Otmar Issing "Die Euro-Krise ist noch nicht vorbei"

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"Beim Stabilitätspakt urteilen potenzielle Sünder über aktuelle Sünder"

Die EZB hat mit ihren Niedrigzinsen und Anleihekäufen den Krisenländern Zeit für Reformen erkauft. Welche Länder haben die Zeit genutzt – und welche nicht?
Der Musterknabe ist Irland. Die Regierung hat den Bürgern reinen Wein eingeschenkt und gesagt: Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt und müssen das korrigieren. Die Bevölkerung hat das akzeptiert. Auch Spanien hat wichtige Reformen umgesetzt und weist nun die höchste Wachstumsrate in der Euro-Zone auf. Die Griechen hingegen haben versucht, die Misere wahlweise Spekulanten oder den Deutschen anzulasten, nicht aber der eigenen Politik – etwa den mehr als 100-prozentigen Lohnerhöhungen im öffentlichen Dienst in weniger als zehn Jahren. In Griechenland macht die Regierung noch immer eine wachstumsfeindliche Politik. Auch Italien hat die Chance nicht genutzt. Das Land hat zig Milliarden an Zinsen gespart, ohne den Spielraum zu nutzen. Kurzum: Die Euro-Krise ist noch nicht vorbei.

Die Deutsche Bundesbank in Zahlen

Sollte man Krisenstaaten die Möglichkeit eines temporären Euro-Austritts eröffnen?
Ich war lange dagegen, weil ein Austritt mit hohen Risiken wie Kapitalflucht und staatlicher Zahlungsunfähigkeit einhergeht. Mittlerweile meine ich: Staaten wie Griechenland täte ein Sabbatical außerhalb der Währungsunion gut. Allerdings müsste es von massiven Hilfen der anderen Länder und einer wachstumsorientierten Wirtschaftspolitik begleitet werden. Und man müsste den Wiedereintritt in die Euro-Zone von grundlegenden Reformen abhängig machen.

Ein Kernelement der Wirtschafts- und Währungsunion ist der Stabilitätspakt, der Schuldenexzesse verhindern soll. War es naiv, zu glauben, die von Deutschland durchgesetzte Regelbindung werde auf Dauer von Frankreich und den südeuropäischen Ländern akzeptiert?
Beim Stabilitätspakt urteilen potenzielle Sünder über aktuelle Sünder. Insofern hatte ich von Anfang an nur begrenztes Vertrauen in diesen Kontrollmechanismus. Aber die Dimension seiner Demontage durch die Regierungen hätte ich nicht für möglich gehalten. Deutschland und Frankreich haben 2003 den Anfang gemacht. Kommissionspräsident Romano Prodi hat erklärt „The pact is stupid“ – obwohl die Kommission die Einhaltung der Verträge zu überwachen hat. Und der aktuelle Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker antwortet auf die Frage, warum Frankreich immer neue Aufschübe für den Abbau des Haushaltsdefizits bekommt: „Weil es Frankreich ist.“ Krasser kann man die Idee des Stabilitätspaktes nicht ruinieren.

Unterdessen versucht die EZB verzweifelt, mit Unmengen von künstlich verbilligtem Geld ein wenig Wachstum anzufachen, ein bisschen Inflation zu generieren...
...und ist damit nicht sehr erfolgreich. Wir leben seit zehn Jahren in einer Welt mit geringer Inflation. Das ist ein globales Phänomen.

Viele Ökonomen und Notenbanker sehen darin ein Problem und warnen vor einer Deflation. Wie realistisch ist diese Gefahr?
Es überzeugt nicht, mit dem Gespenst der Deflation hausieren zu gehen, wie es die EZB getan hat. Es ist zwar richtig, dass die ökonomisch schlimmste Situation, die man sich vorstellen kann, eine Deflation ist, wie sie nach 1930 in der Weimarer Republik und weltweit herrschte. Damals sind in Deutschland innerhalb von zwei Jahren die Großhandelspreise um 35 Prozent eingebrochen. Die Folge war eine sich selbst beschleunigende Talfahrt. Die Menschen sparten und schoben Käufe in der Erwartung hinaus, alles würde noch billiger. Doch eine solche Deflation war ein Einzelfall. Selbst in Japan, das seit 20 Jahren mit Deflation oder sehr niedriger Inflation lebt, hat es eine solche negative Preisspirale nie gegeben. Studien der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich zur Geschichte der Deflation zeigen: Die einzige schlimme Deflation war die der Dreißigerjahre. Ansonsten sind Phasen vorübergehend sinkender Preise historisch nie in einen deflationären Absturz eingemündet.

Sollte die EZB also ihr Inflationsziel von „knapp unter zwei Prozent“ aufgeben?
Das halte ich für verfrüht. Ich sehe aber auch keinen Grund, die Inflationsrate auf Teufel komm raus nach oben zu treiben. Die EZB gerät hier in eine Kommunikationsfalle: Wenn sie ständig wiederholt, sie wolle eine höhere Inflation und schafft das nicht, dann beschädigt sie ihre Reputation.

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