Medienkritik Wirtschaftsjournalisten auf dem Wachstumstrip

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Lichtgestalt Karl Schiller

Deutlich wird das 1966. Deutschland erlebt seine erste vergleichsweise harmlose Rezession nach dem Krieg. Liest man jedoch damalige „Spiegel“-Berichte, muss man den Eindruck bekommen, es droht eine Neuauflage der Weltwirtschaftskrise. Bundeskanzler Ludwig Erhard, der zum Maßhalten aufforderte, wird in der „Zeit“ zum altmodischen Trottel erklärt, der über Fernsehkabel stolpert und „nichts für unser künftiges Wirtschaftswachstum“ tue.

"Grenzen des Wachstums" wird zu "Wachstum der Grenzen"

Als Lichtgestalt und Retter in der Not erscheint dagegen ein Ökonom: Karl Schiller, der neue Wirtschaftsminister. Laut „Spiegel“ die „Supernova“ der Großen Koalition, für die „Zeit“ schlicht „der brillanteste Kopf“. Ein Mann, der mit seinen keynesianischen Methoden den Schlüssel zum ewigen, durch staatliche Eingriffe wohltemperierten Wachstum gefunden zu haben scheint. Der „Wirtschaftsprofessor“ gilt als Personifikation eines ökonomischen Expertentums, das in jenen Jahren durch die Pressearbeit der Wirtschaftsforschungsinstitute und eine steigende Zahl von Ökonomen-Gastbeiträgen die Wirtschaftsressorts prägt.

1970 scheint die Stimmung dann umzuschlagen. Die „ökologische Revolution“ macht auch vor den Wirtschaftsredaktionen nicht halt, der „Spiegel“ bringt den ersten Umwelt-Titel und schreibt über ein „vages, aber wachsendes Gefühl des Unbehagens“. Als 1972 unter dem Titel „Die Grenzen des Wachstums“ der erste Bericht an den Club of Rome erscheint, gerät das Wachstumsparadigma erstmals medial in die Defensive. Doch die Ökonomen und mit ihnen die Mehrheit der Wirtschaftsjournalisten parieren die Attacke. Mit Erfolg. Im Verlauf der Siebzigerjahre setzt sich in den Wirtschaftsredaktionen die These vom „Wachstum der Grenzen“ dank Innovation durch. Ökonomisches Wachstum, so die bis heute herrschende Meinung, ist nicht nur Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit der Demokratie, ein unendlich vermehrbares Heilmittel für alle möglichen sozialen Übelstände, es verschafft sogar die nötigen Ressourcen, um die ökologischen Schäden zu reparieren, die es selbst verursacht.

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