Die Weltwirtschaft steckt in der Krise: In Deutschland, Frankreich und den Niederlanden stehen vor den Parlamentswahlen in diesem Jahr die Feinde des offenen Handels hoch im Kurs. In den USA regiert ein unberechenbarer TV-Milliardär mit dem Wahlspruch „America first“. Und in Großbritannien rätselt die Regierung noch, wie eine Welt nach dem EU-Austritt aussehen könnte.
Und trotzdem: Statt ihr Heil in sicheren Häfen zu suchen, stecken Anleger weiterhin ihr Geld in Aktien. Seit dem Brexit-Referendum am 23. Juni 2016 nahmen die Werte des Dax so um rund 17 Prozent, die des EuroStoxx um 11 Prozent und die des Dow Jones um 16 Prozent zu.
Die Organisation für Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) weist in ihrem am Dienstag veröffentlichten Zwischenbericht zum wirtschaftlichen Ausblick auf dieses Missverhältnis hin: „Es gibt eine offensichtliche Entkopplung von den Erwartungen auf den Finanzmärkten und den Vorhersagen für die Realwirtschaft.“ Während die OECD und andere Organisationen schon seit Juli 2016 unverändert von einem eher moderaten Wachstum der Weltwirtschaft ausgehen (nämlich 3,3 Prozent in 2017 und 3,6 Prozent in 2018), hat sich das Aktienkapital in wichtigen Märkten wie den USA, Japan und in der Eurozone drastisch erhöht – in den Vereinigten Staaten etwa um 25 Prozent.
Wachstumsprognosen der OECD im März 2017
Alle zwei Jahre gibt die Organisation für wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) eine Prognose für die Weltwirtschaft heraus. Zweimal pro Jahr werden die Ergebnisse untersucht und angepasst. Mit dem Zwischenbericht zum Ausblick für 2017 und 2018 im März bestätigt die OECD weitgehend ihre Prognose von November 2016. Die Wachstumsprognosen ausgewählter Länder und Regionen lesen Sie im Folgenden.
Wachstum 2017: 3,3 Prozent (Prognose vom November 2016: 3,3 Prozent)
Wachstum 2018: 3,6 Prozent (Prognose vom November 2016: 3,6 Prozent)
2017: 2,4 Prozent (2,3)
2018: 2,8 Prozent (3,0)
2017: 1,6 Prozent (1,6)
2018: 1,6 Prozent (1,7)
2017: 1,2 Prozent (1,0)
2018: 0,8 Prozent (0,8)
2017: 2,4 Prozent (2,1)
2018: 2,2 Prozent (2,1)
2017: 6,5 Prozent (6,4)
2018: 6,3 Prozent (6,1)
2017: 7,3 Prozent (7,6)
2018: 7,7 Prozent (7,7)
2017: 1,8 Prozent (1,7)
2018: 1,7 Prozent (1,7)
2017: 3,5 Prozent (3,6)
2018: 3,8 Prozent (3,8)
2017: 2,7 Prozent (2,8)
2018: 3,2 Prozent (3,2)
Die OECD-Forscher machen dafür auch die Geldpolitik der Notenbanken verantwortlich. Trotz jüngster Anhebungen einiger Zentralbanken befinden sich die Leitzinsen in den USA und in Europa immer noch auf einem historischen Tiefstand. Die günstigen Kredite schafften nun Anreize, trotz ungewissem Ausblick Geld in Aktien anzulegen, weil einfaches Sparen praktisch keine Erträge verspricht. Je länger diese Entwicklung anhält, desto größer sei das Risiko für die Weltwirtschaft, so der Bericht: „Die Antwort der Finanzmärkte auf weitere Zinsanhebungen könnte, nach dieser langen Periode monetärer Unterstützung, alles andere als sanft ausfallen.“ Befürchtet werden heftige Preisschwankungen, wenn der Wert einiger Unternehmen im Lichte ansteigender Zinsen plötzlich neu bewertet würde.
Handlungsspielraum der Notenbanken ausgereizt
Eine Alternative zur expansiven Geldpolitik sehen die Forscher zumindest in der Eurozone und Japan jedoch nicht. Die schwache Nachfrage und nur geringe Preissteigerungen machten das Handeln der Europäischen Zentralbank und der Bank of Japan notwendig. Doch der Handlungsspielraum der Notenbanken sei inzwischen ausgereizt, so das Urteil der OECD. Gefragt seien vor allem in den Industriestaaten nun eine investive Haushaltspolitik und Strukturreformen, um das bestehende Wachstum zu verfestigen und so den Druck auf künftige Zinsentscheidungen zu verringern.
In Schwellenländern wie Brasilien und China dagegen droht nicht die Geldpolitik, sondern der hohe Schuldenstand der dortigen Unternehmen, den wirtschaftlichen Aufschwung zu gefährden. Ein globaler Zinsanstieg oder ein plötzlicher Abfall der weltweiten Nachfrage könnten betroffene Unternehmen bis zur Insolvenz unter Druck setzen. Währungsrisiken kommen erschwerend hinzu: Abgesehen von China haben die meisten Schwellenländer der G20 deutlich mehr Schulden im Ausland zu verzeichnen als noch 2010. So ist die Türkei, derzeit mit 25 Prozent ihres BIP in US-Dollar verschuldet, stark von der Währungspolitik der US-Notenbank Fed abhängig.
Das größte Risiko ist laut den OECD-Forschern jedoch politischer Natur: Demnach herrscht große Unsicherheit in der Frage, wie die westlichen Länder künftig ihre Handelspolitik organisieren wollen. Viele Staaten haben bereits neue Regierungen gewählt oder stehen vor wichtigen Wahlen in diesem Jahr. Weil bei den Bürgern die Skepsis gegenüber der Globalisierung zunimmt, sei der Ausgang dieser Wahlen schwer vorherzusagen. Die OECD sieht nun die nationalen Regierungen in der Pflicht, für eine faire Verteilung der Lasten und Gewinne des Welthandels zu sorgen, um die Akzeptanz bei der Bevölkerung zu erhöhen.
Setzen sich allerdings die Befürworter einer protektionistischen Wirtschaftspolitik durch, drohten heftige Kosten, so der Bericht: Sollten etwa die USA, Europa und China die Handelskosten durch neue Barrieren um zehn Prozent erhöhen, würde sie das mittelfristig rund zwei Prozent ihres BIPs kosten. „Eine Einschränkung des Freihandels würde die weltweite Konjunktur schwächen und Jobs in Gefahr bringen“, warnte denn auch OECD-Chefökonomin Catherine Mann am Dienstag in Paris gegenüber der dpa.