Konjunktur Die Regierung hemmt die Wirtschaft

Die niedrigen Zinsen, das billige Öl und der schwache Euro fachen die Wirtschaft an. Doch die Firmen gehen lieber ins Ausland – auch wegen der wachstumsfeindlichen Politik der Bundesregierung.

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Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel Quelle: dpa Picture-Alliance

Richtig gute Laune kommt bei Jürgen Reinemuth in diesen Tagen auf, wenn er an der Tankstelle vorfährt. „Einen Euro und zwölf Cent für einen Liter Diesel, wann hat es das zuletzt gegeben?“, freut er sich. Doch die Freude über den billigen Sprit verfliegt rasch, wenn Reinemuth auf die eigenen Geschäfte zu sprechen kommt. Denn die könnten besser laufen. Reinemuth ist geschäftsführender Gesellschafter von Thaletec, einem mittelständischen Hersteller von Spezialtanks für die chemische und pharmazeutische Industrie. Zu seinen Kunden zählen Weltkonzerne wie BASF, Bayer, Dow und Roche.

Das sagen Experten zur kalten Progression
Die Abschaffung der kalten Progression würde nach Berechnungen des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) zu mehr Wachstum in Deutschland führen. Das Bruttoinlandsprodukt könnte bis 2016 um fünf Milliarden Euro zusätzlich steigen, sollte die kalte Progression entfallen, sagte ZEW-Präsident Clemens Fuest der "Bild"-Zeitung. Das Plus entspricht einem zusätzlichen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um 0,2 Prozent. Zur Begründung sagte Fuest, die steuerliche Entlastung würde den Konsum der Bundesbürger ankurbeln und die Nachfrage nach Dienstleistungen und Produkten erhöhen. Quelle: dpa
Die Koalitionsfraktionen von Union und SPD hatten Ende April bekräftigt, dass ein Abbau der sogenannten Kalten Progression bei der Einkommensteuer in absehbarer Zeit nicht mehr zu erwarten ist. Unionsfraktionschef Volker Kauder sagte zum Abschluss einer Klausurtagung der Fraktionsspitzen in Königswinter bei Bonn, dies stehe nicht im Koalitionsvertrag. Die CSU sieht für einen Abbau der kalten Progression frühestens 2018 Spielraum. Quelle: dpa
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sieht aktuell keinen Spielraum für eine Steuerentlastung. Dies bekräftigte sie nach Angaben aus Teilnehmerkreisen auf einer CDU-Vorstandssitzung. Schon zuvor hatte Regierungssprecher Steffen Seibert betont, 2014 und 2015 gebe es keine Spielräume. Quelle: AP
Auch Arbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles (SPD) sagte gegenüber dem "Weser Kurier", der Abbau der kalten Progression sei "sicherlich erstrebenswert", er habe aber aus ihrer Sicht keine Priorität. Vorrang habe der angestrebte ausgeglichene Haushalt. Nahles verwies zugleich darauf, dass die Verminderung der kalten Progression eine "faire Finanzierung" voraussetze. Über die Gegenfinanzierung gibt es jedoch Streit. Quelle: dpa
Ungeachtet der Absage der großen Koalition hält die saarländische Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) einen baldigen Abbau schleichender Steuererhöhungen für nötig. „Wir haben Handlungsbedarf und sollten die kalte Progression gemeinsam angehen. Wenn die Steuereinnahmen weiter so sprudeln, kann das ein Thema für den Haushalt 2015 werden“, sagte sie der Zeitung „Die Welt“. Für die Länder wären Korrekturen bei der kalten Progression allerdings „ein Riesenkraftakt“, schränkte die Ministerpräsidentin ein. „Wir müssten daher über Kompensationen sprechen.“ Quelle: dpa
Nach der Absage der schwarz-roten Koalition an rasche Steuersenkungen will Bayern ein eigenes Konzept zum Abbau der kalten Progression vorlegen. Die Vorlage solle nicht aktuell umgesetzt werden, sondern erst in einigen Jahren. „Wir müssen in dieser Frage Schrittmacher bleiben“, sagte Finanzminister Markus Söder (CSU) „Spiegel Online“. Der Gesetzentwurf solle bereits in wenigen Wochen vorliegen. Ein Einstieg in den Abbau der „kalten Progression“ ist nach Einschätzung des CSU-Politikers erst ab 2018 realistisch: „Es gibt da keine schnelle Lösung.“ Quelle: dpa
Die Linke will die Abschaffung der kalten Progression parlamentarisch in Gang bringen. "Wir werden das Thema im Bundestag auf die Tagesordnung setzen", sagte Parteichef Bernd Riexinger der "Rheinischen Post". Es sei ein Armutszeugnis, dass die große Koalition nicht einmal den Einstieg in eine Gerechtigkeitswende zustande bringe. "Die Abschaffung der kalten Progression ließe sich mit ein wenig Mut aus der Portokasse finanzieren", erklärte Riexinger. Wenn die Mövenpick-Steuer abgeschafft und 500 Steuerprüfer für die gezielte Kontrolle der Vermögens- und Einkommensmillionäre abgestellt würden, wäre das Geld bereits beisammen, so Riexinger. Quelle: dpa

Nicht, dass die Existenz des 190-Mann-Betriebs aus Thale auf dem Spiel stünde. Der Umsatz steigt leicht, immerhin. Doch das Unternehmen leidet unter dem weggebrochenen Geschäft mit Russland, das für zehn Prozent des Umsatzes stand. „Unsere Kunden in Russland haben aus politischen Gründen alle Aufträge auf Eis gelegt“, klagt Reinemuth. Die Lücke sei kaum durch neue Auftraggeber zu schließen. „Wir müssen unsere Investitions- und Beschäftigungspläne für 2015 daher auf den Prüfstand stellen.“ Allenfalls an den Ersatz alter Anlagen sei zu denken. Die Belegschaft will er halten, wenn es geht.

Die Russland-Krise hinterlässt hässliche Bremsspuren in den Bilanzen vieler deutscher Unternehmen – nicht nur bei Thaletec. Der Absturz des Rubel und die panikartigen Zinserhöhungen der Moskauer Zentralbank sind die Symptome einer Wirtschaft, die sich im freien Fall befindet – die aber immer noch drei Prozent der deutschen Exporte aufnimmt. Nächstes Jahr, so schätzen die Volkswirte der Commerzbank, werden sich die deutschen Ausfuhren nach Russland halbieren, nachdem sie schon jetzt um 22 Prozent unter dem Vorjahreswert liegen. Das wird Deutschland 0,3 Prozentpunkte Wachstum kosten, so die Berechnungen der Bank.

Erwartete Maßnahmen der Unternehmen, die vom Mindestlohn betroffen sind.

Russland-Krise, Absturz des Ölpreises, Mini-Zinsen, Achterbahnfahrt an den Börsen, schwacher Euro, drohende Neuwahlen in Griechenland, anziehende US-Konjunktur – es ist ein wildes Gemisch an Einflussgrößen und unerwarteten Ereignissen, das in diesen Tagen Konsumenten, Unternehmer und Börsianer ratlos macht. Hektisch versuchen die Analysten in Banken und Instituten durchzurechnen, wie sich das alles auf die Konjunktur auswirken könnte. Sicher ist nur, dass alles unsicher bleibt. Und in den Betrieben? Dort erweisen sich die Planungen für 2015 in diesen Tagen so wackelig wie Götterspeise.

Keine idealen Voraussetzungen also für einen nachhaltigen Aufschwung. In einer exklusiven Umfrage des Münchner ifo Instituts für die WirtschaftsWoche unter rund 500 Unternehmen aus Industrie, Bau, Einzelhandel und Dienstleistungen zeigt sich die Mehrheit der befragten Manager daher zurückhaltend, was die Geschäftsperspektiven für das nächste Jahr betrifft. Von den Befragten gehen 61 Prozent davon aus, dass die deutsche Wirtschaft 2015 allenfalls langsam wächst, 31 Prozent erwarten, dass sie stagniert, fünf Prozent befürchten gar, dass sie schrumpft.

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