Kapitalismuskritik

Die leidige Debatte um das Piketty-Buch

Liegt der französische Ökonom Thomas Piketty mit seiner These zur Ungleichheit richtig oder falsch oder sogar absichtlich falsch? Diese absurde Debatte zeigt vor allem eines: Die Volkswirtschaftslehre will nicht aus ihren Fehlern lernen.

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Thomas Pikettys Buch wirft die Frage auf, ob Kapitalismus und Demokratie gemeinsam funktionieren können. Quelle: dpa, Montage

Wer hätte gedacht, dass ich mich einmal als Verteidiger von Thomas Piketty berufen fühlen würde. Schließlich habe ich den jüngsten Leitstern am Ökonomen-Himmel vor einigen Wochen an dieser Stelle ausführlich kritisiert, meine Vorbehalte im Heft präzisiert und im Interview mit dem Frankfurt Sozialphilosophen Axel Honneth die aus meiner Sicht entscheidenden Fragen zu beantworten versucht, die Piketty gar nicht erst aufgeworfen hat. Was meine Zweifel an der Leistung von Piketty anbelangt, genauer; meine Zweifel an der Singularität der Leistung, die ihm von Vertretern der Zunft und zahlreichen Rezensenten vor allem in den USA zugeschrieben wird ("epochal", "Wirtschaftsbuch des Jahrzehnts" etc.), so habe ich nichts zurückzunehmen. Wohl aber habe ich etwas gegen die Kritik einzuwenden, die Piketty jetzt allerorten entgegen schlägt.

Sie basiert paradoxerweise auf der gleichen Annahme, der auch Piketty irrtümlich erliegt, auf der Annahme nämlich, dass es so etwas wie "ökonomische Gesetze" überhaupt geben könne, "Formeln", mit denen die Welt auf einen Nenner zu bringen sei. Tatsächlich treten die Wirtschaftswissenschaften in der Piketty-Debatte den erneuten Beweis dafür an, dass sie in einer Branche, in der es nichts zu "beweisen" gibt, noch immer mit lauter "Beweisen" handeln - also mit nichts. Die Ökonomen sind, gewissermaßen als letzte Vertreter des 19. Jahrhunderts, noch immer wie gläubige Szientisten unterwegs, um eine Menschenwelt wahlweise physikalisch-deterministisch (das Rationalitätsmonster-Ich der klassischen Theorie) oder psychologisch-deterministisch (das Reizreaktionsmaschinen-Ich der Behaviouristen) zu erklären - anstatt sie endlich besser verstehen zu wollen als sozialen, historisch gewachsenen Ort der sozialen Freiheit und Offenheit.

Lehrstück akademischer Eitelkeit

Worum geht es? Nun, letzten Endes ist die Piketty-Debatte ein Lehrstück in Sachen akademische Eitelkeit und Intellektuellen-Lobbyismus, eine herausragendes Beispiel für die grobe Verletzung der wissenschaftlichen Wertfreiheit und die Hybris der ökonomischen Zunft. Die wichtigsten Stationen der Debatte in Kürze:

1. Thomas Piketty schreibt ein Buch. Er bündelt darin die Früchte seiner jahrzehntelangen Forschungen über die Ungleichheit. Piketty hat, unterstützt von Kollegen wie Anthony Atkinson (Oxford) und Emmanuel Saez (Berkeley), seit mehr als zehn Jahren historische Steuerlisten ausgewertet, füttert seinen Rechner mit Wirtschaftsdaten aus 20 Ländern. Sein akademischer Ruf ist tadellos. Dass wir seit einigen Jahren nicht mehr über die Vermögensentwicklung des reichsten Zehntels oder Hundertstels in unseren Gesellschaften spekulieren müssen, sondern auf der Basis von immer genaueren Zahlen vorurteilsfrei über Kapitalkonzentration zu urteilen vermögen, ist nicht zuletzt Piketty zu verdanken.

2. Thomas Piketty will sein Buch gut verkaufen. Es ist ihm offenbar daran gelegen, sich zum "öffentlichen Intellektuellen" zu graduieren. Er will in einer Liga mit Joseph Schumpeter, Fernand Braudel oder Michel Foucault spielen. An Selbstsicherheit mangelt es ihm nicht. Am Willen zur Zuspitzung erst recht nicht. Piketty nennt sein Buch mit deutlichem Blick auf den Klassiker von Karl Marx "Le capital au XXIe siècle"- "Das Kapital im 21. Jahrhundert". Und nicht nur das. Angeblich hat Piketty darin auch die Weltformel des Kapitalismus entdeckt: "r > g" lautet sie, return on capital ist größer als economic growth, die Rendite aus Vermögen übertrifft das Wirtschaftswachstum. Piketty spart nicht mit Brusttönen. Sein Gesetz der zunehmenden Ungleichheit gelte "für die gesamte Menschheitsgeschichte", tönt er. Was Literaten wie Balzac und Jane Austen nur ahnungsvoll in Dichtung gefasst und Ökonomen von David Ricardo bis Simon Kuznets aufgrund von Datenmangel allenfalls gemutmaßt hätten, habe er, Thomas Piketty, auf eine belastbare Formel gebracht.    

3. In Frankreich hat das Buch ordentlich Erfolg, wird aber durchaus nicht als Sensation gefeiert. In Amerika hingegen avanciert das Werk - Monate später - zum Ereignis. Das hat vor allem zwei Gründe. Beide haben wenig mit Piketty und seinem Buch zu tun, viel mit akademischer Selbstschmeichelei und politischer Rechthaberei. Grund eins: Piketty wird von der linksliberalen "Ich-hab's-doch-schon-immer-gesagt"-Intellektualität (Paul Krugman, Joseph Stiglitz, Robert Solow) wie ein Heilsbringer gefeiert. Seine Formel passt ins meinungskonjunkturelle Klima und das Zeug hat zur politischen Kraftentfaltung: Piketty soll helfen, das neoliberale Mentalitätsregime - Deregulierung, Niedrigsteuern für Wohlhabende, trickle-down-economy - endgültig zu beerdigen, mindestens aber den von Milton Friedman und Ronald Reagan geprägten Volksglauben erschüttern, Kapitalismus, Marktfreiheit und Demokratie verhielten sich komplementär zueinander. Lautet Pikettys These nicht genau andersherum? Jawohl, der Kapitalismus schädigt die Demokratie! Der Markt erzeugt Ungleichheiten, die westliche Gesellschaften zurück in eine neofeudale Zukunft führen! Die Meritokratie steht auf dem Spiel, wenn die Erben von Manager-Milliardären ihren leistungslos gewonnenen Reichtum genießen (und vermehren), während die arbeitende Bevölkerung mit immer kleineren Stücken vom Wohlstandskuchen abgespeist wird. Das bloggen wir schließlich seit einem Jahrzehnt! Thank you, Thomas Piketty!

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