Der natürliche Zins ist derjenige Zinssatz, der sich ohne Manipulation durch die Zentralbank einstellen würde. Der österreichische Ökonom Eugen von Böhm-Bawerk nannte drei Bestimmungsgründe für seine Höhe. Erstens sind die Konsumenten ungeduldig – sie konsumieren im Zweifel lieber heute als morgen. Diese „Zeitpräferenz“ bringt tendenziell einen positiven Zinssatz hervor, der die Sparer für ihre Geduld entschädigt. Zweitens steigen nach Böhm-Bawerk die Einkommen der meisten Menschen im Zeitverlauf. Daher nehmen sie in jungen Jahren, beispielsweise als Studenten oder Häuslebauer, gerne Kredite auf. Denn diese können später aus dem dann höheren Wohlstand leicht zurückgezahlt werden. Drittens schließlich bringen die Ersparnisse bei produktiver Anlage auch einen realen Mehrertrag hervor. Alle drei Gründe unterstützen offenbar die These eines positiven natürlichen Zinssatzes.
Trotzdem kann er theoretisch negativ werden. Denn anders als zu Böhm-Bawerks Zeiten müssen in der alternden Gesellschaft von heute viele Menschen mit einem sinkenden Einkommen in der Zukunft rechnen. Die Renten sind niedriger als die Erwerbseinkommen, woraus ein starker Anreiz zum Sparen entsteht. Gleichzeitig gibt es immer weniger junge Menschen, die als Kreditnehmer infrage kommen. Böhm-Bawerks zweiter Bestimmungsfaktor für den Zins kehrt sich dann um, er senkt tendenziell den Zinssatz, statt ihn zu erhöhen. Im Extremfall kann er die beiden anderen Gründe sogar gänzlich überlagern. Dies hat schon 1958 der spätere Nobelpreisträger Paul Samuelson in einem bahnbrechenden Aufsatz gezeigt.
In seinem Modell der „überlappenden Generationen“ wird so viel gespart, dass der Zinssatz schließlich negativ wird. In einem solchen Fall würde auch die Investitionsrendite (Böhm-Bawerk nannte sie Produktionsumwege) entsprechend sinken. Die Investitionen werden aber trotzdem getätigt, weil man ja für das Sparkapital nicht nur nichts bezahlen muss, sondern sogar noch einen Bonus in Form des Negativzinses erhält. Prinzipiell stehen also negative Zinsen aufgrund einer Sparschwemme („savings glut“) durchaus im Einklang mit Böhm-Bawerks Zinstheorie. Aktuell dürften sie allerdings in erster Linie auf die expansive Geldpolitik zurückzuführen sein. Deren Einfluss hat Böhm-Bawerk leider in seiner Theorie vernachlässigt, obwohl er zeitweise österreichischer Notenbankpräsident gewesen ist.