Soziologe Wolfgang Streeck "Das kann nicht gutgehen mit dem Kapitalismus"

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"Es entsteht keine neue Ordnung, sondern nur neue Unordnung"

Heute dagegen ist den meisten Menschen, nicht nur Ökonomen, der Gedanke an ein grundsätzliches Scheitern des Kapitalismus fremd.

Die drei Jahrzehnte nach dem Krieg prägen unser Bild einer halbwegs demokratischen, einigermaßen stabil funktionierenden kapitalistischen Gesellschaft bis heute. Aber wenn man weiter zurückblickt, wird der absolute Ausnahmecharakter dieser Epoche klar. Vorher ein halbes Jahrhundert Chaos, hinterher dreißig Jahre ein Ritt auf Messers Schneide, von der wir 2008 beinahe ganz abgerutscht wären. Nach der Großen Depression war der Kapitalismus so gut wie am Ende; nur der Krieg und sein Ausgang haben ihn wieder möglich gemacht. Allerdings wohl kaum für immer. Wenn wir heute verstehen wollen, was um uns herum stattfindet, benötigen wir einen realistischen Blick auf Übergangszeiten, Zerfallszeiten, die Agonie von Gesellschaftssystemen. Man muss mit Analogien sehr vorsichtig sein. Aber aus der Geschichte des Niedergangs des Römischen Reiches kann man vielleicht lernen, wie in Übergangsphasen ein Zustand der Rat- und Regellosigkeit eintritt. Das Leben in den Provinzen verliert seine Sicherheit gewährende Struktur, weil das Imperium mit seinen Legionen es nicht mehr schützen kann. Die Leute müssen selber sehen, wie sie zurechtkommen.

Die größten Ökonomen
Adam Smith, Karl Marx, John Maynard Keynes und Milton Friedman: Die größten Wirtschafts-Denker der Neuzeit im Überblick.
Gustav Stolper war Gründer und Herausgeber der Zeitschrift "Der deutsche Volkswirt", dem publizistischen Vorläufer der WirtschaftsWoche. Er schrieb gege die große Depression, kurzsichtige Wirtschaftspolitik, den Versailler Vertrag, gegen die Unheil bringende Sparpolitik des Reichskanzlers Brüning und die Inflationspolitik des John Maynard Keynes, vor allem aber gegen die Nationalsozialisten. Quelle: Bundesarchiv, Bild 146-2006-0113 / CC-BY-SA
Der österreichische Ökonom Ludwig von Mises hat in seinen Arbeiten zur Geld- und Konjunkturtheorie bereits in den Zwanzigerjahren gezeigt, wie eine übermäßige Geld- und Kreditexpansion eine mit Fehlinvestitionen verbundene Blase auslöst, deren Platzen in einen Teufelskreislauf führt. Mises wies nach, dass Änderungen des Geldumlaufs nicht nur – wie die Klassiker behaupteten – die Preise, sondern auch die Umlaufgeschwindigkeit sowie das reale Produktionsvolumen beeinflussen. Zudem reagieren die Preise nicht synchron, sondern in unterschiedlichem Tempo und Ausmaß auf Änderungen der Geldmenge. Das verschiebt die Preisrelationen, beeinträchtigt die Signalfunktion der Preise und führt zu Fehlallokationen. Quelle: Mises Institute, Auburn, Alabama, USA
Gary Becker hat die mikroökonomische Theorie revolutioniert, indem er ihre Grenzen niederriss. In seinen Arbeiten schafft er einen unkonventionellen Brückenschlag zwischen Ökonomie, Psychologie und Soziologie und gilt als einer der wichtigsten Vertreter der „Rational-Choice-Theorie“. Entgegen dem aktuellen volkswirtschaftlichen Mainstream, der den Homo oeconomicus für tot erklärt, glaubt Becker unverdrossen an die Rationalität des Menschen. Seine Grundthese gleicht der von Adam Smith, dem Urvater der Nationalökonomie: Jeder Mensch strebt danach, seinen individuellen Nutzen zu maximieren. Dazu wägt er – oft unbewusst – in jeder Lebens- und Entscheidungssituation ab, welche Alternativen es gibt und welche Nutzen und Kosten diese verursachen. Für Becker gilt dies nicht nur bei wirtschaftlichen Fragen wie einem Jobwechsel oder Hauskauf, sondern gerade auch im zwischenmenschlichen Bereich – Heirat, Scheidung, Ausbildung, Kinderzahl – sowie bei sozialen und gesellschaftlichen Phänomenen wie Diskriminierung, Drogensucht oder Kriminalität. Quelle: dpa
Jeder Student der Volkswirtschaft kommt an Robert Mundell nicht vorbei: Der 79-jährige gehört zu den bedeutendsten Makroökonomen des vergangenen Jahrhunderts. Der Kanadier entwickelte zahlreiche Standardmodelle – unter anderem die Theorie der optimalen Währungsräume -, entwarf für die USA das Wirtschaftsmodell der Reaganomics und gilt als Vordenker der europäischen Währungsunion. 1999 bekam für seine Grundlagenforschung zu Wechselkurssystemen den Nobelpreis. Der exzentrische Ökonom lebt heute in einem abgelegenen Schloss in Italien. Quelle: dpa
Der Ökonom, Historiker und Soziologe Werner Sombart (1863-1941) stand in der Tradition der Historischen Schule (Gustav Schmoller, Karl Bücher) und stellte geschichtliche Erfahrungen, kollektive Bewusstheiten und institutionelle Konstellationen, die den Handlungsspielraum des Menschen bedingen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. In seinen Schriften versuchte er zu erklären, wie das kapitalistische System  entstanden ist. Mit seinen Gedanken eckte er durchaus an: Seine Verehrung und gleichzeitige Verachtung für Marx, seine widersprüchliche Haltung zum Judentum. Eine seiner großen Stärken war seine erzählerische Kraft. Quelle: dpa
Amartya Sen Quelle: dpa

Jetzt klingen Sie fast wie Oswald Spengler mit seinem „Untergang des Abendlandes“.

Keine Sorge. Spengler glaubte, dass Zivilisationen wie Pflanzen sind, die keimen, aufblühen und dann, nach rund 900 Jahren, absterben. Das ist natürlich Unsinn. Aber es darf uns nicht am Nachdenken darüber hindern, wie die gegenwärtige Gesellschaftsordnung enden und was nach ihr kommen könnte. Bezogen auf unsere Epoche würde ich hervorheben, dass eine Gesellschaft in dem Maße untergeht, wie sie das Leben ihrer Mitglieder nicht mehr ordnen, strukturieren, berechenbar machen kann – mit dem französischen Soziologen Émile Durkheim, wie sie anomisch wird.

Wie zeigt sich dieser Niedergang der gesellschaftlichen Unsicherheit in Ihren Augen konkret?

Ein Beispiel ist die abnehmende Gestaltungskraft des Arbeitsmarktes für die Lebensführung. Niemand kann sich mehr auf seinen Job verlassen. Jeder muss ständig improvisationsbereit sein. Der Einzelne muss sich sozusagen mit Humankapital bis an die Zähne bewaffnen, weil das System nicht für seine Sicherheit sorgen kann. Wo der Kapitalismus zur Gesellschaftsordnung wird, kann er nicht mehr nur eine Wirtschaftsweise sein, sondern muss zu einem Mechanismus der Strukturierung des Lebens werden. Doch darauf ist kein Verlass mehr. Der Wandel ist so schnell geworden, dass viele nicht mehr mitkommen können. In allen europäischen Ländern verstehen immer mehr Menschen nicht mehr, was um sie herum vorgeht. Und vor allem verstehen sie die Politik nicht mehr, weshalb sie auch nicht mehr wählen gehen.

Und die Politik hat es nicht mehr in der Hand, das zu ändern?

Was soll denn ein Politiker versprechen? Wenn er ehrlich ist, kann er doch nur sagen: Leute, seid bereit für alles; helft euch selber: optimiert euch! Ihr müsst euch drauf einstellen, dass ihr heute für einen Beruf lernt, den es in ein paar Jahren gar nicht mehr gibt. Die Welt wird zum Abenteuerspielplatz, das können wir nicht verhindern. Aber Abenteuer können doch auch Spaß machen. Have fun! Die hohe Kunst der Politik besteht zunehmend darin, so zu tun, als habe sie die Kontrolle, obwohl alle wissen, dass ständig alles Mögliche passieren kann und auf nichts Verlass ist.

Und was ist mit neuen politischen Bewegungen?

Für die Linke wird es zu einem existentiellen Problem, dass Leute, die früher links gewesen wären, heute wegen der Verschwisterung von linkem Internationalismus und Kapitalinternationalismus nach rechts rücken. Die zunehmende Unsicherheit wird sehr viele lokale Bewegungen in Gang setzen, einige davon sehr hässlich. Wenn die Wahlbeteiligung sinkt, steigt der Stimmenanteil der radikaleren Parteien. Leute wie Wilders in den Niederlanden oder die Schwedendemokraten werden dadurch stärker, dass die anderen nicht wählen. Man kann aber nicht damit rechnen, dass die neuen Bewegungen instrumentelle Antworten auf die Probleme liefern. Auch, weil sie von der etablierten Politik ausgegrenzt und dadurch auf Protest reduziert werden. Es entsteht keine neue Ordnung, sondern nur neue Unordnung.

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