Kritik am freien Handel Ist der Kapitalismus am Ende?

Unser Wirtschaftssystem gerät unter Druck: Steigende Arbeitslosigkeit und die Angst ums Ersparte in den Industrieländern radikalisieren die Bürger. Zudem sind die Wachstumsmöglichkeiten begrenzt. Was uns nun droht.

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Die Geschichte der freien Marktwirtschaft
Metamorphose IIn der Frühphase des Kapitalismus werden aus Landarbeitern Handwerker: Webstuhl im 19. Jahrhundert in England. Quelle: imago / united archives international
Metamorphose IIMit der Industrialisierung werden aus Handwerkern Arbeiter: Produktion bei Krupp in Essen, 1914. Quelle: dpa
Metamorphose IIIIm Wissenskapitalismus werden Arbeiter zu Angestellten und Proletarier zu Konsumenten: Produktion von Solarzellen in Sachsen. Quelle: dpa
Ort der VerteilungsgerechtigkeitDen reibungslosen Tausch und die Abwesenheit von Betrug – das alles musste der Staat am Markt anfangs durchsetzen. Quelle: Gemeinfrei
Ort der KapitalkonzentrationDer Börsenticker rattert, die Märkte schnurren, solange der Staat ein wachsames Auge auf sie wirft Quelle: Library of Congress/ Thomas J. O'Halloran
Ort der WachstumsillusionWenn Staaten Banken kapitalisieren, sind das Banken, die Staaten kapitalisieren, um Banken zu kapitalisieren... Quelle: AP
Karl MarxFür ihn war der Unternehmer ein roher Kapitalist, ein Ausbeuter, der Arbeiter ihrer Freiheit beraubt. Quelle: dpa

Uwe Möller, graue Haare, grüner Pullover und ein sympathisches Lächeln, sitzt auf der Couch und redet. Er erzählt von den Reibereien mit seiner Frau, wenn sie mal wieder fröstelt, weil Möller die Raumtemperatur im heimischen Wohnzimmer in Hamburg auf 20 Grad drosselt, um Energiekosten zu sparen. „Ich sage dann: ,Zieh‘ einen Pullover über und schnappe Dir die Decke; ist doch gemütlich!‘“, berichtet der 78-Jährige und grinst schelmisch.

Er spricht von seinen Kindern und Enkelkindern und von den Jungen und Mädchen aus der Dritten Welt, für die er eine Patenschaft übernommen hat. „Ich kann denen leider nicht allen helfen, aber man tut was man kann“, sagt er. Zu Weihnachten wünsche er sich jedenfalls keine Geschenke von seiner Familie, sondern dass auch sie eine Patenschaft übernehmen.

Möller wirkt nachdenklich, dann wird seine Stimme ernster und der gutmütige Familienmensch wird zum strengen Crashpropheten: „Es läuft einiges schief auf der Welt. Wir überstrapazieren unseren Planeten. Das geht nicht mehr lange gut“, sagt Möller, der ehemalige Generalsekretär des wachstumskritischen Club of Rome.

Die Menschen würden die Ressourcen in einem Maße verschlingen, wozu vor allem der nachholende Wohlstandsbedarf der armen Menschenmassen des „Südens“ in den kommenden Jahrzehnten dramatisch beitragen wird, so dass wir eigentlich drei Planeten bräuchten. „Eine Dematerialisierung der Wirtschaft ist daher dringend erforderlich.“ Die Wirtschaft müsse ressourcen-effizienterer Technologien entwickeln und einsetzen. Notwendig wäre auch ein Umdenken der Bürger: weg vom „Turbokapitalismus“ hin zu einer „postmateriellen Gesellschaft“, sagt Möller.

Die wichtigsten Begriffe in der Kapitalismus-Debatte

Der Hamburger Ökonom trifft mit seinen Thesen einen Nerv. Das Platzen der Dotcom- sowie der Immobilienblase, die Schulden- und die Eurokrise sowie die Begleiterscheinungen der Globalisierung – Arbeitsplatzverlagerungen, Steuerschlupflöcher, Vermögensverschiebungen – haben Verunsicherung geschaffen und  den Weg in die große Krise des Kapitalismus gesäumt.

Macht ökonomisches Denken eine Gesellschaft ärmer, wie Autor Philip Roscoe behauptet? „Stirbt der Kapitalismus?“, wie Immanuel Wallerstein zusammen mit vier weiteren namhaften Wissenschaftler in einem gleichnamigen Buch fragt oder handelt sich bei dem Satz „Wachstum ist schlecht“ um einen klassischen Wirtschaftsirrtum?

Kapitalismus sorgte zunächst für Wohlstand für alle

„Die Menschen haben seit jeher vom Fliegen geträumt, nicht weniger wie von sozialer Gerechtigkeit“, schreiben Immanuel Wallerstein, Randall Collins, Michael Mann, Georgi Derluguian und Craig Calhoun. Auf beiden Feldern gab es Momente, die Hoffnungen weckten – und Momente, die verzweifeln ließen.

Heißluftballons und Zeppeline stiegen nach Jahrhunderten der Experimente in die Luft, am 6. Mai 1937 fing die „Hindenburg“ Feuer und beendete eine Ära. Der Kapitalismus sorgte in Deutschland ab Mitte der 1950er-Jahre für Wohlstand für alle, VW-Käfer rollten über den Brennerpass. Es kamen die Ölkrise, die deutsche Einheit, die Jahrtausendwende und eine Automatisierungswelle – und ewig stieg die Ungleichheit.

Die Autoren des Buches

Inzwischen sollen in Deutschland laut dem Paritätischen Wohlfahrtsverband 15,2 Prozent der Deutschen arm sein. In den USA verdienen die Chefs der prominenten Fast-Food-Ketten mehr als 1000 Mal so viel wie die durchschnittlichen Angestellten – und in Schweden, 1996 noch die weltweit am meisten gleichgestellte Gesellschaft, ist die Kluft zwischen Arm und Reich seit 2007 so stark gewachsen, wie nirgendwo sonst.

Der Traum der sozialen Gerechtigkeit „blieb ein Traum“, schlussfolgern die Autoren von „Stirbt der Kapitalismus?“. Die Ergebnisse der vergangenen Jahre seien „mäßig oder schlicht katastrophal“. Eine Trendwende sei nicht in Sicht. Im Gegenteil: Der Kapitalismus stoße an seine Grenzen, vieles deute auf einen Zusammenbruch hin.

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