Ökonomen der Krise Irving Fisher: Kreislauf des Grauens

Die Mutter aller Krisen war für den US-Ökonomen Irving Fisher die Überschuldung, gepaart mit Deflation. Er forderte eine Entmachtung der Geschäftsbanken.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Skyline der Bankenmetropole Quelle: dpa

Er selbst war eines der ersten Krisenopfer: Irving Fisher, Starökonom im Amerika der Zwanzigerjahre, hatte sich in einer Zeitungskolumne zu weit aus dem Fenster gelehnt. „Die Kurse haben ein dauerhaft hohes Niveau erreicht“, schrieb Fisher, er werde sogar noch Aktien nachkaufen. Wenige Tage später brach die Wall Street zusammen, und die ganze Welt rutschte in die Depression. Fishers Privatvermögen und seine berufliche Reputation waren gleichermaßen dahin: Sein Arbeitgeber, die Universität Yale, kaufte sein Wohnhaus und ließ ihn zur Miete darin wohnen. Eine Schmach für den Wissenschaftler, der dank seiner vielseitigen Forschungen der meistzitierte Ökonom seiner Zeit war.

Es war nicht der erste Nackenschlag, den er in seinem Leben wegstecken musste. Sein Vater stirbt, als der junge Irving gerade ein Mathematikstudium aufnehmen will, und hinterlässt ihm ganze 500 Dollar. Sparsamkeit und Stipendien bringen ihn durch die Semester, vor allem aber eine bemerkenswerte Begabung. 1891 legt er seine Dissertation über die Preistheorie vor und wird erster Doktor der jungen Disziplin Ökonomie in Yale. Er schreibt über Zinsen und Kaufkraft und ist Pionier für Methoden, die noch heute verwendet werden, zum Beispiel die Korrelationsanalyse. 1930 wird er erster Präsident der Econometric Society, die sich für die Verknüpfung ökonomischer Fragen mit Mathematik und Statistik einsetzt. Menschlich gilt Fisher allerdings als schwierig. Er hat nach einer Tuberkulose-Erkrankung einen Diätwahn und ist strikter Befürworter der Prohibition.

1933 erscheint im Fachblatt Econometrica Fishers Schulden-Deflations-Theorie. Er hatte die große Krise nicht vorausgesehen, aber nun will er sie wenigstens nachträglich erklären. In seiner Theorie analysiert er als erster Ökonom die Wechselwirkungen zwischen Überschuldung und Deflation. Für Irving sind diese zwei „Krankheiten“ verantwortlich für die Misere. Am Anfang der Kette steht ein Boom, der die Wirtschaftsakteure zu überbordendem Optimismus verleitet. In Erwartung weiter steigender Einkommen und Gewinne finanzieren Betriebe und Haushalte immer mehr auf Pump. Weil sie aber ihre Zins-und Tilgungslasten im Abschwung nicht mehr leisten können, kommt es zu Insolvenzen, Notverkäufen und sinkender Nachfrage. Daraufhin sinken die Preise, was dazu führt, dass die Schulden real wachsen. Kreditgeber rufen nun angesichts des Wertverfalls ihrer Sicherheiten Kredite zurück, es kommt zu weiteren Notverkäufen. Wohlhabendere Haushalte und Unternehmen versuchen ihrerseits, ihre real steigenden Schulden schnell zu tilgen – auf Kosten von Konsum und Investitionen. Die sinkende Nachfrage drückt die Preise abermals, ein Kreislauf des Grauens, und irgendwie kommt einem das alles sehr bekannt vor.

Fishers Gegenstrategie freilich lässt sich kaum auf die heutige Zeit übertragen. Er empfiehlt US-Präsident Roosevelt, die Deflation durch eine Abkehr vom damals geltenden Goldstandard zu bekämpfen. Roosevelt hört auf den Ökonomen. Amerika verlässt den Goldstandard, kann den Dollar abwerten und die Exporte ankurbeln; zudem kommen aus dem politisch instabilen Europa große Kapitalströme ins Land. Die Geldmenge wächst wieder.

Als die Depression nachlässt, sucht Fisher nach grundsätzlichen Gegenmitteln zum ewigen Auf und Ab. Seine letzte große Reformschrift heißt 100% Money, und deren Kernthese birgt gewaltigen Zündstoff. Fisher fordert zwecks Disziplinierung des Bankensektors eine 100-prozentige Mindestreserve-Pflicht. Darlehen könnten dann nur noch vergeben werden, wenn die Geschäftsbank ein entsprechendes Guthaben bei der Zentralbank hat. Geld schöpfen könnte sie nicht mehr. Das bliebe allein der Zentralbank vorbehalten, die die alleinige Kontrolle über die Geldmenge hätte – und nicht gezwungen wäre, in Krisenzeiten faule Papiere der Kreditinstitute anzukaufen.

Ernsthaft diskutieren will das allerdings niemand. Die Zeitung American Banker witzelt über „Professor Fishers komisches Konzept“. Auch mit Blick auf die heutige Zeit und die aktuelle Kreditklemme erscheint Fishers Idee eher kontraproduktiv.

Gleichwohl schätzt die Nachwelt heute das ökonomische Gesamtwerk des 1946 gestorbenen Ökonomen. Die Universität Yale hat Fishers Artikel, Reden und Notizen archiviert, mehr als sechs Regalmeter, die heute zum Fundament der Makroökonomik gehören. Allein die Fisher-Gleichung zum Geldkreislauf kennt jeder VWL-Student. Doch im Archiv steckt auch manche Überraschung, zum Beispiel How to live, sein bestverkauftes Buch: Es ist ein Gesundheitsratgeber.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%