Wenn die Bundesbürger nach den Festtagen nolens volens wieder an die Werkbänke und ihre Schreibtische zurückkehren, dürfen sich die Beschäftigten des Münchner Lastwagenherstellers MAN daheim weiter gemütlich zurücklehnen. Zu beneiden sind sie darum jedoch nicht. Denn ihr Arbeitgeber hat Kurzarbeit angemeldet. Gleich nach der Weihnachtspause Mitte Januar wird die Produktion zurückgefahren. Betroffen sind 3500 Beschäftigte im MAN-Werk in München und 1800 im Werk in Salzgitter. Die Geschäfte laufen schlecht bei MAN. In den Auftragsbüchern herrscht Ebbe, der Betriebsgewinn der Volkswagen-Tochter ist in den ersten neun Monaten 2012 um 39 Prozent gesunken.
Autohersteller in Kurzzeit
Auch beim Autohersteller Opel arbeiten die Beschäftigten derzeit mit angezogener Handbremse. Die Hälfte der rund 20 000 inländischen Mitarbeiter hat das Management in Kurzarbeit geschickt. Ähnlich sieht es bei Ford aus. Der Kölner Autokonzern hat seinen Beschäftigten wegen der Absatzkrise in Europa in den vergangenen Monaten schon mehrfach Kurzarbeit verordnet. Besserung ist nicht in Sicht. Die Experten der Bundesagentur für Arbeit erwarten, dass sich die Zahl der Kurzarbeiter 2013 im Schnitt auf rund 190 000 verdreifacht.
Die Horrormeldungen aus der Industrie haben die Bundesregierung aufgeschreckt. Anfang Dezember kündigten Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen und Wirtschaftsminister Philipp Rösler an, die Bezugsdauer für das Kurzarbeitergeld von sechs auf zwölf Monate zu verlängern.
Vollbremsung in der Krise
Auch bei Banken, Medienunternehmen, Fluggesellschaften und Energieunternehmen kreist der Rotstift. Eine exklusive Umfrage des Münchner ifo Instituts für die WirtschaftsWoche unter knapp 600 Unternehmen aus Industrie, Bau, Handel und Dienstleistungen ergab, dass die Betriebe per Saldo im nächsten Jahr ihre Mitarbeiterzahl verringern und weniger investieren wollen.
Der Grund für die Vollbremsung ist die Euro-Krise. Aus Angst vor dem Auseinanderbrechen der Währungsunion lassen die Unternehmen Vorsicht walten. Investitionspläne wandern in die Schubladen, Personalbudgets werden gekürzt, Umsatzziele einkassiert. Im Jahresschlussquartal ist die Wirtschaftsleistung geschrumpft. Die Krise aus Europas Süden hat Deutschland erreicht. Ökonomen aus Banken und Forschungsinstituten haben ihre Prognosen für 2013 deswegen deutlich nach unten korrigiert. Im Schnitt erwarten sie nur noch ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von einem halben Prozent (siehe Seite 24). Vor wenigen Wochen lagen die Prognosen noch doppelt so hoch.
Die Euro-Zone reißt Deutschland in die Rezession
Selbst das bescheidene Plus steht auf des Messers Schneide. Kocht die Euro-Krise in den nächsten Wochen wieder hoch, etwa weil Italien, Spanien oder Frankreich wegen mangelnder Reformfortschritte unter Druck der Finanzmärkte geraten oder die Griechen Adio zum Euro sagen, ist mit heftigen Turbulenzen an den Finanzmärkten zu rechnen. Das bräche dann wohl auch der deutschen Konjunktur das Genick. Mit ihr versänke die Wirtschaft der gesamten Euro-Zone tief in der Rezession. Selten zuvor waren die Konjunkturprognosen daher so abhängig von dem, was in der Politik geschieht. "Wer wissen will, was 2013 für die Konjunktur bringt, muss auf die Politik schauen", sagt Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank.
Politiker zeigen sich optimistisch
Das wissen auch die Politiker in Brüssel, Paris und Rom. Angespannt bemühen sie sich, Optimismus zu verbreiten. Europa habe "das Schlimmste hinter sich", verkündete EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy vor wenigen Tagen. Frankreichs Staatspräsident François Hollande sekundierte: "Die Euro-Krise ist vorerst beigelegt."
Was für und gegen eine Rezession in Deutschland spricht
Bislang haben sich die Exporteure wacker geschlagen. Um mehr als vier Prozent haben sie ihren Auslandsumsatz in den ersten neun Monaten gesteigert, die Umsatzgrenze von einer Billion Euro dürfte das zweite Jahr in Folge geknackt werden. Doch die Tendenz zeigt deutlich nach unten: Im September fielen die Ausfuhren um 3,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat - das war das erste Minus seit Anfang 2010 und zugleich das stärkste seit November 2009. Grund: Die Nachfrage aus den Euro-Ländern - wohin etwa 40 Prozent der Waren "Made in Germany" gehen - bricht wegen der Rezession in Italien, Spanien & Co ein. Sie fiel um 9,1 Prozent. Besserung ist nicht in Sicht. Die Industrieaufträge aus der Euro-Zone sanken zuletzt um 9,6 Prozent. Und die EU-Kommission sagt wichtigen Handelspartnern wie Italien und Spanien auch für 2013 eine Rezession voraus. "Außenwirtschaftliche Impulse dürften in den kommenden Monaten ausbleiben", befürchtet das Bundeswirtschaftsministerium. "Das nächste Jahr wird zäh", sagt der Außenwirtschaftschef des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Volker Treier.
Wegen der ungewissen Aussichten - nicht zuletzt im Exportgeschäft - investieren viele Unternehmen weniger. Seit Ende 2011 gehen ihre Investitionen in Maschinen, Anlagen und Geräte von Quartal zu Quartal zurück. "Das ist gewöhnlich ein Vorbote für eine Rezession", sagt der Direktor des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), Gustav Horn. Die Investitionen dürften in diesem Jahr um 3,3 Prozent schrumpfen, sagen die Wirtschaftsweisen in ihrem Gutachten für die Bundesregierung voraus. 2013 rechnen sie nicht mit einer echten Erholung, sondern nur mit einem Mini-Wachstum von 0,2 Prozent. 2011 sah das noch ganz anders aus: Damals zogen die Ausrüstungsinvestitionen um 7,0 Prozent an und verhalfen der Wirtschaft zu einem kräftigen Wachstum von 3,0 Prozent. "Die Unternehmen warten ab, wie sich die Schuldenkrise weiter entwickelt", sagt DekaBank-Ökonom Andreas Scheuerle.
Das einstige Sorgenkind hat sich zur großen Stütze der deutschen Wirtschaft entwickelt. Wegen der niedrigen Arbeitslosigkeit und steigender Reallöhne sitzt das Geld bei den deutschen Verbrauchern wieder lockerer. Die Chancen stehen gut, dass dies auch so bleibt. Denn alle Experten sagen einen stabilen Arbeitsmarkt voraus. Die Wirtschaftsweisen rechnen für 2013 sogar mit einem Beschäftigungsrekord. Zudem sollen die Bruttolöhne mit 3,2 Prozent fast genauso schnell steigen wie im zu Ende gehenden Jahr mit 3,7 Prozent. Entlastet werden viele Deutsche zudem von der Senkung des Beitragssatzes zur gesetzlichen Krankenversicherung, der von 19,6 auf 18,9 Prozent fällt. Zusätzlich entfallen die zehn Euro Praxisgebühr pro Quartal. "Es ist aus heutiger Sicht unwahrscheinlich, dass der Konsum in den kommenden Monaten nachgibt", sagt der Präsident des Einzelhandelsverbandes HDE, Josef Sanktjohanser.
Stabiler Arbeitsmarkt gepaart mit extrem niedrigen Zinsen - diese Mischung sorgt seit vielen Monaten für einen Boom des Wohnungsbaus in Deutschland. Und der dürfte sich fortsetzen. "Die Konjunktur wird weiterhin dadurch unterstützt, dass der Wohnungsbau von den günstigen Finanzierungsbedingungen, dem Mangel an Alternativanlagen und der gestiegenen Verunsicherung profitiert", ist sich die Bundesbank sicher. Das strahlt auf viele Bereiche ab - vom Handwerk über baunahe Dienstleister bis hin zu Baumärkten. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) erwartet, dass die Branche nach der Stagnation in diesem Jahr um fünf Prozent wachsen wird - auch weil die Kommunen angesichts rekordhoher Steuereinnahmen wieder mehr investieren dürften.
Zumindest die Teilnehmer an den Finanzmärkten scheinen die Euro-Retter überzeugt zu haben. In den Handelssälen hofft man, dass die Euro-Krise 2013 abflaut und die Konjunktur wieder durchatmen kann. Immerhin sind die Renditen zehnjähriger Staatsanleihen von Spanien und Italien von 7,5 beziehungsweise 6,5 Prozent im Hochsommer auf aktuell nur noch 5,3 beziehungsweise 4,5 Prozent gesunken. Ihr Abstand zu Bundesanleihen hat sich deutlich verringert. Zudem hat der Euro gegenüber dem Dollar kräftig zugelegt, derzeit kostet er rund 1,30 Dollar. Auch der deutsche Aktienindex Dax scheint nur noch eine Richtung zu kennen: nach oben.
Scheitern ist ausgeschlossen
Auslöser für die Hausse ist die Beruhigungspille, die Mario Draghi, Chef der Europäischen Zentralbank (EZB), den Märkten im Sommer verabreichte. Er versprach, alles zu tun, um den Euro zu retten. "Das Signal der EZB, notfalls in unbegrenztem Umfang Staatsanleihen der Krisenländer zu kaufen, und die jüngste Umschuldungsaktion für Griechenland stellen eine Zäsur in der Euro-Krise dar", sagt Carsten-Patrick Meier, Chef des Analyseinstituts Kiel Economics. Beides habe den Investoren klargemacht: EZB und Regierungen werden den Euro nicht scheitern lassen – auch wenn sie dazu die Währungsunion in eine Haftungs- und Inflationsgemeinschaft verwandeln müssen.
Investoren fassen daher wieder Vertrauen in den Euro. Brachten Sparer nach dem Ausbruch der Krise ihr Geld scharenweise aus den Krisenländern nach Deutschland, so fließt es nun wieder zurück. Im Oktober stiegen die Einlagen bei spanischen Banken um mehr als neun Milliarden Euro, nachdem die Kunden im Sommer noch Monat für Monat fast 40 Milliarden Euro abgezogen hatten.
Kapitalflucht stoppt
Schwacher Beginn, starkes Ende
Sogar in Griechenland scheint die Kapitalflucht gestoppt. Im Oktober verbuchten die griechischen Banken einen Zuwachs ihrer Einlagen um rund eine Milliarde auf 155 Milliarden Euro. Zuvor hatten sie rund ein Drittel der Kundengelder verloren. Die jüngste Heraufstufung der Kreditwürdigkeit Griechenlands durch die Ratingagentur Standard & Poor’s dürfte den Kapitalrückfluss noch verstärken. Dagegen verzeichneten die Banken in Deutschland im Oktober nur noch einen geringfügigen Zuwachs der Einlagen von 0,1 Milliarden Euro – so wenig wie seit mehr als einem Jahr nicht mehr.
Der Rückfluss der Fluchtgelder in den Süden spiegelt sich auch im Target-Zahlungsverkehr wider, über den die grenzüberschreitenden Zahlungen im Euro-Raum abgewickelt werden. Von Oktober auf November sank Deutschlands Target-Forderungssaldo von 719,4 auf 715,1 Milliarden Euro.
Wende ist noch nicht bei den Managern angekommen
Die entscheidende Frage ist: Kommt mit der Beruhigung an den Finanzmärkten auch die Konjunktur wieder in Gang? Ganz so einfach ist das nicht. "Für eine konjunkturelle Wende reicht es nicht aus, dass sich die Lage an den Finanzmärkten beruhigt", sagt Commerzbanker Krämer, "dies muss auch in den Köpfen der Unternehmer ankommen." Noch scheint das nicht der Fall zu sein. So fürchtet eine Mehrheit der vom ifo Institut befragten Unternehmen, die Euro-Krise könne eskalieren. 39 Prozent derjenigen, die ihre Investitionen zurückfahren wollen, gaben die Euro-Krise als Grund dafür an.
Die Talfahrt der Investitionen, die seit mehr als einem Jahr anhält, dürfte daher nicht so schnell enden. Elga Bartsch, Europa-Chefvolkswirtin der Investmentbank Morgan Stanley, fürchtet, Deutschland könne sich einer leichten Rezession im Winterhalbjahr nicht entziehen. "Erst in der zweiten Hälfte nächsten Jahres", so Bartsch, "wird die Konjunktur wieder Fahrt aufnehmen."
Auch der US-Haushalt scheint gesichert zu sein
Bleibt die Euro-Zone von politischen Schocks verschont, könnte der Aufschwung durchaus kräftiger ausfallen, als viele erwarten. Denn die Voraussetzungen für einen Aufschwung, der 2014 sogar in einen Boom übergehen könnte, sind gegeben.
In den USA, in die mehr als sieben Prozent der deutschen Exporte gehen, zeichnet sich ein Kompromiss im Streit um die Haushaltskonsolidierung ab. Zwar müssen sich die US-Bürger wohl auf höhere Steuern und niedrigere Sozialausgaben einstellen. Doch Präsident Barack Obama und der Kongress dürften das Ausmaß der Konsolidierung von rund 4,0 auf 1,0 bis 1,5 Prozent vom BIP mindern. Entfällt die Unsicherheit über die Finanzpolitik, dürften die US-Unternehmen ihre Investitionen ausweiten. "Das wird der US-Konjunktur ab Mitte 2013 Schwung verleihen", sagt Harm Bandholz, US-Chefökonom von UniCredit.
Unternehmen rechnen mit starkem Wachstum
Deutsche Unternehmen blicken daher zuversichtlich auf ihr Amerika-Geschäft. Einer aktuellen Umfrage der Deutsch-Amerikanischen Handelskammer und der Unternehmensberatung Roland Berger zufolge rechnen 45 Prozent der US-Tochtergesellschaften deutscher Unternehmen für 2013 mit einem "starken Wachstum" ihres Umsatzes jenseits des Atlantiks.
Auch in China stehen die Zeichen auf Erholung. Nach einer vorübergehenden Schwächephase hat sich die Konjunktur zuletzt beschleunigt. Zwar dürften die Zeiten, in denen Chinas Wirtschaft mit zweistelligen Raten auf und davon stürmte, vorerst vorüber sein. Doch auch bei Wachstumsraten von rund acht Prozent werden Deutschlands Exporteure ordentliche Gewinne in Fernost einfahren.
Europa macht weiterhin Sorgen
Schlechter sieht es dagegen für das Europa-Geschäft aus. Der alte Kontinent bleibt das größte Sorgenkind der Weltwirtschaft. Die Peripherieländer müssen ihre Lohnkosten senken und die Staatshaushalte sanieren. Immerhin dürfte der konjunkturelle Bremseffekt der Sparprogramme im nächsten Jahr etwas geringer ausfallen. Nach Berechnungen der EU-Kommission zeichnen sich für 2013 Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen im Volumen von 1,3 Prozent vom BIP ab. In diesem Jahr waren es zwei Prozent.
Deutschlands Exporteure haben sich auf die Veränderungen auf dem Weltmarkt eingestellt und ihre Ausfuhren in die aufstrebenden Schwellenländer umgelenkt. Der Anteil der Ausfuhren nach Asien hat sich von zehn Prozent im Jahr 1999 auf nunmehr 16 Prozent erhöht. Der Exportanteil der Euro-Länder dagegen ist im selben Zeitraum von 46 auf weniger als 40 Prozent gesunken. In den nächsten Jahren dürfte sich dieser Trend fortsetzen. "Die deutsche Wirtschaft profitiert von ihrer weltweiten Verflechtung und treibt die Diversifizierung ihrer Absatzmärkte voran", sagt Anton Börner, Präsident des Bundesverbands Großhandel, Außenhandel und Dienstleistungen. Für 2013 erwartet er ein Exportplus von bis zu fünf Prozent.
Deutschland kann sich weiterhin auf Exporte verlassen
Laufen die Exporte rund, stehen die Chancen gut, dass die Unternehmen im Jahresverlauf 2013 ihre Investitionspläne aufstocken. Zumal die Finanzierungsbedingungen wegen der niedrigen Zinsen so günstig sind wie nie. Auch Unternehmer, die vor der Alternative stehen, ihre Barmittel in Bundesanleihen mit negativen Realzinsen zu stecken oder lieber neue Maschinen zu kaufen, dürften sich zunehmend für Letzteres entscheiden.
So wie Klaus Beckonert, Geschäftsführer des Silologistikdienstleisters Greiwing aus dem westfälischen Greven. "In den vergangenen Jahren hat uns die Euro-Krise vorsichtiger agieren lassen", sagt Beckonert. Doch im nächsten Jahr will das mittelständische Familienunternehmen mit knapp 500 Mitarbeitern 50 Millionen Euro mehr für Investitionen in die Hand nehmen, ein Plus von 30 Prozent. Klotzen statt kleckern also. Und: Das Geld soll nicht nur in den Ersatz alter Fahrzeuge, sondern auch in die Erweiterung der Kapazitäten fließen. Das Geschäft bewege sich zwar noch rund fünf Prozent unter den alten Höchstständen. "Doch für 2013 sind die Aussichten nicht schlecht", sagt Beckonert.
Bürger investieren ins Eigenheim
Nicht nur die Unternehmen lassen sich von den niedrigen Zinsen in Investitionen locken. Auch die Bürger nutzen das billige Geld, vor allem für den Kauf von Immobilien. In den ersten zehn Monaten des Jahres lagen die Baugenehmigungen für Mehrfamilienhäuser um mehr als 16 Prozent höher als im Vorjahr. Zudem haben ausländische Investoren Deutschland als noch vergleichsweise preiswerten Immobilienstandort mit Preissteigerungspotenzial entdeckt. Die Ökonomen der Deutschen Bank rechnen daher für 2013 mit einem Anstieg der Wohnungsbauinvestitionen um drei Prozent.
In den nächsten Jahren könnten die Raten weit höher ausfallen. Denn Deutschland steht vor der größten Einwanderungswelle seit der Wiedervereinigung. Vor allem gut qualifizierte Arbeitskräfte aus den Euro-Krisenländern und aus Osteuropa strömen ins Land. In der ersten Jahreshälfte wanderten netto mehr als 180 000 Personen zu. Im Gesamtjahr könnten es knapp 400 000 sein, schätzt Kiel-Economics-Chef Meier.
Arbeitsmarkt reagiert verzögert
Da die wirtschaftliche Misere in den Peripherieländern noch länger anhalten wird, dürften nach Meiers Berechnungen bis 2017 per saldo 2,2 Millionen Menschen nach Deutschland zuwandern. Für die Bauwirtschaft ein lukratives Geschäft. "Der Bau erschwinglicher Unterkünfte könnte ein Wachstumsmarkt werden", frohlockt Heiko Stiepelmann, stellvertretender Hauptgeschäftsführer beim Hauptverband der Deutschen Bauindustrie.
Dreht der Konjunkturmotor auf, dürfte auch die Flaute auf dem Arbeitsmarkt zu Ende gehen. Seit dem Frühjahr haben saisonbereinigt 80 000 Arbeitnehmer ihren Job verloren. Allerdings reagiert der Arbeitsmarkt verzögert auf die Konjunktur. Vor Ende nächsten Jahres ist daher keine Besserung zu erwarten.
Wer jedoch einen Job hat, darf sich auch 2013 auf ein sattes Plus auf dem Gehaltszettel freuen. Nach Schätzung des Kieler Instituts für Weltwirtschaft werden die effektiven Stundenlöhne 2013 um rund drei Prozent und damit nur etwas schwächer als in diesem Jahr steigen. Für Entlastung sorgt auch, dass der Beitragssatz zur Rentenversicherung sinkt, der Grundfreibetrag steigt und die Praxisgebühr verschwindet. Auch wenn der Staat durch den progressiven Einkommensteuertarif einen erheblichen Teil der Lohnzuwächse in seine Kassen umlenkt, dürften die verfügbaren Nettoeinkommen 2013 nach Schätzung des Marktforschungsunternehmens GfK um 2,9 Prozent steigen.
Energiewende macht Strom teuer
Wie viel den Bürgern davon an realer Kaufkraft verbleibt, hängt von der Teuerungsrate ab. Deutlich tiefer müssen die Bürger nächstes Jahr für Strom in die Tasche greifen. Die Energiewende lässt die Strompreise um rund zwölf Prozent in die Höhe schnellen. "Das wird die Inflationsrate 2013 um 0,2 Prozentpunkte nach oben ziehen", sagt Alexander Koch, Ökonom bei UniCredit. Auch 2013 wird die Teuerungsrate wohl bei zwei Prozent liegen. Die Nettoeinkommen dürften damit real um knapp ein Prozent steigen. Für den einen oder anderen zusätzlichen Einkaufsbummel dürfte das reichen.
Künstlicher Boom
Nach all den Verunsicherungen durch unzählige Euro-Krisengipfel, Grexit-Szenarien und Kollaps-Beschwörungen scheinen die Aussichten für die deutsche Wirtschaft auf den ersten Blick gar nicht so schlecht zu sein. Zumal der Konjunkturmotor in den folgenden Jahren noch ein paar Gänge höher schalten und Deutschland Wachstumsraten von mehr als zwei Prozent bescheren dürfte. Das Problem ist nur: Der Boom, zu dem die deutsche Wirtschaft sich im nächsten Jahr warmläuft, ist künstlich angefacht. Schon in den vergangenen Jahren waren die Leitzinsen der EZB zu niedrig für Deutschland. In den nächsten Jahren dürfte sich das noch verstärkten. Um die Wirtschaft in den Krisenländern zu stützen, werden die Euro-Hüter die Leitzinsen noch lange niedrig halten.
Die Szenarien für den Euro-Raum
Was passiert: Alles bleibt beim Alten
Wahrscheinlichkeit: Hoch
Folgen: Instabile Konjunkturentwicklung und hohes Maß an Planungsunsicherheit für europäische Unternehmen
Was passiert: Griechenland verlässt die Euro-Zone
Wahrscheinlichkeit: Mittel
Folgen: Schwindendes Vertrauen in den Euro und Gefahr eines Dominoeffekts für Italien, Spanien, Portugal und Irland
Was passiert: Euro-Bonds mit gemeinsamer Schuldenhaftung
Wahrscheinlichkeit: Mittel
Folgen: Stabilisierung der Finanzmärkte, mehr Planungssicherheit für Unternehmen, aber mangelnde Akzeptanz in der Bevölkerung
Was passiert: Aufspaltung der Euro-Zone mit Nord- und Süd-Euro
Wahrscheinlichkeit: Gering
Folgen: Starker Nord-Euro gefährdet die Wettbewerbsfähigkeit der Nord-Zone und die Stabilität der innereuropäischen Lieferketten
Deutschland droht eine überhitzte Konjunktur
Stellt Spanien demnächst einen Hilfsantrag beim Euro-Rettungsschirm ESM, wird die EZB die Geldpolitik weiter lockern. Dann wird sie in großem Stil spanische Staatsanleihen kaufen und die Zinsen nach unten drücken. "Für die Euro-Zone ist das fatal, weil es den Reformdruck von den Peripherieländern nimmt", urteilt Commerzbanker Krämer. Die EZB wird es aber nicht wagen, die Anleihekäufe einzustellen, weil dann die Zinsen durch die Decke gehen. Die Anleihekäufe dürften zu einer Dauereinrichtung werden – ebenso wie das Drucken von frischem Geld.
"Die Niedrigzinspolitik und die faktische Staatsfinanzierung durch die EZB werden den Charakter der Währungsunion verändern", sagt Krämer. Die Euro-Zone werde gewisse Ähnlichkeiten zum Italien der Siebziger- und Achtzigerjahre entwickeln, mit einer weichen Währung, verkrusteten Strukturen und hoher Inflation.
Letztere wird vor allem Deutschland zu spüren bekommen, da die Konjunktur hierzulande besser läuft als im Rest der Euro-Zone. "Deutschlands Wirtschaft droht mittelfristig zu überhitzen", warnen die Ökonomen von Goldman Sachs in einer aktuellen Studie. Für die Bundesbürger wäre das eine ganz neue Erfahrung – ob sie ihnen gefällt, darf bezweifelt werden.