Sozialphilosoph Hans Joas "Die Lust an genereller Kapitalismuskritik ist zurück"

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Triumphzug der Rationalität

Das Geschäft mit dem Papst
Papst-GolfDer VW Golf des einstigen Kurienkardinals Josef Ratzinger machte den Anfang. Der Zivildienstleistende Benjamin Halbe aus dem nordrhein-westfälischen Olpe bot den gebrauchten, grauen Fünf-Türer samt Sportfelgen kurz nach der Papst-Wahl bei ebay an. Ein Online-Casino in den USA kaufe den Volkswagen für unglaubliche 190.000 Euro. Quelle: dpa
PapstbierFritz Weideneder aus dem niederbayerischen Tann klebte nach der Wahl Josef Ratzingers zum Papst das neue Oberhaupt auf seine Bierflaschen – und ließ sich das „Papstbier“ schützen. Rund 10.000 Kisten verkaufte er in den ersten Amtsjahres Ratzingers, teilweise bis nach Mexiko und Brasilien. Inzwischen ist der Hype etwas abgeflaut.   Quelle: dpa
Deutschland-BesuchIm Herbst 2011 besuchte Benedikt XVI. Deutschland. Der Auftritt des Papstes in seinem Heimatland wurde von der katholischen Kirche große vermarktet. In dem „offiziellen Shop zum Papstbesuch 2011“ konnten Ratzinger-Fans konnten dort unter anderem Papst-Kerzen für 4,95 Euro oder auch Gedenkmedaille aus Gold für 134,90 Euro kaufen. Quelle: dpa
HolzbänkeAuch die katholische Kirche in Freiburg nutzte den Papst-Besuch, um etwas Geld in die Kassen zu spülen. Das Erzbistum hatte sich entschieden, die sonst üblichen Plastikstühle für die 100.000 Besuchern des Papstgottesdienstes durch Holzbänke zu ersetzen – und die später für 410 Euro das Stück zu verkaufen. 5.000 Holzbänke wurden verkauft. 30 Euro je Bank kamen der Entwicklungshilfe zugute. Quelle: dpa
Papst-TaschenNachhaltig sind auch die Papsttaschen der Erzdiözese Freiburg. 2400 Schultertaschen wurden aus den Kunststoffplanen der Altarbühne genäht. Der Preis: 95 Euro zuzüglich Versandkosten. 10 Euro davon werden an Bedürftige in Ostafrika gespendet. Quelle: dpa
Papst-EisDer Freiburger Paulo Martins kredenzte für den 2011er-Papstbesuch in seinem Eis-Café eigens die Sorte „Benedikt XVI“. Stolze fünf Liter verkauft er pro Tag von der Melange aus Vanille-Butterkeks, Orange und Schoko. Doch es geht noch kreativer. Das beweisen… Quelle: dpa
Ratzefummel… die Betreiber der Internetseite ratzefummel.eu. Sie verkaufen „Deutschlands berühmtester Radiergummi“ für zwei Euro pro Stück. Quelle: dpa

Sondern? Wenn nicht der Triumphzug der Rationalität das große Thema der Zeit war – was dann? 

Ich spreche in meinen Arbeiten von der Sakralität der Person, wie sie in den Kodifikationen der Menschenrechte zum Ausdruck kommt. In Nordamerika und in Frankreich geschahen politische Umwälzungen, in denen zum ersten Mal behauptet wurde, dass alle Menschen aufgrund der bloßen Tatsache, dass sie Mensch sind, Rechte gegen den Staat haben, und der Staat verpflichtet sei, diese nicht von ihm verliehenen, sondern nur vorgefundenen Rechte zu garantieren. Das ist ein epochaler Vorgang…

…dessen kulturgeschichtliche Wurzeln aber doch weit vorher, im Naturrechtsgedanken**, liegen. 

Sicher. Aber erst durch die Selbstbindung des Staates wird die Moral des Naturrechts – die dem positiven Recht bis dahin entgegengesetzt war – hereingeholt in die politische Wirklichkeit.

Und was ist mit den Religionen? Deren Toleranzgebote reichen weit zurück bis ins Mittelalter.

Wir müssen die pragmatische Geschichte der Religionsfreiheit von ihrer religiösen Geschichte trennen. Natürlich kann ein Herrscher jederzeit sagen – und das ist tatsächlich oft der Fall gewesen: Warum sollen wir Leute, die einen anderen Glauben haben, vergrätzen, wenn sie uns ökonomisch nützen? Das ist aber prinzipiell etwas anderes, als wenn jemand sagt: Ich fühle mich aus religiösen Motiven verpflichtet, für die Religionsfreiheit nicht nur der Angehörigen meines Glaubens einzutreten, sondern auch für die Religionsfreiheit der Angehörigen eines konkurrierenden Glaubens. Diese Entwicklung ist vor allem für die amerikanische Geschichte von eminenter Bedeutung.

Die größten Hilfsprojekte 2011
Erdbeben auf Haiti Quelle: dpa
Cholera auf Haiti Quelle: Reuters
Tsunami und Atomkatastrophe in JapanAm 11. März 2011 ereignet sich vor der Küste Japans ein Seebeben mit der Stärke 9,0. Es löst eine Tsunamiwelle aus, die die Ostküste auf einer Länge von 700 Kilometern verwüstet. Bis zu 40 Meter hoch sind die Wellen, die bis weit ins Landesinnere für Chaos sorgen. Die schlimmste Folge: In den Atomkraftwerken von Fukushima fällt das Kühlsystem für die Brennelemente aus. In zwei Reaktoren kommt es zu einer Kernschmelze. Bis heute ist unklar, wie groß das verstrahlte Gebiet tatsächlich ist. Die internationale Hilfe rollt unmittelbar an: Die Caritas verteilt allein zwischen dem 13. März und 25. April Hilfsgüter an 45.000 Katastrophen-Opfer. In Laufe des Jahres 2011 unterstützt die kirchliche Organisation Kleinunternehmer, die ihre Geschäfte an der Küste verloren haben und damit ihrer Existenzgrundlage beraubt wurden. Auch die UNICEF, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen ist vor Ort. Eine Ausnahme, denn .... Quelle: dpa
UNICEF Nothilfe in Fukushima Quelle: dpa
Bürgerkrieg in Libyen Quelle: Reuters
Flut und Monsun in Pakistan Quelle: dpa
Hungerkrise am Horn von Afrika Quelle: dapd

Die Religion wäre demnach kein Opfer der Aufklärung und ihrer Vernunftmoral, sondern ihr Schubverstärker.

Nein, Religion ist vielerlei und findet sich oft auf beiden Seiten von Kontroversen. Aber die Geschichte der Menschenrechte ist jedenfalls kein Sieg der europäischen Rationalität, sondern eine globale, ungeheuer facettenreiche Geschichte der Sakralisierung der Person. Diese manifestiert sich prozesshaft, zum Beispiel in der schleichenden Abwendung von Folter und Sklaverei, in einer dichten Folge von politischen Deklarationen, in der Geschichte der Religionsfreiheit – und nicht zuletzt in einer moralischen Reaktion auf die Ausweitung des Welthandels: Der Kapitalismus brachte einen enormen Fortschritt an humanitärer Sensibilität mit sich. Bereits vor mehr als 200 Jahren stellten Konsumenten in Europa die Frage nach den Bedingungen, unter denen die Genussprodukte der Zeit – wie Zucker und Kakao – gewonnen wurden. Und dabei stießen auf die Rolle der Sklavenarbeit.

Also ist der moralische Universalismus doch auf europäischem Boden entstanden.

Auch auf europäischem Boden – wer wollte das bestreiten? Aber eben nicht nur. Hinzu kommt, dass Europa ganz gewiss nicht der Kontinent ist, der seinen eigenen Wertsetzungen kontinuierlich entspricht. Europa - das ist auch der Mutterboden von Kolonialismus, Imperialismus, Totalitarismus.

** Der Gedanke, dass der Mensch von Natur aus mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet ist, die dem positiven, gesetzten Recht übergeordnet sind.

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