Aus gemeinsamen Werten entstehen gemeinsame Normen?
Ich unterscheide Werte als attraktiv und Normen als restriktiv. Aber nur aus analytischen Gründen. Denn in der Wirklichkeit entlassen alle attraktiven Werte natürlich aus sich heraus Normen. Wenn ich etwa einen Menschen liebe, fühle ich mich von diesem Menschen angezogen. Wenn ich aber dann in einer Liebesbeziehung zu ihm stehe, hat das natürlich restriktive Konsequenzen. Kurz gesagt: Ich binde mich freiwillig – und fühle mich dann gebunden. Das gilt auch für abstrakte moralische Gehalte. Fühle ich mich an einen Wert durch seine Attraktivität gebunden, heißt das zugleich, dass ich in einem normativen Sinn viele Handlungen zu unterlassen habe, die mit diesem Wert nicht übereinstimmen.
Das würde bedeuten, dass es einen Werteverfall gar nicht geben kann.
Es ist produktiver, von Wertewandel zu sprechen, zu bilanzieren, wo neue Sensibilisierungen entstehen oder ein schon erreichtes Niveau unterschritten wird.
Im Dostojewski-Roman “Die Brüder Karamasow” fällt der schöne Satz: “Ohne Gott ist alles erlaubt.”
Eine verbreitete Auffassung. Ich halte sie für falsch. Mehr noch: Wer heute sagt, “Wo kein Glaube ist, ist keine Moral”, ist ein Pharisäer. Denn er sagt ja eigentlich: Vielen Dank, lieber Gott, dass ich der bessere Mensch als dieser Ungläubige bin. Das halte ich als Christ für anstößig. Nein, ich würde sogar sagen, dass der moralische Universalismus derzeit an Kraft gewinnt. Dafür spricht auch, dass heute sehr viele Menschen leidenschaftlich an einer säkularen Moral interessiert sind.
Finden Sie? Ist es nicht vielmehr so, dass sich die Moral in unendlich viele Gruppenethiken auflöst? Steuerflüchtlinge etwa fühlen sich unter ihresgleichen auf der moralisch richtigen Seite.
Sicher, es gibt gewisse Milieus, in denen Normverstöße zur Regel geworden sind – wer wollte es bezweifeln? Steuerfahnder berichten, dass sie bei ihren Hausdurchsuchungen auf Leute treffen, die nicht etwa moralisch erschrecken, wenn sie ertappt sind, sondern nur sagen: Pech gehabt. Offensichtlich ist für diese Leute das Verfolgen des eigenen Vorteils eine buchstäblich wertfreie Normalstrategie, die erfolgreich sein kann oder nicht. Aber das ändert nichts an dem Befund, dass die Sensibilität für solches Fehlverhalten insgesamt eher gestiegen ist.
Gilt das auch für den homo oeconomicus der modernen Geschäftswelt? Ist der wirklich an Moral interessiert? Muss er es sein? Und überhaupt: Brauchen Märkte eine Seele?
Märkte sind nichts Ursprüngliches, sondern kulturell und rechtlich institutionalisiert. Es handelt sich bei ihnen nicht um natürliche Freiheitsbezirke, in denen freie Wirtschaftssubjekte ihren Tauschinteressen nachgehen und autonom darüber zu befinden hätten, ob die Moral hier eine Rolle spielen dürfe. Nein, es ist genau umgekehrt: Märkte sind im gesellschaftlichen Konsens freigegebene Räume zur Verfolgung von wirtschaftlichen Eigeninteressen. Märkte sind in einem historischen Prozess der bewussten Deregulierung entstanden. Deshalb bleiben sie, so dereguliert sie auch sein mögen, immer gebunden an den Konsens der Staatsbürger, der die zunehmende Freisetzung der Märkte zum Wohle aller gutheißt – oder eben nicht.