer noch überschattet von der Finanzkrise. Kein Politiker und kein Ökonom hätte die Intensivität und die lange Dauer dieser Krise vorhergesehen – wie schwer sie weiter wiege sei ebenfalls schwierig abzuschätzen.
Drittens: Die Prozesse, die zu super-schnellem Wachstum führten seien komplex und nicht monokausal erklärbar – im nachhinein führten Ökonomen Gründe an, die den Eindruck erweckten, sie verstünden diese Prozesse. Tatsächlich sei das nicht der Fall.
Zudem würden autokratische Systeme ohnehin zu sehr hohen Wachstumsraten neigen – aber eben auch genau so zu weitaus stärkeren Abschwüngen, während reiche Staaten wie Dänemark über sehr lange Perioden moderat wachsen – mit nur kleinen Abweichungen.
Sollte in China irgendwann das Wachstum ausbleiben, so würden die Ökonomen wohl eine politische Fehlentscheidung als Ursache ansehen – das sei aber nicht richtig. Regression sei im Durchschnitt eines Jahrzehnt die Regel – und nicht die Ausnahme. Deswegen seien durchaus Zweifel angebracht an den astronomischen Wachstumsraten, die andere Ökonomen China zuschrieben.