Die Geschichte der Ressourcenökonomik beginnt mit einem Nein. Als der US-Statistiker Harold Hotelling 1931 beim angesehenen "Economic Journal" einen Beitrag vorlegt, lehnen die Redakteure sie ab. Die Mathematik darin sei zu kompliziert für die Leser, heißt es zur Begründung. Das ist bemerkenswert, denn der damalige Chefredakteur des Journals heißt John Maynard Keynes.
Den Aufsatz "The Economics of Exhaustible Resources", der sich im Kern mit dem Zusammenhang von Rohstoffpreisen und Zinsen beschäftigt, bringt Hotelling schließlich im "Journal of Political Economy" unter. Und zwar zu einer Zeit, in der das Interesse an Fragen zur Endlichkeit der Rohstoffreserven gering ist. Die USA stecken mitten in der Großen Depression; Öffentlichkeit und Wissenschaft haben Besseres zu tun, als sich mit Ressourcenökonomie zu beschäftigen. Hotellings Arbeit bleibt rund 40 Jahre beinahe unbeachtet liegen - bis die Diskussion um die natürlichen Ressourcen der Erde in den Siebzigerjahren wieder aufflammt: Der Club of Rome veröffentlicht seine Studie "Die Grenzen des Wachstums", die Ölpreise steigen in bis dahin nie gekannte Höhen. Weltweit fragen sich Ökonomen, wie lange die Rohstoffe der Erde halten. Plötzlich ist Hotelling überall.
Der Zins entscheidet
Was er zur Zeit der Jahrhundertkrise entwickelte, ist heute Grundlage sämtlicher Forschungsarbeiten in der Ressourcenökonomik. Die Hotelling-Regel beschreibt in ihrer simpelsten Form eine Bedingung, die bei jedem effizienten Pfad der Ressourcenextraktion erfüllt sein muss: Der Preis einer erschöpfbaren natürlichen Ressource steigt im Gleichgewicht mit der Zinsrate an.
Was den Ölpreis bestimmt
Der Ölbedarf hängt stark von der Konjunktur ab. Mit zunehmenden Wirtschaftswachstum steigt auch der Ölverbrauch. So ist der Bedarf nach Öl in den boomenden Schwellenländern China, Indien und Russland in den vergangenen Jahren massiv gestiegen und hat diese Länder zu den größten Ölverbrauchern der Welt gemacht. Hinzu kommen saisonale Einflüsse, etwa vor dem Winter mit steigendem Heizölbedarf oder der so genannten „Driving Season“ in den USA, weil dann der Benzinverbrauch sprunghaft steigt.
Der Ölpreis hat kaum Auswirkungen auf die Nachfrage, da der Ölverbrauch bei steigendem Ölpreis nicht einfach so eingeschränkt werden kann – man spricht von einer preisunelastischen Nachfrage.
Der Verbund der Erdöl fördernden Länder spricht sich regelmäßig bezüglich der Fördermenge ab, was natürlich Auswirkungen auf den Ölpreis hat. Sollten sich vor allem die arabischen Länder auf ein Senkung der Fördermenge einigen, verknappt dies das Angebot und treibt den Preis für Rohöl.
Erdöl ist grundsätzlich ein knappes Gut, aber es herrscht auch viel Unsicherheit darüber, wie lange die Vorkommen reichen. Hinzu kommt, dass mit steigendem Ölpreis auch der Abbau nur zu höheren Produktionskosten abbaubarer Ölvorkommen eher lohnt, z.B. die Ölgewinnung aus Ölschiefer, Ölsand oder durch Tiefsee-Bohrungen. Außerdem neigen die großen Raffinerien ebenso wie Staaten dazu, ihre Lagerhaltung auszuweiten, wenn der Ölpreis starken Schwankungen unterliegt. Stocken diese Marktteilnehmer ihre Lagerbestände massiv auf, sorgt die erhöhte Nachfrage kurzfristig für neue Preishochs.
An den Börsen wird Öl in Form von Terminkontrakten gehandelt. Die Marktteilnehmer kaufen also Öl, das erst zu einem späteren Zeitpunkt zum vereinbarten Preis geliefert wird. Vom Spotpreis wird gesprochen, wenn es sich um kurzfristige Terminkontrakte handelt, bei denen das Öl innerhalb von zwei Wochen geliefert wird. Längerfristige Terminkontrakte können auch für Spekulanten attraktiv sein.
Der US-Dollar ist die Standardwährung im Rohstoffmarkt. Eine Änderung des Dollar-Kurse hat somit Einfluss auf die Ertragslage des Erdölexporteurs. Auf Staatenebene spielt dabei eine Rolle, wie viele Güter in der Handelsbilanz stehen, die in Dollar bezahlt werden. Die erdölexportierenden Länder haben daher Interesse daran, bei einem fallenden Dollarkurs die Exportpreise für Erdöl etwa durch Angebotsverknappung anzuheben.
Hotelling ging davon aus, dass die Theorie statischer Gleichgewichte auf Märkten, bei denen sich der Preis aus Angebot und Nachfrage bildet, unpassend für eine Industrie ist, in der "die unendliche Erhaltung einer ständigen Produktionsrate physikalisch unmöglich ist". Öl, Gas und Kohle werden irgendwann ausgehen, deshalb muss ihre Produktionsrate eigentlich mit der Zeit abnehmen. Es muss somit in ferner Zukunft einen Punkt geben, an dem niemand mehr Öl fördert. Weil es keines mehr gibt oder weil es so teuer geworden ist, dass es niemand mehr kauft.
In der einfachsten aller Welten gibt es kleine, abgeschlossene Märkte, auf denen viele Anbieter zu den gleichen Bedingungen ihre Waren anbieten. Die Marktgesetze diktieren den Preis. Firmen verkaufen ihre Produkte deshalb nach dem Prinzip Grenzerlös gleich Grenzkosten - die letzte produzierte Einheit wird gerade kostendeckend hergestellt.
Die goldenen Mitte
Bei erschöpfbaren Ressourcen funktioniert der Markt anders. Ein Minenbesitzer etwa muss sich entscheiden, ob er seinen Rohstoff schon heute aus dem Boden holt (und den aktuellen Preis kassiert) oder auf höhere Preise wartet (und den Rohstoff im Boden lässt). "Wenn ein Minenbesitzer zu schnell produziert, wird er den Preis drücken. Wenn er zu langsam produziert, könnten seine Profite, obwohl höher, zu weit in die Zukunft verlagert werden. Wo ist seine goldene Mitte?", fragt Hotelling. Diese goldene Mitte beschreibt er mathematisch mit einem Arbitrage-Kalkül: Verkauft ein Minenbesitzer seine Reserven heute, wird er seine Profite anlegen und sein Vermögen nach dem aktuellen Zinssatz vermehren. Lässt er sie unter der Erde, profitiert er von der Preisentwicklung. Die Anbieter suchen folglich nach einem optimalen Abbaupfad, bei dem sie den Ressourcenabbau über die Zeit so verteilen, dass sie den aus heutiger Sicht maximalen Gewinn erzielen. Verfährt jeder Anbieter so, wird der Preis der Ressource im Marktgleichgewicht mit dem Zinssatz ansteigen.
Das Gleichgewicht auf Märkten für endliche Ressourcen funktioniert somit wie auf Kapitalmärkten: Der Rohstoff im Boden ist ein Kapitalgut. Um ihn dort zu lassen, muss er mindestens die gleiche Rendite bringen wie andere Anlagegüter. Mehr noch: Weil jede abgebaute Einheit einer Ressource wie eine Abschreibung auf das Vermögen wirkt, verlangen die Anbieter dafür zusätzliches Geld.
Dies ist als Schattenpreis oder Hotelling-Rente bekannt geworden. Anders als bei gewöhnlichen Produzenten setzen sich die Kosten der Rohstoffbranche aus zwei Teilen zusammen: den Förder- oder Abbaukosten plus den Opportunitätskosten. Je weniger Rohstoffe übrig sind, desto höher die Opportunitätskosten.
Beispiel Saudi-Arabien: Hier kostet die Förderung des am einfachsten zugänglichen Öls nicht mehr als vier Dollar pro Barrel (159 Liter). Selbst beim aufwendig zu fördernden kanadischen Ölsand liegen die Produktionskosten nur noch um die 20 Euro. Auf dem Weltmarkt bezahlen Nachfrager für ein Fass Rohöl momentan aber zwischen 85 und 100 Dollar. Ein großer Teil der Differenz ist der Preis der Knappheit - die Hotelling-Rente.
Beim Öl ging das Spiel so richtig mit den Preisschocks der Siebzigerjahre los. Bis dahin hatten die Ölstaaten die Hoheit über das schwarze Gold gegen eine Gewinnbeteiligung von 10 bis 20 Prozent an einige wenige Ölkonzerne abgetreten. Aus Angst, die Knebelverträge könnten nicht lange halten, förderten die Ölriesen jahrzehntelang, so viel es nur ging. Die Folge waren Niedrigstpreise.
Das Kalkül ging auf
Die Ölkonzerne behielten recht, die Verträge wurden aufgelöst, Ölfelder verstaatlicht, und die Erdöl produzierenden Länder wurden selbst Herr über ihre Schätze unter dem Wüstensand. Fortan standen Staaten wie Saudi-Arabien für die Minenbesitzer in Hotellings Preismodell: Das Öl im Boden war ihr Vermögen, die Zinsen zur damaligen Zeit niedrig - es war somit attraktiver, weniger Öl zu fördern als die Konzerne zuvor und auf steigende Preise zu spekulieren. Das Kalkül ging auf, der Ölpreis stieg erst über zehn Dollar und 1979 gar auf mehr als 40 Dollar.
Allerdings stiegen die Ressourcenpreise nicht auf Dauer exponentiell an, wie es nach der Hotelling-Regel hätte passieren müssen. Wie der kanadische Ökonom Gérard Gaudet aufzeigt, schwankten die Preissteigerungsraten von Zink, Kupfer, Kohle, Öl oder Gas um den Nullpunkt. Mal stiegen die Preise für einige Zeit deutlich an, dann fielen sie wieder. Schon 1963 zeigten die US-Forscher Harold Barnett und Chandler Morse, dass die Preise einiger Ressourcen - darunter Eisen, Kupfer, Silber und Holz - gar über lange Zeit fielen.
Einer ganzen Generation voraus
Das aber widerlegt die Regel nicht: "Wenn die Hotelling-Rente nicht gestört wird, wächst sie mit dem Zinssatz. In der Realität gibt es aber Hunderte Faktoren, die auf sie einwirken", sagt Jürgen Blank, Ressourcenökonom an der TU Kaiserslautern. So gibt es viele Gründe für potenzielles Marktversagen. Einer davon: Drei Viertel der Weltölreserven lagern in politisch unsicheren Regionen. Das motiviert die Eigner, den Rohstoff schneller aus dem Boden zu holen, weil ihr Eigentum nicht langfristig gesichert ist. Ein weiterer Faktor sind Neuentdeckungen. In der einfachsten Form der Hotelling-Regel weiß jeder Marktteilnehmer, wie viel Rohstoffe noch im Boden sind. Die Geschichte des Erdöls aber ist eine Geschichte ständig neu entdeckter Vorkommen. Jedes dazukommende Ölfeld vergrößert das Angebot, lässt den Preis vorübergehend sinken und sorgt so für Zacken in der Hotelling’schen Preiskurve. Hinzu kommt: Bei keinem fossilen Brennstoff gibt es einen perfekten Wettbewerbsmarkt, eher Oligopole oder monopolistische Marktstrukturen. Forschung und Entwicklung verringern die Abbaukosten und vergrößern die wirtschaftlich abbaubare Rohstoffmenge oder führen zur Entwicklung von Substituten. Auch Umweltauflagen und -steuern vieler Länder machen die Preisbildung komplizierter.
Vieles davon hatte Hotelling bedacht. Trotzdem schickte er der Formulierung seiner Regel eine Reihe restriktiver Annahmen voraus. Wären sie alle erfüllt, würden die Ressourcenmärkte perfekt funktionieren. Weil das aber nicht der Fall ist, kann man die Regel als Grundlage eines Baukastens verstehen, mit dem Hotellings Nachfolger die Welt der erschöpfbaren Rohstoffe bis heute zu beschreiben versuchen - bis hin zu erneuerbaren Energien und dem Klimawandel.
Dabei war Hotelling nicht einmal gelernter Ökonom. 1895 in Seattle geboren, versuchte er sich während des Ersten Weltkriegs als Journalist. Dann widmete er sich der Mathematik: Masterstudium in Washington, Promotion in Princeton, ab 1931 Professor für mathematische Ökonomik in New York - Hotelling stieg zu einem der wichtigsten Statistiker seiner Zeit auf. In New York lehrte er auch Ökonomie. "Aber die war so mathematisch, dass kein Mitglied der Fakultät sie verstand", schreibt er.
In seiner gut 50-jährigen Forscherkarriere veröffentlichte Hotelling an die 100 Arbeiten. Sein Name taucht in der Mikroökonomik wie in der Ökonometrie immer wieder auf. Vom Boom der Ressourcenökonomik bekam ihr Wegbereiter jedoch nichts mehr mit. Nach langer Krankheit starb Harold Hotelling im Dezember 1973.
"Es ist kaum ein anderes Paper vorstellbar", schrieben die Wirtschaftsforscher Shantayanan Devarajan und Anthony Fisher acht Jahre später zum 50. Geburtstag der Hotelling-Regel, "das nicht nur das Modell geliefert hat, auf dem heutige Theoretiker aufbauen, sondern die relevanten Themen einer ganzen Generation im Voraus erahnt hat."