Reinhard Selten Deutschlands einziger Ökonomie-Nobelpreisträger ist tot

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Nullsummenspiele in der Wirtschaft

Einige Begriffe aus der Spieltheorie gehören mittlerweile zur Alltagssprache, wie zum Beispiel das sogenannte Nullsummenspiel. Hier gleicht der Gewinn des einen Spielers den Verlust des anderen aus. Gewinnt etwa ein Unternehmen Marktanteile dazu, verlieren seine Wettbewerber automatisch Anteile in gleicher Höhe.

Im Gegensatz zum Nullsummenspiel könnten beim sogenannten Gefangenendilemma auch beide Spieler am Ende als Sieger dastehen – wenn sie miteinander kooperieren würden. Das berühmte Dilemma lässt sich auf eine Vielzahl ökonomischer Situationen anwenden. Ein gutes Beispiel ist die Regulierung der Ölpreise anhand der geförderten Mengen. Angenommen, der Ölmarkt besteht aus zwei Unternehmen, die vereinbart haben, jeweils nur geringe Mengen Öl zu fördern, um künstlich die Preise in die Höhe zu treiben. Auf diese Weise könnten sie jeweils mit einem Umsatz von 15 Milliarden Euro rechnen. Allerdings ist es für beide Unternehmen reizvoll, von der Vereinbarung abzuweichen und mehr zu verkaufen, sie stehen vor einem Dilemma. Fördert nur eine Firma eine höhere Menge Öl, könnte sie dem Mitbewerber Marktanteile abnehmen und den eigenen Umsatz auf 20 Milliarden Euro steigern, wohingegen der Gegner nur noch fünf Milliarden Euro abbekäme. Die Folge: Beide Unternehmen tendieren dazu, mehr Öl zu fördern, sobald nur der leise Verdacht besteht, die Konkurrenz könnte ihre Fördermenge erhöhen. Am Ende produzieren beide zu viel – und müssen sich mit einem Umsatz von zehn Milliarden Euro begnügen. Damit ist das aus Sicht beider Unternehmen schlechteste Ergebnis das wahrscheinlichste.

Bei dem 1930 in Breslau geborenen Selten zeigte sich die mathematische Begabung schon in Kindertagen. An Schule war zunächst allerdings nicht zu denken. Nachdem sein jüdischer Vater 1942 starb, konnte Selten mit seiner Mutter und seinen drei Geschwistern in einem der letzten Züge aus Breslau fliehen. Erst nach dem Krieg, als die Familie im hessischen Melsungen lebte, konnte der junge Selten wieder zur Schule gehen. Seinen insgesamt mehr als dreistündigen Schulweg vertrieb er sich, indem er komplizierte Fragen zu Geometrie und Algebra durchdachte. Im Mathematikunterricht landete er einmal vor der Tür, weil er die Antworten bereits gab, bevor der Lehrer die Frage zu Ende gestellt hatte. „Ich habe wohl eine Art intuitive mathematische Begabung“, sagt Selten.

So war es wenig verwunderlich, dass Selten nach seinem Abitur ein Mathematikstudium an der Universität Frankfurt begann. Dafür brauchte er verhältnismäßig lange – was nicht der fehlenden Begabung geschuldet war, sondern seinen vielfältigen Interessen. Selbst exotische Fächer wie Astronomie standen neben Physik und Psychologie auf seinem Vorlesungsplan. Über Letztere kam er schließlich zu volkswirtschaftlichen Laborexperimenten. „Ich war durch mein Psychologiestudium mit Experimenten vertraut, die Herangehensweise leuchtete mir ein.“ Sein Credo: „Wer wissen will, was in der realen Welt los ist, muss empirische und experimentelle Arbeit leisten, die Realität kann sich keiner am Schreibtisch ausdenken.“

Pionier der experimentellen Wirtschaftsforschung

Nicht umsonst gilt der Ökonom daher als ein Pionier der experimentellen Wirtschaftsforschung. Nach der Promotion in Frankfurt und Lehraufträgen in Berlin und Bielefeld kam Selten 1984 nach Bonn und gründete dort das europaweit erste Laboratorium für volkswirtschaftliche Experimente. Im Gegensatz zur Spieltheorie, einer sehr mathematischen, auf der Annahme rationaler Erwartungen basierenden Theorie, dient die experimentelle Wirtschaftsforschung dazu, eben diese rationalen Erwartungen infrage zu stellen und die traditionelle Theorie zu verbessern. Für Selten ist das essenziell, denn Menschen handeln nur eingeschränkt rational. „Ein Spiel lässt sich nicht mit dem Instrument der rationalen Erwartungen lösen. Jeder geht schließlich auf eine andere Art mit einer Entscheidungssituation um. Experimente sind dazu da, die Rationalität der Menschen zu überprüfen“, sagt der Nobelpreisträger.

Damit war Selten einer der ersten Wirtschaftswissenschaftler in Deutschland, der die Annahmen der klassischen ökonomischen Theorie infrage stellte. Gerade an der Universität Bonn, einer Hochburg der reinen Wirtschaftstheorie, eckte er damit an. „Die Kollegen waren es aber gewohnt, dass ich Einwände erhob“, sagt Selten. Mittlerweile hat die Mehrzahl der Ökonomen das Problem der eingeschränkten Rationalität akzeptiert. „Trotzdem bauen viele immer noch auf die einfacheren rationalen Modelle, da sie glauben, man könne damit die wesentlichen Dinge erfassen.“ Dabei sei die Arbeit mit rationalen Theorien sehr willkürlich, kritisiert Selten.

„Reinhard Selten ist bei seiner Arbeit völlig unbeeindruckt vom Mainstream und Publikationsdruck geblieben“, sagt der Kölner Ökonom Ockenfels. Mittlerweile hat sich die Experimentalökonomik als wichtiges Teilgebiet der Volkswirtschaftslehre etabliert. Im deutschsprachigen Raum gibt es zahlreiche Laboratorien, in denen Forscher computergesteuerte Experimente zu ökonomischen Fragen durchführen. Besonders beliebt sind Themen wie Arbeitsmarktökonomik und die Verteilung öffentlicher Güter.

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