Coase hat mit seinem Theorem ein ökonomisches Instrument für die goldene Mitte geliefert. Er macht freilich eine gewichtige Einschränkung für das reibungslose Funktionieren seiner Verhandlungslösung. Ein effizientes Ergebnis ist zum einen nur möglich, wenn alle Fakten auf dem Tisch liegen. Ökonomen nennen das vollständige Information. Erst dann führen Verhandlungen zu einem Ergebnis, das alle zufriedenstellt.
Was sich beim CO2-Handel ändern soll
Industrielle Luftverschmutzung hat in Europa einen Preis: Im Emissionshandelssystem (ETS) muss Europas Industrie für ihre 12.000 Fabriken je ein Zertifikat für eine Tonne CO2 vorlegen. Damit sollen die Firmen zu klimaschonendem Wirtschaften gezwungen werden. Der Haken an der Sache: Der Preis ist zu niedrig. Die EU-Kommission peilte einst einen Preis von 30 Euro ein, dann kam die Krise und Europas Industrieproduktion brach ein - der ETS-Preis sackte auf unter drei Euro. Anstatt in teure Technik zu investieren, kauften die Firmen lieber billige CO2-Rechte ein - und machten mit den Dreckschleudern unter ihren Fabriken weiter gute Geschäfte.
Jedes Jahr bringt die EU-Kommission neue CO2-Rechte auf den Markt, im Zeitraum 2013 bis 2015 sind das 3,5 Milliarden. In den nächsten Jahren sollen es 900 Millionen weniger werden. Durch das knappere Angebot an CO2-Rechten steigt dann der Preis, so das Kalkül. Allerdings: Bis zum Ende des Jahrzehnts müssen die Zertifikate doch noch auf den Markt kommen. Die Verknappung ist mit der verspäteten Ausgabe der CO2-Rechte also nur zeitlich befristet - daher heißt der Reformschritt auf Englisch „Backloading“ (nach hinten verschieben). Der Preis könnte von derzeit etwa vier auf sieben Euro steigen. Das Europaparlament bestätigt den Kommissionskurs im Wesentlichen, nachdem es im April im ersten Anlauf schon mal Nein gesagt hatte.
Absolut nicht. Wirklich zufrieden ist niemand mit dem Kompromiss. Den Grünen gehen die Reformpläne nicht weit genug - sie fordern ambitioniertere Schritte. Große Teile der Industrie stehen hingegen auf der Bremse - sie lehnen Eingriffe in das Marktsystem ETS prinzipiell ab. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) verweist darauf, dass man beim CO2-Reduktionsziel für das Jahr 2020 doch bestens im Plan sei - auch mit niedrigen ETS-Preisen. Noch mehr als leicht höhere Energiepreise fürchten sie staatliche Willkür, die Industriemanagern ihre Planungssicherheit vermassele und das Investitionsklima verpeste. Andere Industriezweige sind erleichtert, weil sie auf klimaschonende Technik gesetzt hatten - und dafür wegen des aktuell niedrigen ETS-Preises letztlich bestraft werden.
Alle Seiten sind sich einig, dass nach dem ersten Reförmchen weitere, umfassendere Schritte folgen müssen. Bis Jahresende will die EU-Kommission hierzu einen Vorschlag machen. Die Reform ist längst noch nicht unter Dach und Fach. Schließlich müssen die EU-Staaten noch ihren Segen geben. Da ist die Stimmung hitzig: Kohleland Polen steht in Totalopposition, Frankreich ist dafür, Deutschland weiß nicht so recht. Weil sich Bundesumweltminister Peter Altmaier (CDU) und Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) nicht einigen können, tritt Deutschland bei internen Beratungen als stummer Zaungast auf.
Der Backloading-Berichterstatter des Europaparlaments, Matthias Groote (SPD), drängt auf deutsche Zustimmung. „Wenn Deutschland nicht dafür ist, kann Angela Merkel den Namen der Klimakanzlerin ablegen“, sagte Groote dpa Insight EU. Bis zum Herbst steht aber wohl ohnehin kein Abschlussvotum im Rat an. Und nach der Bundestagswahl könnte Deutschland auch seine Stimme wiedergefunden haben.
So absurd das klingt: Der niedrige ETS-Preis ist auch ein Grund für steigende Strompreise in Deutschland: Durch die billigen CO2-Preise boomt Kohlestrom - dadurch wird der Preisverfall an der Strombörse - also im Stromeinkauf - verstärkt. Die Kluft zwischen Einkaufspreis und der garantierten Einspeisevergütung für Wind- und Solarstrom wächst - diese Differenzkosten werden per Ökostrom-Umlage auf den Endkundenpreis der Verbraucher abgewälzt. Ein höherer ETS-Preis könnte also dazu führen, dass sich diese Differenz verringert und die Umlage weniger stark steigt als befürchtet.
Doch vollständige Information ist eine ziemlich ambitionierte Annahme, und Kritiker von Coase sagen: Sie ist völlig unrealistisch. Das könnte auch erklären, wieso der Emissionshandel bisher nicht richtig funktioniert: Der Staat hat den CO₂-Ausstoß der Unternehmen überschätzt und deswegen zu viele Zertifikate ausgegeben. Deshalb sind sie jetzt so billig.
Zum anderen können bei den Verhandlungen hohe Transaktionskosten entstehen. Die Beteiligten müssen potenzielle Vertragspartner ausfindig machen, Rechtsanwälte einschalten, sie benötigen womöglich Dolmetscher und Techniker, sie müssen Verträge ausformulieren und später deren Einhaltung kontrollieren. „Das ist extrem teuer“, schreibt Coase in seinem Essay. Werden die Reibungsverluste zu hoch, übersteigen mithin die Kosten einer Verhandlungslösung deren Nutzen, funktioniert das Coase-Theorem nicht mehr.
Um die Transaktionskosten zu minimieren, rät Coase, bei Verhandlungen notfalls eine dritte Partei hinzuzuziehen. Beim umstrittenen Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 etwa war dies im Coase’schen Sinne der Vermittler Heiner Geißler, der die streitenden Parteien an einen Tisch brachte und am Ende einen Kompromissvorschlag unterbreitete. Die Rolle kann laut Coase aber notfalls auch der Staat erfüllen. Für Coase sind gleichwohl „permanente staatliche Eingriffe zur Regulierung beziehungsweise Internalisierung der externen Kosten der Umweltnutzung nicht notwendig“, schreiben die Ökonomen Hans Putnoki und Bodo Hilgers. Vielmehr würden sich „Verursacher und Geschädigter infolge gegenseitiger Gewinn- und Nutzeninteressen auf eine Lösung einigen – sodass letztlich derjenige die Kosten trägt, der damit den geringsten Aufwand hat.“
Trotz seines hohen Alters konnte Ronald Coase nie von den Wirtschaftswissenschaften lassen. Zuletzt beschäftigte er sich mit China und erforschte als emeritierter Professor den Kapitalismus im Reich der Mitte. Dort ist er auf dem besten Weg, einer der bekanntesten westlichen Ökonomen zu werden. Coase starb am Montag im Alter von 102 Jahren nach einer kurzen Krankheit in einem Krankenhaus.