Reinhard Selten war der bisher einzige Deutsche, der je den Wirtschafts-Nobelpreis bekommen hat. Nun ist der Ökonom, der sich vor allem mit Spieltheorie und experimenteller Wirtschaftsforschung beschäftigte, im Alter von 85 Jahren in Posen verstorben. Das meldet die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Demnach ist Selten schon am 23. August gestorben.
Die WirtschaftsWoche hat Selten 2011 an seinem Wohnort bei Bonn getroffen und den Wirtschaftswissenschaftler portraitiert. Dabei erzählte er auch, wie das eigentlich so war, mit dem Nobelpreis. Denn den hätte er fast verpasst.
Als die Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften am 11. Oktober 1994 die Namen der Wirtschafts-Nobelpreisträger bekannt gibt, ist Reinhard Selten beim Einkaufen. Da Mobiltelefone damals noch Seltenheitswert haben, kommt der Bonner ahnungslos nach Hause. Hier warten bereits zahlreiche Journalisten auf ein Statement des künftigen Nobelpreisträgers. „Ich gratuliere Ihnen“, sagt ein Reporter, worauf dieser nur ratlos „Wozu?“ fragen kann. Der Ökonom lässt sich von dem Wirbel nicht beeindrucken und sorgt erst einmal dafür, dass die Einkäufe sicher ins Haus kommen.
Auch nach der Verleihung des Preises in Stockholm bleibt der Wissenschaftler am Boden. Seine Nobelpreismedaille bewahrte er uneitel hinter ein paar Aktenordnern im Büro auf, und die Urkunde hat er auch nicht aufgehängt. „Die Leute wissen ja schließlich, dass ich den Preis bekommen habe.“ Für ihn habe sich dadurch nicht viel geändert. Lediglich die Interview-Anfragen seien sprunghaft gestiegen, plötzlich wurde er auch zu Themen außerhalb seines Fachgebiets um eine Meinung gebeten. „Als Nobelpreisträger muss ich auf alles eine Antwort haben, da ist man immer Fachmann“, so der Spieltheoretiker.
Der Wissenschafler kam ohne Allüren aus: Er erschien bei Terminen in seiner Heimat, dem Siebengebirge, gerne zu Fuß mit Wanderstöcken und entsprechend bequemem Schuhwerk. Selbst als frisch gekürter Nobelpreisträger war er sich nicht zu schade, mit seinem damaligen Schüler Axel Ockenfels, mittlerweile selbst Experimental-Ökonom in Köln, eine gemeinsame Studie zu schreiben – basierend auf Ockenfels’ Diplomarbeit. „Für Professor Selten zählt der Forschergeist und weniger, ob eine Idee von einem Studenten oder einem renommierten Wissenschaftler kommt“, sagt Ockenfels.
Nash-Gleichgewicht erweitert
Reinhard Selten war wie viele ältere Herren mit wirrem, weißem Haar und einem etwas zu großen, von Hosenträgern gehaltenen Anzug. Er wählte seine Worte mit Bedacht. Doch seine Augen leuchteten, wenn er von aktuellen Projekten erzählte, zum Beispiel einem neuen Experiment zur Entscheidungstheorie. Auch lange Jahre nach seiner Emeritierung widmete er sich jeden Tag etwa zwei bis drei Stunden der Forschung. Deshalb blieb er auch wissenschaftlicher Koordinator des von ihm gegründeten Labors für experimentelle Wirtschaftsforschung an der Universität Bonn.
Der Wirtschaftsnobelpreis: Die Preisträger der vergangenen zehn Jahre
Oliver Hart (USA) und Bengt Holmström (Finnland). Mit dem Preis zeichnet die Jury die Forschungen zur Kontrakttheorie aus.
Angus Deaton (Großbritannien) für seine "Analyse von Konsum, Armut und Wohlfahrt".
Jean Tirole (Frankreich) für seine Analysen zu den Themen Marktmacht und Regulierung.
Eugene F. Fama (USA), Lars Peter Hansen (USA) und Robert J. Shiller (USA). Die Drei wurden für ihre Methoden zur Beobachtung der Kursbildung an den Aktienmärkten ausgezeichnet.
Alvin E. Roth (USA) und Lloyd S. Shapley (USA). Beide entwickelten wichtige Erkenntnisse, wie man verschiedene wirtschaftliche Akteure zueinander bringt.
Christopher A. Sims (USA) und Thomas Sargent (USA). Ihr Gebiet: Modelle, mit denen sich das Wechselspiel von Inflation, Zinsen und Arbeitslosigkeit analysieren lässt.
Peter A. Diamond, Dale T. Mortensen (USA) und Christopher A. Pissarides (Großbritannien). Sie wurden für ihre Untersuchung von Marktmechanismen ausgezeichnet.
Elinor Ostrom (USA) und Oliver E. Williamson (USA). Sie haben gezeigt, „wie gemeinschaftliches Eigentum von Nutzerorganisationen erfolgreich verwaltet werden kann“. Zu Williamson hieß es, er habe Modelle zur Konfliktlösung mit Hilfe von Unternehmensstrukturen entwickelt.
Paul Krugman (USA) für seine Forschungsergebnisse als Handelstheoretiker.
Leonid Hurwicz (USA), Eric S. Maskin (USA) und Roger B. Myerson (USA) für ihre Arbeiten über die Grundlagen der „Mechanischen Designtheorie“.
Edmund S. Phelps (USA) für seine Analyse zum Verhältnis kurz- und langfristiger Effekte in der Wirtschaftspolitik.
Selten erhielt den Nobelpreis zusammen mit dem Amerikaner John F. Nash jr. und dem Ungarn John C. Harsanyi für seine Forschungsleistung im Bereich der Spieltheorie. Der Bonner Professor verfeinerte das 1950 von Nash entwickelte „Nash-Gleichgewicht“, welches besagt, dass ein Spieler immer bei seiner gewählten Strategie bleiben sollte, solange der Gegner seine Strategie nicht ändert. Nash ist einer der bedeutendsten Vertreter der Spieltheorie.
Selten entwickelte ein hochkomplexes Konzept, welches, vereinfacht ausgedrückt, verlangt, dass nicht nur ein Spiel als Ganzes ein Nash-Gleichgewicht erreicht, sondern auch jeder einzelne Teil eines Spiels. Ökonomen sprechen in diesem Fall von einer sogenannten Teilspielperfektheit. Es existiert ein strategisches Gleichgewicht, von dem ausgehend kein Spieler zusätzliche Vorteile erzielen kann, wenn er einseitig von seiner Strategie abweicht.
Diese Erkenntnisse haben auch heute noch hohe Bedeutung. Vor allem Verhandlungssituationen lassen sich mithilfe der Spieltheorie analysieren. So fällt es dem Verhandelnden leichter, das mögliche Verhalten seines Gegenübers in seine Pläne und Verhandlungsstrategien einzubeziehen. „Die Spieltheorie schärft den Blick für die Interaktion und das Handeln der anderen“, sagt Selten. Das sei in allen Bereichen des täglichen Lebens zu beobachten. Beispiel Lohnverhandlungen: Wenn Arbeitnehmer eine bessere Bezahlung durchsetzen wollen, müssen sie die Position ihres Chefs und dessen mögliche Handlungsoptionen schon vorher in ihre Verhandlungsstrategie einbeziehen.
Nullsummenspiele in der Wirtschaft
Einige Begriffe aus der Spieltheorie gehören mittlerweile zur Alltagssprache, wie zum Beispiel das sogenannte Nullsummenspiel. Hier gleicht der Gewinn des einen Spielers den Verlust des anderen aus. Gewinnt etwa ein Unternehmen Marktanteile dazu, verlieren seine Wettbewerber automatisch Anteile in gleicher Höhe.
Im Gegensatz zum Nullsummenspiel könnten beim sogenannten Gefangenendilemma auch beide Spieler am Ende als Sieger dastehen – wenn sie miteinander kooperieren würden. Das berühmte Dilemma lässt sich auf eine Vielzahl ökonomischer Situationen anwenden. Ein gutes Beispiel ist die Regulierung der Ölpreise anhand der geförderten Mengen. Angenommen, der Ölmarkt besteht aus zwei Unternehmen, die vereinbart haben, jeweils nur geringe Mengen Öl zu fördern, um künstlich die Preise in die Höhe zu treiben. Auf diese Weise könnten sie jeweils mit einem Umsatz von 15 Milliarden Euro rechnen. Allerdings ist es für beide Unternehmen reizvoll, von der Vereinbarung abzuweichen und mehr zu verkaufen, sie stehen vor einem Dilemma. Fördert nur eine Firma eine höhere Menge Öl, könnte sie dem Mitbewerber Marktanteile abnehmen und den eigenen Umsatz auf 20 Milliarden Euro steigern, wohingegen der Gegner nur noch fünf Milliarden Euro abbekäme. Die Folge: Beide Unternehmen tendieren dazu, mehr Öl zu fördern, sobald nur der leise Verdacht besteht, die Konkurrenz könnte ihre Fördermenge erhöhen. Am Ende produzieren beide zu viel – und müssen sich mit einem Umsatz von zehn Milliarden Euro begnügen. Damit ist das aus Sicht beider Unternehmen schlechteste Ergebnis das wahrscheinlichste.
Bei dem 1930 in Breslau geborenen Selten zeigte sich die mathematische Begabung schon in Kindertagen. An Schule war zunächst allerdings nicht zu denken. Nachdem sein jüdischer Vater 1942 starb, konnte Selten mit seiner Mutter und seinen drei Geschwistern in einem der letzten Züge aus Breslau fliehen. Erst nach dem Krieg, als die Familie im hessischen Melsungen lebte, konnte der junge Selten wieder zur Schule gehen. Seinen insgesamt mehr als dreistündigen Schulweg vertrieb er sich, indem er komplizierte Fragen zu Geometrie und Algebra durchdachte. Im Mathematikunterricht landete er einmal vor der Tür, weil er die Antworten bereits gab, bevor der Lehrer die Frage zu Ende gestellt hatte. „Ich habe wohl eine Art intuitive mathematische Begabung“, sagt Selten.
So war es wenig verwunderlich, dass Selten nach seinem Abitur ein Mathematikstudium an der Universität Frankfurt begann. Dafür brauchte er verhältnismäßig lange – was nicht der fehlenden Begabung geschuldet war, sondern seinen vielfältigen Interessen. Selbst exotische Fächer wie Astronomie standen neben Physik und Psychologie auf seinem Vorlesungsplan. Über Letztere kam er schließlich zu volkswirtschaftlichen Laborexperimenten. „Ich war durch mein Psychologiestudium mit Experimenten vertraut, die Herangehensweise leuchtete mir ein.“ Sein Credo: „Wer wissen will, was in der realen Welt los ist, muss empirische und experimentelle Arbeit leisten, die Realität kann sich keiner am Schreibtisch ausdenken.“
Pionier der experimentellen Wirtschaftsforschung
Nicht umsonst gilt der Ökonom daher als ein Pionier der experimentellen Wirtschaftsforschung. Nach der Promotion in Frankfurt und Lehraufträgen in Berlin und Bielefeld kam Selten 1984 nach Bonn und gründete dort das europaweit erste Laboratorium für volkswirtschaftliche Experimente. Im Gegensatz zur Spieltheorie, einer sehr mathematischen, auf der Annahme rationaler Erwartungen basierenden Theorie, dient die experimentelle Wirtschaftsforschung dazu, eben diese rationalen Erwartungen infrage zu stellen und die traditionelle Theorie zu verbessern. Für Selten ist das essenziell, denn Menschen handeln nur eingeschränkt rational. „Ein Spiel lässt sich nicht mit dem Instrument der rationalen Erwartungen lösen. Jeder geht schließlich auf eine andere Art mit einer Entscheidungssituation um. Experimente sind dazu da, die Rationalität der Menschen zu überprüfen“, sagt der Nobelpreisträger.
Damit war Selten einer der ersten Wirtschaftswissenschaftler in Deutschland, der die Annahmen der klassischen ökonomischen Theorie infrage stellte. Gerade an der Universität Bonn, einer Hochburg der reinen Wirtschaftstheorie, eckte er damit an. „Die Kollegen waren es aber gewohnt, dass ich Einwände erhob“, sagt Selten. Mittlerweile hat die Mehrzahl der Ökonomen das Problem der eingeschränkten Rationalität akzeptiert. „Trotzdem bauen viele immer noch auf die einfacheren rationalen Modelle, da sie glauben, man könne damit die wesentlichen Dinge erfassen.“ Dabei sei die Arbeit mit rationalen Theorien sehr willkürlich, kritisiert Selten.
„Reinhard Selten ist bei seiner Arbeit völlig unbeeindruckt vom Mainstream und Publikationsdruck geblieben“, sagt der Kölner Ökonom Ockenfels. Mittlerweile hat sich die Experimentalökonomik als wichtiges Teilgebiet der Volkswirtschaftslehre etabliert. Im deutschsprachigen Raum gibt es zahlreiche Laboratorien, in denen Forscher computergesteuerte Experimente zu ökonomischen Fragen durchführen. Besonders beliebt sind Themen wie Arbeitsmarktökonomik und die Verteilung öffentlicher Güter.
Probleme lassen sich experimentell abbilden
2002 ging der Ökonomie-Nobelpreis an zwei experimentelle Wirtschaftsforscher, die US-Amerikaner Vernon L. Smith und Daniel Kahneman. Smith ist Erfinder eines der bekanntesten Marktexperimente, der sogenannten Double Auction. Hierbei handeln die Teilnehmer gleichzeitig fiktive Güter untereinander. Jeder Proband übernimmt entweder die Rolle des Käufers oder Verkäufers und muss versuchen, seinen Gewinn im Verlauf des Experiments zu maximieren. Ein Verkäufer sollte seine Güter zu einem möglichst hohen Preis veräußern. Er kann Angebote der Käufer annehmen oder selber ein Gebot abgeben. Das Experiment, das aus etwa 30 Perioden à 120 Sekunden besteht, wurde unzählige Male an Universitäten durchgeführt. Es lässt sich stets beobachten, dass die Teilnehmer nach wenigen Perioden ein Marktgleichgewicht erreichen.
Auch die Probleme einer Währungsunion lassen sich experimentell abbilden. Selten etwa verglich die Situation mit und ohne Währungsunion mit Probanden anhand eines vereinfachten Zwei-Länder-Modells. Einige der Teilnehmer schlüpften in die Rolle der Regierungen und Zentralbanken beider Länder, andere spielten Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände oder Unternehmen. Dabei konnten Selten und seine Bonner Kollegen zeigen, dass eine Währungsunion zwar Vorteile bietet. Eine Kooperation der Zentralbanken führte allerdings zum gleichen Ergebnis. Je mehr die Währungshüter auf stabile Wechselkurse achteten, desto besser war die durchschnittliche Wettbewerbsfähigkeit beider Länder. Da die Zentralbanker im Experiment in den meisten Fällen vernünftig handelten und Wechselkursschwankungen weitgehend ausblieben, ließ sich anhand der Untersuchung kein deutlicher Unterschied zwischen der Situation mit und ohne Währungsunion nachweisen.
Ginge es nach Selten, hätten viel mehr Experimente einen aktuellen politischen Bezug, etwa zu den möglichen Auswirkungen einer Reform oder zur Schuldenkrise der Euro-Staaten. Allerdings wäre dafür eine große Anzahl von Teilnehmern nötig – und dafür reichen die Kapazitäten der bestehenden Laboratorien an den Universitäten nicht aus. „Für derart umfangreiche Experimente fehlt es den Laboratorien schlicht an Infrastruktur und Personal. Dafür bedarf es der Unterstützung der Politik, auch finanziell“, sagt Selten.
Mittlerweile geht die experimentelle Wirtschaftsforschung noch einen Schritt weiter – raus aus dem Labor und rein ins reale Leben. Von sogenannten Feldexperimenten erhoffen sich die Forscher noch realitätsnähere Ergebnisse. Sie sind besonders dann vorteilhaft, wenn das Umfeld der Teilnehmer eine bedeutende Rolle spielt.
Vom Labor ins Feld
Außerordentlich wichtig sind Feldexperimente zur Erforschung der Ökonomie von Entwicklungsländern. Die Ökonomen Pascaline Dupas und Jonathan Robinson etwa untersuchten in Kenia, inwiefern fehlende Infrastruktur den Erfolg von Unternehmen schmälert. Eine zufällig ausgewählte Gruppe Selbstständiger in Kenia erhielt ein zinsfreies Bankkonto. Obwohl die Versuchspersonen sogar Gebühren für das Geldabheben zahlen mussten, wurde das Konto viel genutzt, besonders von Frauen. Bereits nach einem halben Jahr erhöhte sich das Einkommen der weiblichen Teilnehmer deutlich, auch die Ausgaben waren gewachsen, die Unternehmen der Frauen konnten expandieren. Das Experiment zeigte, dass ein größeres Angebot an Bankdienstleistungen das Wirtschaftswachstum von Entwicklungsländern ankurbeln kann.
Und was macht ein Nobelpreisträger privat? Wer glaubt, Spieltheoretiker würden in ihrer Freizeit am liebsten Schach spielen oder pokern, liegt falsch. Viel lieber schnappte sich Naturliebhaber Selten ein Buch zur Pflanzenbestimmung und machte lange Spaziergänge durchs Siebengebirge. Beim gemeinsamen Abendbrot mit seiner Frau sprach Reinhard Selten zudem manchmal Esperanto, eine internationale, systematisch und einfach aufgebaute Plansprache. Bereits sein Vater war Esperantist, den Ökonomen selber haben vor allem die damit verbundenen humanistischen Ideale berührt. Statt wie andere Kinder die Ferien zu genießen, lernte der ehrgeizige Selten in den Osterferien von früh bis spät Esperanto. Als die Schule wieder anfing sprach er die 1887 erfundene Sprache bereits nahezu fließend. Bei der Europawahl 2009 zog Selten sogar als Spitzenkandidat der Partei Europa-Demokratie-Esperanto (EDE) in den Wahlkampf.