WirtschaftsWoche: Herr Professor Joas, es war in diesem Jahr viel von „europäischen Werten“ die Rede. Können Sie uns sagen, um welche Werte es dabei geht – und wenn ja: welchen Quellen sie entspringen?
Hans Joas: Freiheit, Toleranz, Rationalität - mir ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass keiner dieser Werte exklusiv europäisch ist und alle diese Werte in Europa immer auch umstritten und ungesichert waren. Wenn man sich auf die Suche nach der historischen Entstehung von Werten begibt, stößt man auf Quellen, de ergiebiger sind als solche abstrakten Wertbezeichnungen. Ihre Entdeckung legt den Schluss nahe, dass es über alle kulturellen Besonderheiten hinaus einen moralischen Universalismus gibt. Ihm vor allem und seiner Geschichte gilt mein Interesse.
Von welchen Quellen sprechen Sie?
Zunächst von der Achsenzeit* und den in ihr entstandenen Religionen und Philosophien. In ihr treten uns Kulturen nicht als hermetisch abgeschlossene Universen vor Augen, sondern als vielfältig aufeinander bezogene und über sich selbst hinausweisende Gebilde. Sie zeichnen sich durch eine ungeheure Spannung aus zwischen den großartigen normativen Ideen, die sie hervorbringen – und der politischen und sozialen Wirklichkeit, die nicht auf der Höhe dieser Ideen ist.
Karl Jaspers hat die Achsenzeit als „tiefsten Einschnitt“ in der Geschichte der Menschheit bezeichnet.
Und ich bin bereit, ihm darin zu folgen. Die biblischen Propheten verkünden eine Moral, der unbedingt Folge zu leisten ist… Buddha verkörpert exemplarisch eine überlegene Lebensführung… Die Transzendenz wird als Ort des Guten erstmals gedacht… – kurzum: Es gibt nun eine Moral, der es nicht nur um das Gute für die Angehörigen einer Familie, eines Stammes oder eines Staates zu tun ist, sondern um das Gute für alle Menschen: eine Moral für die Menschheit.
Die Geburtsstunde des moralischen Universalismus wäre demnach zugleich die Geburtsstunde der globalen Moderne?
Naja, jedenfalls sind die politischen Folgen eminent: Wenn Gott transzendent ist, kann kein König mehr Gott sein. Der Absolutheitsanspruch des Herrschers ist dahin. Allenfalls ein Mandat Gottes oder des Himmels kann er noch besitzen. Das heißt erstens, dass künftig auch Könige an einer Moral gemessen werden, die als solche außerhalb ihres Machtbereiches liegt. Und das heißt zweitens, dass Untertanen eine Pflicht zum Ungehorsam haben, wenn Könige dieser Moral zuwider handeln.
Eine Idee, die vor allem im 17. und 18. Jahrhundert Karriere macht.
Das ist der zweite historische Schub für die Institutionalisierung des moralischen Universalismus. Aber auch dieser Schub findet nicht einfach im Sinne einer europäischen Aufklärung statt, die sich im Namen der Vernunft gegen die Religion wenden würde.
* Der Begriff Achsenzeit stammt von dem Philosophen Karl Jaspers (1949). Er bezeichnet die Zeit von 800 bis 200 v. Chr. – und meint das “Wunder” einer kulturellen Revolution, die gleichzeitig in China, Indien, Persien, Palästina und Griechenland stattfand: die Relativierung der Mythen durch die Entstehung von Vorstellungen über Transzendenz, die Teilung der Welt in ein Diesseits und ein Jenseits, das Aufkommen einer universalistischen Moral, an der sich irdische Autoritäten messen lassen müssen.
Triumphzug der Rationalität
Sondern? Wenn nicht der Triumphzug der Rationalität das große Thema der Zeit war – was dann?
Ich spreche in meinen Arbeiten von der Sakralität der Person, wie sie in den Kodifikationen der Menschenrechte zum Ausdruck kommt. In Nordamerika und in Frankreich geschahen politische Umwälzungen, in denen zum ersten Mal behauptet wurde, dass alle Menschen aufgrund der bloßen Tatsache, dass sie Mensch sind, Rechte gegen den Staat haben, und der Staat verpflichtet sei, diese nicht von ihm verliehenen, sondern nur vorgefundenen Rechte zu garantieren. Das ist ein epochaler Vorgang…
…dessen kulturgeschichtliche Wurzeln aber doch weit vorher, im Naturrechtsgedanken**, liegen.
Sicher. Aber erst durch die Selbstbindung des Staates wird die Moral des Naturrechts – die dem positiven Recht bis dahin entgegengesetzt war – hereingeholt in die politische Wirklichkeit.
Und was ist mit den Religionen? Deren Toleranzgebote reichen weit zurück bis ins Mittelalter.
Wir müssen die pragmatische Geschichte der Religionsfreiheit von ihrer religiösen Geschichte trennen. Natürlich kann ein Herrscher jederzeit sagen – und das ist tatsächlich oft der Fall gewesen: Warum sollen wir Leute, die einen anderen Glauben haben, vergrätzen, wenn sie uns ökonomisch nützen? Das ist aber prinzipiell etwas anderes, als wenn jemand sagt: Ich fühle mich aus religiösen Motiven verpflichtet, für die Religionsfreiheit nicht nur der Angehörigen meines Glaubens einzutreten, sondern auch für die Religionsfreiheit der Angehörigen eines konkurrierenden Glaubens. Diese Entwicklung ist vor allem für die amerikanische Geschichte von eminenter Bedeutung.
Die Religion wäre demnach kein Opfer der Aufklärung und ihrer Vernunftmoral, sondern ihr Schubverstärker.
Nein, Religion ist vielerlei und findet sich oft auf beiden Seiten von Kontroversen. Aber die Geschichte der Menschenrechte ist jedenfalls kein Sieg der europäischen Rationalität, sondern eine globale, ungeheuer facettenreiche Geschichte der Sakralisierung der Person. Diese manifestiert sich prozesshaft, zum Beispiel in der schleichenden Abwendung von Folter und Sklaverei, in einer dichten Folge von politischen Deklarationen, in der Geschichte der Religionsfreiheit – und nicht zuletzt in einer moralischen Reaktion auf die Ausweitung des Welthandels: Der Kapitalismus brachte einen enormen Fortschritt an humanitärer Sensibilität mit sich. Bereits vor mehr als 200 Jahren stellten Konsumenten in Europa die Frage nach den Bedingungen, unter denen die Genussprodukte der Zeit – wie Zucker und Kakao – gewonnen wurden. Und dabei stießen auf die Rolle der Sklavenarbeit.
Also ist der moralische Universalismus doch auf europäischem Boden entstanden.
Auch auf europäischem Boden – wer wollte das bestreiten? Aber eben nicht nur. Hinzu kommt, dass Europa ganz gewiss nicht der Kontinent ist, der seinen eigenen Wertsetzungen kontinuierlich entspricht. Europa - das ist auch der Mutterboden von Kolonialismus, Imperialismus, Totalitarismus.
** Der Gedanke, dass der Mensch von Natur aus mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet ist, die dem positiven, gesetzten Recht übergeordnet sind.
Die Selbstsakralisierung Europas
Ist es das, was Sie an der Beschwörung der „europäischen Werte“ stört?
Mich stört die Idealisierung, ja: Selbstsakralisierung Europas – und dass die ständige Hervorhebung europäischer Werte ersichtlich dem Zweck dient, eine europäische Identität herbeizureden, die es so nicht gibt. Wenn Europa etwas auszeichnet, dann ist es seine Heterogenität. Deutschland zum Beispiel hat sich im 19. und 20. Jahrhundert doch über seine “kulturelle” Differenz zum “zivilisierten” Westen definiert. Wenn jetzt, getrieben vom Willen zur politischen Integration, so getan wird, als gebe es eine klare Grenze zwischen einem irgendwie einheitlichen Europa und dem Rest der Welt, dann ist das blanker Unsinn.
Ist der historische Unsinn einer exklusiven europäischen Werteidentität größer oder der politische Unsinn, Europa zum “Wert an sich“ zu stilisieren?
Der größte Unsinn liegt vermutlich in der Vermengung von Geschichte und Politik, also darin, dass eine Identität im Hinblick auf politische Zwecke behauptet wird. Die Beschwörung einer einheitlichen jüdisch-christlichen Tradition ist ja etwas Neues. Diese Redeweise hat es bis zum Zweiten Weltkrieg praktisch nicht gegeben, im Gegenteil – sie ist erst seit dem Holocaust üblich geworden.
An welches Europa denken Sie?
Ich denke an einen Kontinent, in dem Aufklärung, Romantik und Transzendenzverlangen ein Spannungsfeld bilden, zu dem noch der Wert der Selbstverwirklichung hinzukommt. Dieser entsteht im 18. Jahrhundert. Er breitet sich in der Bohème-Kultur des 19. Jahrhunderts aus und wird in den 1960er Jahren zur dominanten Wertorientierung – übrigens nicht nur in Europa.
Was ist mit diesem differenzierten Blick auf Europa gewonnen?
Ein realistischer Blick auf Europa verhindert, das mit dem Begriff “europäische Werte” so etwas geschieht, wie es in der Geschichte des Nationalismus mit den “nationalen Werten” geschehen ist. Bei der Reichseinigung wurde ja auch so getan, als ob es ein einheitliches Deutschtum gebe – auch wenn die Ähnlichkeiten zwischen Bayern und Österreichern damals größer waren als die zwischen Bayern und Preußen. Ich sehe die Gefahr, dass wir diesen Fehler nun in größerem Maßstab wiederholen und die Geschichte in ein neues Korsett zwängen – der angeblichen Unausweichlichkeit des europäischen Einigungsprozesses.
Woher rührt der Wille zur politischen Indienstnahme einer europäischen Identität? Und warum wird diese Identität desto mehr beschworen, je weniger erkennbar sie realpolitisch ist?
Gute Frage. Ich glaube: Das Gespräch über Europas Identität hat den tatsächlich fortschreitenden Integrationsprozess jahrzehntelang begleitet, aber nicht: gesteuert. Denn ich glaube nicht, dass die Wert-Ebene von entscheidender Bedeutung für die wirtschaftliche Integration war. Eher ließe sich sagen, dass der Werte-Diskurs dazu diente, den Mangel an Integrationsfortschritten in politischer Hinsicht zu kompensieren. Heute zeigt sich, dass Europa dadurch fundamentale Konstruktionsfehler unterlaufen sind – vor allem, was die gemeinsame Währung ohne gemeinsame Finanzpolitik anbelangt.
Das Merkwürdige ist, dass es schon vor einem Jahrzehnt Euro-Kritiker gegeben hat – und dass ausgerechnet diese Kritiker heute für ihre Kritik kritisiert werden…
Joas: … während gleichzeitig Leute Konjunktur haben, die die Konstruktionsprobleme des Euro bagatellisieren – und ausgerechnet jetzt den historischen Moment ausrufen, um endlich die entscheidenden Schritte in Richtung politische Integration zu gehen.
Vor oder zurück?
Man steht auf den Ruinen der – ökonomischen – Integration – und deutet sie zu einem Grundstein für die Walhalla Europa um.
(lacht): Ja, genau – wobei ich nachvollziehen kann, dass die Diskussion in der Krise auf die Spitze getrieben wird: Entweder wir gehen einen Schritt zurück oder einen radikalen Schritt nach vorne. Beides hat seine Logik. Aber der Schritt zur stärkeren Integration hat derzeit keine realpolitische Basis. Es gibt einen Elitenkonsens für “mehr Europa“, gewiss. Dennoch steht eine Steigerung des Integrationsprozesses nicht zur Debatte, weil es dafür in keinem Land eine Mehrheit geben würde. Nicht einmal in Deutschland.
Nicht einmal in Deutschland?
Naja, ich glaube schon, dass in Deutschland ein Art von negativem Nationalismus verbreitet ist. So wie es etwa 1985 politisch unkorrekt, ja: anrüchig war, die deutsche Wiedervereinigung für eine positive Perspektive zu halten, so fürchten heute viele, Bedenken gegenüber einer politischen Integration Europas zu äußern, weil sie Angst davor haben, nationalistischer Gedanken verdächtigt zu werden. So kommt es, dass Griechenland “Solidarität” rufen kann, wenn es recht eigentlich meint: “Zahlt unsere Schulden!” – dass es als Land erscheint, dem wir helfen müssen, und nicht als durch und durch korrupte politische Ordnung.
Man könnte, frei nach Nietzsche, von der Umwertung aller europäischer Werte sprechen?
Es ist jedenfalls merkwürdig, dass wir “Europa” zu einem hohen Wert erklären – und nicht etwas, an dem sich die Handlungen und Strukturen seiner Mitgliedsländer messen lassen müssen. Das kannte man bisher vornehmlich aus den USA. Dort gibt es traditionell einen Frontenverlauf zwischen denen, die sagen: Unser Amerika ist “God’s own country” – und denen, die sagen, es ist natürlich genau umgekehrt: Wir Amerikaner müssen uns bei jeder unserer Handlungen fragen, ob das, was wir tun, “auf der Seite Gottes stehen” heißt.
Schön und gut. Aber woher weiß man, mit welcher Art zu handeln man auf der Seite Gottes – oder des Guten – steht?
Zunächst gibt es so etwas wie eine vorreflexive Wertbindung. Sie verdankt sich Vorbildern, Erfahrungen, Gemeinschafts- und Offenbarungserlebnissen – auch in negativer Hinsicht: Dass seine Misshandlung etwas Böses ist, leuchtet dem Misshandelten auch ohne umständliche Begründung ein. Zweitens entstehen Werte aus geteilten Geschichten: Fundamentale Meinungsdifferenzen zwischen einem Atheisten und einem Gläubigen etwa bedeuten nicht das Ende der moralischen Verständigung, wenn beide zu Wertegeneralisierungen fähig sind. Sie sind sich vermutlich einig darin, dass der Holocaust etwa Böses war. Und diese Einigkeit lässt nicht nur ein gemeinsames politisches Handeln zu, sondern auch bestimmte Beschreibungen des moralisch Gebotenen.
Gemeinsame Normen
Aus gemeinsamen Werten entstehen gemeinsame Normen?
Ich unterscheide Werte als attraktiv und Normen als restriktiv. Aber nur aus analytischen Gründen. Denn in der Wirklichkeit entlassen alle attraktiven Werte natürlich aus sich heraus Normen. Wenn ich etwa einen Menschen liebe, fühle ich mich von diesem Menschen angezogen. Wenn ich aber dann in einer Liebesbeziehung zu ihm stehe, hat das natürlich restriktive Konsequenzen. Kurz gesagt: Ich binde mich freiwillig – und fühle mich dann gebunden. Das gilt auch für abstrakte moralische Gehalte. Fühle ich mich an einen Wert durch seine Attraktivität gebunden, heißt das zugleich, dass ich in einem normativen Sinn viele Handlungen zu unterlassen habe, die mit diesem Wert nicht übereinstimmen.
Das würde bedeuten, dass es einen Werteverfall gar nicht geben kann.
Es ist produktiver, von Wertewandel zu sprechen, zu bilanzieren, wo neue Sensibilisierungen entstehen oder ein schon erreichtes Niveau unterschritten wird.
Im Dostojewski-Roman “Die Brüder Karamasow” fällt der schöne Satz: “Ohne Gott ist alles erlaubt.”
Eine verbreitete Auffassung. Ich halte sie für falsch. Mehr noch: Wer heute sagt, “Wo kein Glaube ist, ist keine Moral”, ist ein Pharisäer. Denn er sagt ja eigentlich: Vielen Dank, lieber Gott, dass ich der bessere Mensch als dieser Ungläubige bin. Das halte ich als Christ für anstößig. Nein, ich würde sogar sagen, dass der moralische Universalismus derzeit an Kraft gewinnt. Dafür spricht auch, dass heute sehr viele Menschen leidenschaftlich an einer säkularen Moral interessiert sind.
Finden Sie? Ist es nicht vielmehr so, dass sich die Moral in unendlich viele Gruppenethiken auflöst? Steuerflüchtlinge etwa fühlen sich unter ihresgleichen auf der moralisch richtigen Seite.
Sicher, es gibt gewisse Milieus, in denen Normverstöße zur Regel geworden sind – wer wollte es bezweifeln? Steuerfahnder berichten, dass sie bei ihren Hausdurchsuchungen auf Leute treffen, die nicht etwa moralisch erschrecken, wenn sie ertappt sind, sondern nur sagen: Pech gehabt. Offensichtlich ist für diese Leute das Verfolgen des eigenen Vorteils eine buchstäblich wertfreie Normalstrategie, die erfolgreich sein kann oder nicht. Aber das ändert nichts an dem Befund, dass die Sensibilität für solches Fehlverhalten insgesamt eher gestiegen ist.
Gilt das auch für den homo oeconomicus der modernen Geschäftswelt? Ist der wirklich an Moral interessiert? Muss er es sein? Und überhaupt: Brauchen Märkte eine Seele?
Märkte sind nichts Ursprüngliches, sondern kulturell und rechtlich institutionalisiert. Es handelt sich bei ihnen nicht um natürliche Freiheitsbezirke, in denen freie Wirtschaftssubjekte ihren Tauschinteressen nachgehen und autonom darüber zu befinden hätten, ob die Moral hier eine Rolle spielen dürfe. Nein, es ist genau umgekehrt: Märkte sind im gesellschaftlichen Konsens freigegebene Räume zur Verfolgung von wirtschaftlichen Eigeninteressen. Märkte sind in einem historischen Prozess der bewussten Deregulierung entstanden. Deshalb bleiben sie, so dereguliert sie auch sein mögen, immer gebunden an den Konsens der Staatsbürger, der die zunehmende Freisetzung der Märkte zum Wohle aller gutheißt – oder eben nicht.
Demokratische Willensbildung
Die Geschichte der Märkte ist eine Geschichte der Ordnungspolitik…
… und das heißt modern: Marktwirtschaft ist an die Geschichte der demokratischen Willensbildung gebunden. Die Bürger entscheiden, wie restriktiv oder nicht-restriktiv sie ihre Märkte einrichten wollen. Im Falle der Finanzmärkte ist die Deregulierung eindeutig zu radikal ausgefallen. Es ist gut, dass das jetzt korrigiert wird…
… und zwar ohne die Marktwirtschaft als solche in Frage zu stellen.
Jedenfalls tun das die meisten nicht. Wobei ich schon feststelle, dass es wieder so etwas wie einen Schickeria-Marxismus gibt, eine gewisse Lust an genereller Kapitalismus-Kritik, am Untergang des Systems. Es geht aber doch darum, die spezifischen Bedingungen, unter denen eine bestimmte Variante des Kapitalismus diesen selbst schädigt, zu identifizieren – und diese Bedingungen zu ändern.
Wie weit darf die Re-Regulierung aus moralischer Sicht gehen?
Es geht bei der Regulierung darum, den Wirtschaftenden ihre Eigeninteressiertheit an Moral anzudemonstrieren. Dabei ist Eigeninteresse unter dem Gesichtspunkt der Moral natürlich zu wenig. Ein wirklich moralisches Individuum ist man nur, wenn man moralisch um der Moral willen ist, das heißt: wenn man eingesehen hast, dass man gut handeln soll – und es nicht nur tut, wenn es einem nützt.
Sind Sie optimistisch, was die zunehmende Verbreitung einer solchen Moral betrifft?
Es spricht viel dafür, dass diese Moral heute weiter verbreitet ist, als die meisten glauben. Was zum Beispiel die Attraktivität der Menschenrechte anbetrifft, so bin ich optimistisch. Sie erschließt sich jedem aufgrund bloßer Erfahrungen – und zwar ganz unabhängig von seinem religiösen oder kulturellen Umfeld. Die Revolutionen in der arabischen Welt zeigen das exemplarisch.
Mag sein. Aber hat die Beachtung der Menschenrechte auch in Deutschland Fortschritte gemacht?
Unbestreitbar ist, dass die Sensibilität für Verstöße gegen die Menschenwürde in Deutschland – etwa in Bezug auf Gewalt gegen Kinder – in den vergangenen Jahren stark zugenommen hat. Die Autonomie des Individuums, Berührung willkommen zu heißen oder nicht, wird mehr denn je als Wert empfunden.
Dagegen spricht, dass zum Beispiel die Prostitution ein weit verbreitetes Phänomen bleibt.
Ja. Aber Verstöße gegen die Menschenwürde sind kein Argument gegen den Wert der Menschenwürde. Ich würde sogar umgekehrt sagen: Werte drücken nicht aus, was ist. Sie sensibilisieren für Missstände. Wenn man unter dem Gesichtspunkt eines neuen oder neuerdings stärker akzentuierten Wertes auf die Welt blickt, dann blickt man anders auf diese Welt. Man findet Missstände, die vorher gar nicht als Missstände bewusst waren.
Faktoren des Wertewandels
Ein Zuwachs an Sensibilisierung führt – rückblickend – zu einem Zuwachs an Missständen?
Die zunehmende Sensibilisierung wirft jedenfalls ein immer neues Licht auf die Vergangenheit. Denken Sie nur an die Frauenbewegung. Sie hat dazu geführt, dass wir die Geschichte heute in einem ganz anderen Licht sehen als noch vor drei, vier Jahrzehnten – nämlich immer auch aus dem Blickwinkel des Wertes der Gleichberechtigung der Geschlechter.
Welche Faktoren bestimmen einen Wertewandel?
Wandlungsprozesse spielen sich in einem Dreieck von Werten, Institutionen und Praktiken ab. In der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik zum Beispiel haben zunächst auf der Ebene der Institutionen Veränderungen stattgefunden, die nicht wirklich gedeckt waren von den Wertüberzeugungen und Praktiken der meisten Deutschen dieser Zeit. Das heißt: Die Deutschen haben mit 20jähriger Verspätung den Geist des Grundgesetzes eingeholt. Es kommt aber auch vor, dass eine Debatte über das Gute rechtlichen Veränderungen vorangeht. Oder dass sich Verhaltensweisen ohne große gesellschaftliche Diskussion oder Rechtsetzungen wandeln. Die Folter etwa wurde beinahe in aller Stille abgeschafft, ganz einfach, weil die Leute im 18. Jahrhundert es zunehmend unerträglich fanden, Marter zu zelebrieren.
Was aber, wenn das moralisch Verwerfliche aus dem Blick gerät? Wenn es ausgelagert wird – zum Beispiel in die Textilfabriken Bangladeschs?
Das moralisch Verwerfliche kann heute weniger denn je dem Blick der Öffentlichkeit völlig entzogen werden. Dass es derzeit eine Debatte über die Herkunft von unfassbar billigen Textilien gibt, wird zunächst einmal von der schieren Evidenz ihrer Billigkeit begünstigt: Jeder, der ein T-Shirt für fünf Euro einkauft, ahnt, dass das nicht mit rechten Dingen, oder genauer: mit fairen Mitteln zugehen kann. Wenn dann rauskommt, dass das T-Shirt tatsächlich unter schrecklichen Arbeitsbedingungen hergestellt wird, wird diese Ahnung konkret. Dann gibt es plötzlich einen Konnex zwischen dem moralisch abgelehnten Phänomen und mir – und dann sage ich vielleicht: Dieses T-Shirt kaufe ich nicht.
Oder ich empöre mich kurz, schimpfe auf den Kapitalismus – und versuche die Bilder von brennenden Fabriken beim nächsten Einkauf aus dem Kopf zu bekommen.
Die moralische Empörung ist zunächst einmal nicht schlecht. Aber natürlich kann sie verpuffen. So ist das halt. Ich würde da nicht moralistisch reden. Man kann nicht verlangen, dass jetzt jeder zu C&A oder H&M geht und eine Grundsatzdebatte vom Zaun bricht. Man darf die Konsumenten auch nicht überfordern. Statt dessen würde ich auch hier auf institutionelle Regelungen setzen.
Der Staat soll’s richten?
(lacht): Nicht richten. Aber die Wirtschaft mit guten Gesetzen daran erinnern, dass etwa die Einhaltung von Sozialstandards auch in ihrem Interesse ist – das darf er schon.