Kapitalismus "Der Kapitalismus droht unterzugehen"

VWL-Professor Giacomo Corneo ist unzufrieden, wie sich die Marktwirtschaft entwickelt hat. Ohne Reformen hat unser Wirtschaftsmodell keine Zukunft, warnt Corneo, der sich nach Alternativen zum Kapitalismus umgeschaut hat.

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Giacomo Corneo Quelle: Sarah Miehle, Wirtschaftswissenschaftliche Bibliothek, Freie Universität Berlin

WirtschaftsWoche Online: Herr Corneo, wir fliegen in den Urlaub, surfen im Internet und essen Erdbeeren im Winter: Sind Kapitalismus-Kritiker weinerlich?

Giacomo Corneo: Dem Großteil der Menschen in Deutschland und in den anderen Industrieländern geht es gut. Kritik ist immer relativ. Menschen in China, Peru oder Tansania werden sich mit der Hand vor dem Kopf schlagen, wenn sie unsere Debatte hören. Aber Fakt ist auch: Der Wohlfahrtstaat ist auf dem Rückzug – und das darf man auch kritisieren.

Werden Sie jetzt etwa auch zum Kapitalismuskritiker?

Ich bin auf jeden Fall vergleichsweise aufgeschlossen für einige Punkte, die Kapitalismuskritiker vorbringen. Bei aller berechtigten Kritik müssen diese Leute dann auch konkrete Alternativvorschläge machen. Das erlebe ich leider zu selten. Deswegen habe ich das Buch „Bessere Welt“ geschrieben und geschaut, ob es Alternativen zu unserem System gibt.

In dem Buch

Gleich zu Beginn stimmen Sie in den Chor der Kritiker ein und bemängeln, der Kapitalismus sei ineffizient und ungerecht.

Das kann ich auch gut begründen. Aus ökonomischer Sicht ist die Ineffizienz eindeutig. Es gibt viele Fälle, wo wir Ressourcen verschwenden. Schauen Sie auf die hohe Arbeitslosigkeit in Südeuropa. Das Potenzial von Millionen von Menschen bleibt ungenutzt. Oder schauen Sie in die USA: durch eine lasche Kreditvergabe wurde ein Immobilienboom geschaffen. Nun stehen landauf landab Häuser frei und verrotten. Die Materialen könnten wir an anderer Stelle gut gebrauchen.

Und auch beim Thema Gerechtigkeit sind die Defizite offenkundig. Die Wohlstandsunterschiede zwischen den Industrie- und den Entwicklungsländern sind riesig und können schwerlich gerechtfertigt werden. Selbst in sozialmarktwirtschaftlichen Ländern wie Deutschland oder Schweden geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander. All das sind Dinge, die man kritisieren darf und muss.

Zur Person

Und in der Folge haben Sie sich nach Alternativen umgeschaut – sind aber nicht fündig geworden.

Ich habe mir verschiedene Systeme angeschaut. Zuerst den Wächterstaat, indem eine Elite ohne wirtschaftliches Interesse die Geschicke leitet. Das Problem: Machtmissbrauch und diktatorische Züge. Ich habe Utopia und die Gütergemeinschaft unter die Lupe genommen, eine basisdemokratische Gesellschaft, in der es keine Arbeitslosigkeit und gleichmäßig verteilten Wohlstand gibt. Leider ist das System nicht geeignet, die Menschen zu produktiver Arbeit und moderatem Konsum zu animieren. Auch die Planwirtschaft bietet keine zufriedenstellende Alternative. Sie vermag keine Innovationen anzutreiben und öffnet Missbrauch Tür und Tor. Nein, ich bin überzeugt: Ohne den Markt geht es nicht.

"Freunde des Grundeinkommens sind auf dem Holzweg"

Die Geschichte der freien Marktwirtschaft
Metamorphose IIn der Frühphase des Kapitalismus werden aus Landarbeitern Handwerker: Webstuhl im 19. Jahrhundert in England. Quelle: imago / united archives international
Metamorphose IIMit der Industrialisierung werden aus Handwerkern Arbeiter: Produktion bei Krupp in Essen, 1914. Quelle: dpa
Metamorphose IIIIm Wissenskapitalismus werden Arbeiter zu Angestellten und Proletarier zu Konsumenten: Produktion von Solarzellen in Sachsen. Quelle: dpa
Ort der VerteilungsgerechtigkeitDen reibungslosen Tausch und die Abwesenheit von Betrug – das alles musste der Staat am Markt anfangs durchsetzen. Quelle: Gemeinfrei
Ort der KapitalkonzentrationDer Börsenticker rattert, die Märkte schnurren, solange der Staat ein wachsames Auge auf sie wirft Quelle: Library of Congress/ Thomas J. O'Halloran
Ort der WachstumsillusionWenn Staaten Banken kapitalisieren, sind das Banken, die Staaten kapitalisieren, um Banken zu kapitalisieren... Quelle: AP
Karl MarxFür ihn war der Unternehmer ein roher Kapitalist, ein Ausbeuter, der Arbeiter ihrer Freiheit beraubt. Quelle: dpa

Wieso ist dieser Ort, an dem Angebot und Nachfrage aufeinandertreffen, so wichtig?

Der Markt ist unentbehrlich in einer komplexen Volkswirtschaft, um zu verstehen, was die Menschen wollen und wie die Ressourcen einzusetzen sind, um die Bedürfnisse zu bedienen. Wir kennen kein anderes Verfahren, das in der Lage ist, dieses komplexe Problem zu lösen. Wenn wir den Wohlstand halten wollen, brauchen wir den Markt.

Kapitalismuskritiker würden Ihnen an dieser Stelle Verrat vorwerfen und argumentieren, der Markt verdirbt den Menschen.

Wir sollten ein realistisches Menschenbild haben. Ich glaube, jeder Bürger empfindet ein wenig Nächstenliebe, aber ein Jeder ist sich selbst der Nächste. Ich kenne die romantischen Sozialkritiker und ihre Vorstellung: Der Mensch ist per se gut und wird vom Kapitalismus verdorben. Man braucht also nur die Märkte abschaffen und alles wird gut. Nein, das führt zu einer Katastrophe. Wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass Geld-Anreize in unserer Gesellschaft eine wichtige Rolle spielen. Sie sorgen für Antrieb und Motivation. Klar ist aber auch: Zwang- und hemmungslose Märkte führen nicht zu einem perfekten Leben. Ohne Kontrolle und Regeln kann der Markt nicht funktionieren.

Das sind die wettbewerbsfähigsten Länder der Welt

Was, wenn wir den Markt beibehalten, aber das politisch-gesellschaftliche Umfeld ändern. Eine linke Idee, die immer Applaus findet: Lasst uns ein bedingungsloses Grundeinkommen einführen. Das wäre angeblich das Ende der Armut, das Ende der Unterdrückung der Arbeiter – und das alles bei Beibehaltung der Demokratie und des Marktes.

Netter Versuch. Aber ich glaube, dass die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens keine gute Idee ist. Das müssten eigentlich auch Kapitalismuskritiker so langsam einsehen. Erstens ist das System so teuer, dass es nicht reicht, nur die Steuern zu erhöhen. Wesentliche Teile des Sozialstaates müssen gleichzeitig aufgegeben werden, etwa die Krankenversicherung und die staatliche Rente. Dadurch würden die Menschen noch mehr auf Geld fixiert sein, schließlich müssten sie sich privat um ihre Altersvorsorge kümmern. Und: Es gäbe eine Entsolidarisierung der Rentnern von den Arbeitnehmern, da die Erstgenannten massive Einbußen hinnehmen müssten (ihre Rente dürfte in aller Regel höher sein als das Grundeinkommen) und von geringen Lohnentwicklungen der Arbeitnehmer profitieren werden, da dann die Kapitalerträge steigen. Die Freunde des Bürgergelds sind hier auf einem Holzweg.

Zumal die Frage bleibt, wer noch arbeitet, wenn es kaum finanzielle Anreize gibt?

Das ist schwer einzuschätzen, schließlich gibt es noch kein Land, das dieses Experiment gewagt hat. Ich würde behaupten: Es gibt Menschen, die Spaß an der Arbeit, die auch ein derart hohes Pflichtbewusstsein haben, dass sie weiter ihre 40 Stunden in der Woche opfern würden. Aber sicherlich gäbe es deutlich mehr Menschen – insbesondere diejenigen, die körperlich anstrengende Arbeiten nachgehen –,  die aussteigen würden. Das würde zu einer Polarisierung der Gesellschaft führen. Das ist bedrohlich.

"Der Kapitalismus verliert an Rückhalt"

Die größten Ökonomen
Adam Smith, Karl Marx, John Maynard Keynes und Milton Friedman: Die größten Wirtschafts-Denker der Neuzeit im Überblick.
Gustav Stolper war Gründer und Herausgeber der Zeitschrift "Der deutsche Volkswirt", dem publizistischen Vorläufer der WirtschaftsWoche. Er schrieb gege die große Depression, kurzsichtige Wirtschaftspolitik, den Versailler Vertrag, gegen die Unheil bringende Sparpolitik des Reichskanzlers Brüning und die Inflationspolitik des John Maynard Keynes, vor allem aber gegen die Nationalsozialisten. Quelle: Bundesarchiv, Bild 146-2006-0113 / CC-BY-SA
Der österreichische Ökonom Ludwig von Mises hat in seinen Arbeiten zur Geld- und Konjunkturtheorie bereits in den Zwanzigerjahren gezeigt, wie eine übermäßige Geld- und Kreditexpansion eine mit Fehlinvestitionen verbundene Blase auslöst, deren Platzen in einen Teufelskreislauf führt. Mises wies nach, dass Änderungen des Geldumlaufs nicht nur – wie die Klassiker behaupteten – die Preise, sondern auch die Umlaufgeschwindigkeit sowie das reale Produktionsvolumen beeinflussen. Zudem reagieren die Preise nicht synchron, sondern in unterschiedlichem Tempo und Ausmaß auf Änderungen der Geldmenge. Das verschiebt die Preisrelationen, beeinträchtigt die Signalfunktion der Preise und führt zu Fehlallokationen. Quelle: Mises Institute, Auburn, Alabama, USA
Gary Becker hat die mikroökonomische Theorie revolutioniert, indem er ihre Grenzen niederriss. In seinen Arbeiten schafft er einen unkonventionellen Brückenschlag zwischen Ökonomie, Psychologie und Soziologie und gilt als einer der wichtigsten Vertreter der „Rational-Choice-Theorie“. Entgegen dem aktuellen volkswirtschaftlichen Mainstream, der den Homo oeconomicus für tot erklärt, glaubt Becker unverdrossen an die Rationalität des Menschen. Seine Grundthese gleicht der von Adam Smith, dem Urvater der Nationalökonomie: Jeder Mensch strebt danach, seinen individuellen Nutzen zu maximieren. Dazu wägt er – oft unbewusst – in jeder Lebens- und Entscheidungssituation ab, welche Alternativen es gibt und welche Nutzen und Kosten diese verursachen. Für Becker gilt dies nicht nur bei wirtschaftlichen Fragen wie einem Jobwechsel oder Hauskauf, sondern gerade auch im zwischenmenschlichen Bereich – Heirat, Scheidung, Ausbildung, Kinderzahl – sowie bei sozialen und gesellschaftlichen Phänomenen wie Diskriminierung, Drogensucht oder Kriminalität. Quelle: dpa
Jeder Student der Volkswirtschaft kommt an Robert Mundell nicht vorbei: Der 79-jährige gehört zu den bedeutendsten Makroökonomen des vergangenen Jahrhunderts. Der Kanadier entwickelte zahlreiche Standardmodelle – unter anderem die Theorie der optimalen Währungsräume -, entwarf für die USA das Wirtschaftsmodell der Reaganomics und gilt als Vordenker der europäischen Währungsunion. 1999 bekam für seine Grundlagenforschung zu Wechselkurssystemen den Nobelpreis. Der exzentrische Ökonom lebt heute in einem abgelegenen Schloss in Italien. Quelle: dpa
Der Ökonom, Historiker und Soziologe Werner Sombart (1863-1941) stand in der Tradition der Historischen Schule (Gustav Schmoller, Karl Bücher) und stellte geschichtliche Erfahrungen, kollektive Bewusstheiten und institutionelle Konstellationen, die den Handlungsspielraum des Menschen bedingen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. In seinen Schriften versuchte er zu erklären, wie das kapitalistische System  entstanden ist. Mit seinen Gedanken eckte er durchaus an: Seine Verehrung und gleichzeitige Verachtung für Marx, seine widersprüchliche Haltung zum Judentum. Eine seiner großen Stärken war seine erzählerische Kraft. Quelle: dpa
Amartya Sen Quelle: dpa

Also bleibt der Wunsch nach einer besseren, gerechteren Welt ein Traum?

Nicht unbedingt. Ich plädiere dafür, dass bisherige System zu reformieren. So ist sicherlich sinnvoll, die Selbstverwaltung größer zu schreiben. Also der Menge, in dem Fall: der Belegschaft eines Unternehmens, mehr Entscheidungsgewalt zu geben. Das erhöht die Motivation und die Effizienz. Der Arbeitgeber profitiert also auch davon. Wichtig aber: Zu viel Macht für die Mitarbeiter führt zu einem unsteuerbarem Konstrukt, das langsam und wenig flexibel auf nötige Veränderungen reagiert. Es geht darum, den richtigen Mittelweg zu finden.

Ein Problem, das damit nicht gelöst ist und an dem viele Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme gescheitert sind: Wie bekommen wir es hin, dass Politiker dem Gemeinwohl dienen?

Grundsätzlich haben wir in Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges viele gute Politiker gehabt. Menschen, die geprägt waren von dem Leid der Bevölkerung seit 1929  und deswegen Werte wie Ehrlichkeit und Pflichtbewusstsein verinnerlicht hatten. Seit einigen Jahren stelle ich einen Generationenwechsel und einen Mentalitätswandel fest: Politiker nehmen am Wertewandel der Gesellschaft teil und sind im Schnitt weniger zuverlässig. Wir könnten also die Regeln für Politiker verschärfen, also längere Karenzzeiten nach dem Ende der Politkarriere einführen, um die Neutralität zu wahren. Und wir könnten als Bürger weniger delegieren und mehr durch basisdemokratische Institutionen selbst in die Hand nehmen.

So lange arbeiten wir nur für den Staat

Halten Sie die Bürger für gebildet und verantwortungsvoll genug, um über die Art des Wirtschaftens zu bestimmen?

Ja. Die Menschen sind besser gebildet, als je zuvor. Und wir haben auch viel bessere Informationstechnologien. Entscheidungen können transparenter werden und durch das Internet steht allen Menschen potentiell viel Wissen zur Verfügung. Wählen wir diesen Weg der Offenheit, werden die Bürger mündiger und sind enger dran an der politischen Diskussion.

Bitte wagen Sie abschließend einen Blick in die Zukunft: Glauben Sie, dass die Unzufriedenheit mit dem Kapitalismus weiter steigern wird – und überlebt dieses Wirtschaftssystem die nächsten Jahrzehnte?

Ohne Veränderungen, politischer wie ökonomischer Natur, wird das System an Stabilität verlieren. Der Kapitalismus droht erst an Rückhalt zu verlieren – und dann unterzugehen. Fakt ist derzeit nur: Die Ungleichheit und der Unmut nehmen zu. Die USA sind seit jeher für Europa ein gutes Beispiel, um zu schauen, was auf uns zukommt. Und in den Vereinigten Staaten ist die Schere zwischen Arm und Reich inzwischen so groß geworden, wie wir es bisher nur aus Ländern in Lateinamerika kannten. Diese Gesellschaften waren über die Jahre extrem instabil und gekennzeichnet durch Putsche, wackelige Demokratien und dem Aufstieg von Populisten. Reformen sind also – bei all den Vorteilen des Kapitalismus, die wir besprochen haben – unumgänglich. Wir brauchen mehr Demokratie und wir müssen die Soziale Marktwirtschaft wiederbeleben. Die Arbeiter brauchen mehr Rückhalt, wir brauchen eine minimale Spitzenbesteuerung und einen wirksamen Kampf gegen Steueroasen. Dann lassen sich auch soziale Wohltaten finanzieren.

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