Sondern? Wenn nicht der Triumphzug der Rationalität das große Thema der Zeit war – was dann?
Ich spreche in meinen Arbeiten von der Sakralität der Person, wie sie in den Kodifikationen der Menschenrechte zum Ausdruck kommt. In Nordamerika und in Frankreich geschahen politische Umwälzungen, in denen zum ersten Mal behauptet wurde, dass alle Menschen aufgrund der bloßen Tatsache, dass sie Mensch sind, Rechte gegen den Staat haben, und der Staat verpflichtet sei, diese nicht von ihm verliehenen, sondern nur vorgefundenen Rechte zu garantieren. Das ist ein epochaler Vorgang…
…dessen kulturgeschichtliche Wurzeln aber doch weit vorher, im Naturrechtsgedanken**, liegen.
Sicher. Aber erst durch die Selbstbindung des Staates wird die Moral des Naturrechts – die dem positiven Recht bis dahin entgegengesetzt war – hereingeholt in die politische Wirklichkeit.
Und was ist mit den Religionen? Deren Toleranzgebote reichen weit zurück bis ins Mittelalter.
Wir müssen die pragmatische Geschichte der Religionsfreiheit von ihrer religiösen Geschichte trennen. Natürlich kann ein Herrscher jederzeit sagen – und das ist tatsächlich oft der Fall gewesen: Warum sollen wir Leute, die einen anderen Glauben haben, vergrätzen, wenn sie uns ökonomisch nützen? Das ist aber prinzipiell etwas anderes, als wenn jemand sagt: Ich fühle mich aus religiösen Motiven verpflichtet, für die Religionsfreiheit nicht nur der Angehörigen meines Glaubens einzutreten, sondern auch für die Religionsfreiheit der Angehörigen eines konkurrierenden Glaubens. Diese Entwicklung ist vor allem für die amerikanische Geschichte von eminenter Bedeutung.
Die Religion wäre demnach kein Opfer der Aufklärung und ihrer Vernunftmoral, sondern ihr Schubverstärker.
Nein, Religion ist vielerlei und findet sich oft auf beiden Seiten von Kontroversen. Aber die Geschichte der Menschenrechte ist jedenfalls kein Sieg der europäischen Rationalität, sondern eine globale, ungeheuer facettenreiche Geschichte der Sakralisierung der Person. Diese manifestiert sich prozesshaft, zum Beispiel in der schleichenden Abwendung von Folter und Sklaverei, in einer dichten Folge von politischen Deklarationen, in der Geschichte der Religionsfreiheit – und nicht zuletzt in einer moralischen Reaktion auf die Ausweitung des Welthandels: Der Kapitalismus brachte einen enormen Fortschritt an humanitärer Sensibilität mit sich. Bereits vor mehr als 200 Jahren stellten Konsumenten in Europa die Frage nach den Bedingungen, unter denen die Genussprodukte der Zeit – wie Zucker und Kakao – gewonnen wurden. Und dabei stießen auf die Rolle der Sklavenarbeit.
Also ist der moralische Universalismus doch auf europäischem Boden entstanden.
Auch auf europäischem Boden – wer wollte das bestreiten? Aber eben nicht nur. Hinzu kommt, dass Europa ganz gewiss nicht der Kontinent ist, der seinen eigenen Wertsetzungen kontinuierlich entspricht. Europa - das ist auch der Mutterboden von Kolonialismus, Imperialismus, Totalitarismus.
** Der Gedanke, dass der Mensch von Natur aus mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet ist, die dem positiven, gesetzten Recht übergeordnet sind.