Fratzscher: Sie gehen davon aus, dass die Märkte funktionieren und die Löhne die Produktivität der Arbeitskräfte widerspiegeln. Viele Unternehmen zahlen aber Löhne, die unter der Produktivität liegen. In diesen Fällen bewirkt der Mindestlohn, dass sich die Löhne der Produktivität annähern, ohne Arbeitsplätze zu gefährden. Zudem können die Unternehmen durch Investitionen die Produktivität ihrer Arbeitskräfte erhöhen. Eine Ausweitung staatlicher Transfers, wie Sie sie vorschlagen, kann keine langfristige Lösung sein, denn die Menschen, die ihr Lohneinkommen mit staatlichen Transfers aufstocken, können auch davon keine vernünftige Altersvorsorge aufbauen, und die Altersarmut wird weiter steigen.
Sinn: Dass die meisten Arbeitskräfte ihren Job trotz Mindestlohn behalten, heißt doch nicht, dass dieser unschädlich ist. Entscheidend sind die Grenzanbieter, also diejenigen, deren Produktivität unter dem Mindestlohn liegt. Die werden ihren Job verlieren und landen dann in der von Ihnen beklagten Altersarmut. Denen nutzt der höhere Lohn nichts, weil sie durch ihn ihren Job verlieren.
Die Bundesregierung plant auch die Rente mit 63 und die Begrenzung der Zeitarbeit. Dagegen deregulieren Krisenländer wie Spanien ihre Arbeitsmärkte, um sich wieder fit zu machen. Wird Deutschland zum nächsten Spanien?
Fratzscher: Die Zukunftschancen der deutschen Wirtschaft sind bei Weitem nicht so gut, wie viele dies glauben wollen. Unsere Wirtschaft ist in den vergangenen 15 Jahren nur sehr gering und in den letzten beiden Jahren nur um 0,4 beziehungsweise 0,7 Prozent gewachsen. In diesem Jahr dürfte die Rate bei knapp zwei Prozent liegen – eine Aufholreaktion nach zwei schwachen Vorjahren. Die gesamtwirtschaftliche Produktivität ist schon länger schwach, wir haben eine der niedrigsten Investitionsquoten weltweit. Daher ist es problematisch, wenn wir jetzt das Rad der Reformen vor allem in der Rentenpolitik zurückdrehen. Ohne die Reformen hätten wir bis 2017 rund 20 Milliarden Euro Überschüsse in den öffentlichen Kassen. Das Geld könnten wir gut für Investitionen in die Bildung sowie die Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur gebrauchen.
Sinn: Die staatliche Infrastruktur in Deutschland verkommt, die Nettoinvestitionen sind seit Jahren negativ. Nach Artikel 115 Grundgesetz, der die Kreditaufnahme des Staates auf die Höhe der Investitionen begrenzt, hätten wir eigentlich gar keine Kredite mehr aufnehmen dürfen, sondern Schulden tilgen müssen. Wir vererben unseren Kindern einen mangelhaften Kapitalstock, hohe Staatsschulden und ungedeckte Forderungen aus der Euro-Rettung. Es zeigt sich, dass wir ein ausgewachsenes Demokratieproblem haben. Der Staat verteilt Geschenke an die älteren Wähler und vernachlässigt die Zukunft, weil die Kinder noch nicht wählen können. Es ist ein Konstruktionsfehler unseres Systems, dass die Eltern bei Wahlen kein Stimmrecht für ihre Kinder haben.
Fratzscher: Wir sollten unsere Staatsfinanzen nicht schlechtreden. Verglichen mit anderen Industrieländern, hat Deutschland durchaus Konsolidierungserfolge vorzuweisen. Seit 2012 erwirtschaften wir Überschüsse im Staatshaushalt. Das Problem besteht darin, dass wir die Überschüsse zu wenig für Investitionen in die Zukunft und für zukünftige Generationen ausgeben. Wir sollten uns daher fragen, welche Staatsausgaben sinnvoll sind und welche nicht. Die Rente mit 63 und die Mütterrente hilft auch zu selten den Menschen, die am bedürftigsten sind.