Systemkritik Kapitalismus in der Reichtumsfalle

Mehr Schulden statt mehr Wohlstand – das Wirtschaftssystem, wie wir es kennen, funktioniert nicht mehr gut. Warum es sich lohnt, nach Alternativen zu fragen.

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Eine Frau läuft an einem Gucci-Plakat vorbei Quelle: REUTERS

Viele Tausend Jahre vor Beginn der großen Finanzkrise lebte in der Wüste Kalahari in Südwestafrika das Volk der !Kung*. Zähe, klein gewachsene Männer und Frauen waren das, die Antilopen und Zebras mit vergifteten Pfeilen töteten. Bevor sie das Fleisch aßen, verteilten sie es. Die Beute des einen gehörte auch den anderen, so war das bei den !Kung.

Anfang der 1980er Jahre lebten die !Kung noch immer in der Kalahari. Auch sonst hatte sich dort wenig verändert. Der Rest der Welt hatte das Auto, die Atombombe und den Aktienhandel erfunden. Die !Kung schossen noch immer ihre Pfeile ab. Noch immer waren sie es gewohnt, zu teilen. Aber nicht mehr lange.

Wenig später meldete ein amerikanischer Anthropologe gravierende Neuigkeiten aus den Dörfern der !Kung. Die Jäger blieben zu Hause, die Hütten standen jetzt so, dass die Nachbarn nicht mehr hineinsehen konnten, fast jede Familie hatte sich eine Kiste angeschafft, in der sie ihr Eigentum aufbewahrte. An den Kisten hingen Schlösser.

Was genau war geschehen?

Nicht viel. Die Regierung von Botswana hatte begonnen, Handel mit den !Kung zu treiben. Die Marktwirtschaft war in die Kalahari gekommen, ein kleines, bis dahin überaus genügsames Volk hatte Gefallen am Eigentum gefunden, das war alles.

Für die !Kung war es der Anfang vom Kapitalismus. Für uns war es der Anfang vom Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen.

Um das zu verstehen, hilft es, ein Bild heranzuziehen, das der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter im Jahr 1942 kreierte, um das Wesen des Kapitalismus zu beschreiben. Es ist das Bild der Maschine. Ein durchaus passendes Bild, war der Aufstieg der Marktwirtschaft doch untrennbar mit technischen Erfindungen verknüpft, mit Dampfmaschinen, Lokomotiven, Hochöfen, Fließbändern. Da liegt es nahe, das ganze System als eine einzige große Maschine zu begreifen. Eine Maschine, die Dinge erzeugt, immer mehr davon, von Jahr zu Jahr.

Der Durchschnittsdeutsche von heute besitzt: Fernseher, Bücher, Möbel, Digitalkamera, Elektroherd, Waschmaschine, Mobiltelefon, Auto, Computer. Insgesamt: 10.000 Gegenstände. Die Maschine war ziemlich erfolgreich.

* Das Ausrufezeichen steht für einen Klicklaut. Die Sprache der !Kung enthält viele solche Laute.

Der Wohlstand in Deutschland ist geborgt

Die Schuldenuhr, am Gebäude vom Bund der Steuerzahler in Berlin: Der Wohlstand in Deutschland wurde bereits vor der Krise mit neuen Schulden erkauft. Man hat ihn sich geborgt. Das Wachstum ist ein Scheinwachstum. Quelle: dapd

Damit sie weiterlaufen kann, damit die Unternehmen weitere, neue Dinge produzieren, brauchen sie Menschen, die sie ihnen abkaufen. In diesem Sinne bekam die große Maschine Ende der achtziger Jahre neuen, ungeahnten Schwung. Nach dem Mauerfall breitete sich der Kapitalismus rund um die Welt aus, bis in den letzten Winkel Osteuropas, Asiens, Afrikas, und überall fand er: neue Märkte. Er kam zu den Ukrainern und Rumänen, Indern und Chinesen, Vietnamesen und Kambodschanern. Und zu den !Kung.

Seit seiner Entstehung in den Industrieländern Europas und Nordamerikas hat sich der Kapitalismus in mehreren Schüben um den Globus verbreitet. Immer waren diese Expansionsphasen mit hohem Wirtschaftswachstum verbunden. Nun, da die Marktwirtschaft endgültig gesiegt hatte, war es keine Überraschung, dass die kapitalistische Maschine in den Industrieländern erneut auf Hochtouren lief. Dass die Wirtschaft so stark wuchs wie nie zuvor.

Besser gesagt: Es wäre keine Überraschung gewesen. Aber es ist nicht geschehen. Das Gegenteil ist eingetreten, etwas Seltsames, völlig Unerwartetes: Die kapitalistische Maschine der großen Industrieländer funktioniert nicht mehr richtig.

Es gibt einen Geldbetrag, der das sehr gut veranschaulicht: 381 Milliarden Euro. Er beziffert den Zuwachs des deutschen Bruttoinlandsprodukts in den Jahren 2000 bis 2007, also noch vor Beginn der Finanzkrise, ermittelt vom Statistischen Bundesamt. Umgerechnet auf die 82 Millionen Bundesbürger bedeutet das: Das Einkommen des durchschnittlichen Deutschen ist in diesen Jahren um 4.646 Euro gestiegen. Das ist weniger als früher, aber man soll ja nicht gierig sein. 4.646 Euro, davon kann man sich schon ein paar weitere Dinge kaufen.

Die wahre Bedeutung der 381 Milliarden erschließt sich erst, wenn man sie mit einer zweiten Zahl vergleicht. Sie beziffert den Zuwachs der deutschen Staatsverschuldung in den Jahren 2000 bis 2007. Diese zweite Zahl lautet ebenfalls: 381 Milliarden Euro.

Schon im Deutschland vor der Krise wurde der neue Wohlstand also durch neue Schulden erkauft. Man hat ihn sich geborgt. Das Wachstum ist ein Scheinwachstum. Die deutsche Wirtschaftsmaschine läuft, aber sie dreht leer.

Das allein muss einen nicht am Kapitalismus zweifeln lassen. In diesen ersten Jahren des neuen Jahrtausends hatten es die deutschen Unternehmen nicht leicht. Die Lohnkosten waren hoch, die Konkurrenz auf den Weltmärkten war groß, die deutsche Wirtschaft galt als überreguliert. Gut möglich also, dass es sich hier nicht um ein Problem des Kapitalismus handelt, sondern um ein Problem der Deutschen. Schließlich gibt es die kapitalistische Maschine in verschiedenen Ausführungen, nicht nur in der deutschen, auch, zum Beispiel, in der französischen, der amerikanischen, der japanischen. Jede ist ein bisschen anders, geformt von Gesetzen und Arbeitsverträgen, Regierungen und Gewerkschaften.

In den anderen großen Industrieländern könnte die Maschine rasant weitergelaufen sein.

Das Problem: die Menschen kaufen zu wenig

Verbraucher bei einem Toys

Ist sie aber nicht. Egal, ob man den amerikanischen Laisser-faire-Kapitalismus betrachtet, den französischen Zentralkapitalismus oder das japanische Konsenssystem: Zieht man die Schulden ab, bleibt vom Wirtschaftswachstum nicht viel übrig.

An dieser Stelle muss man betonen, dass es hier nicht darum geht, das Schuldenmachen zu verurteilen. Im Gegenteil, Schulden gehören zum Wesen der Marktwirtschaft. Der Kapitalismus, wie wir ihn kannten, funktioniert so: Irgendjemand leiht sich Geld, sagen wir eine Million Euro, ob es der Staat ist oder ein Unternehmer, ist nicht so wichtig. Wichtig ist, dass er das Geld nutzt und damit Dinge produziert, die die Leute haben wollen. Dass er, sagen wir, die eine Million Euro in Stahl investiert, dass er davon Werkzeug kauft und Arbeiter bezahlt und am Ende eine Reihe Autos baut, die so gut sind, dass er sie für zwei Millionen Euro verkaufen kann.

So entstehen Mehrwert, Wohlstand, echtes Wirtschaftswachstum. So kommt die Reichtumsmaschine ins Laufen, so werden zehntausend Dinge zu zwanzigtausend.

Im Kapitalismus, wie wir ihn heute in den meisten hoch entwickelten Industrieländern erleben, leiht sich der Staat eine Million Euro, und es entsteht: kaum Mehrwert, kaum Wohlstand. Nur ein Mehr an Schulden.

Irgendetwas muss es geben auf der Welt, was die kapitalistische Maschine bremst. Dieses Etwas muss neu sein, denn vor wenigen Jahrzehnten ist die Wirtschaft in Deutschland, Japan und Amerika noch kräftig gewachsen. Es muss stark sein, stärker als der Schwung, den die kapitalistische Maschine durch die riesigen neuen Märkte in Osteuropa und Asien erhielt. Und es kann seinen Ursprung nicht in nationalen Eigenheiten haben, sonst wäre das Phänomen des Leerlaufs nicht in so vielen ungleichen Ländern gleichzeitig zu beobachten. Was also haben die Deutschen, Franzosen, Japaner und Amerikaner von heute gemeinsam?

Ihren Reichtum.

Wenn Wirtschaftsfachleute von Menschen sprechen, nennen sie diese oft nicht Menschen, sondern Konsumenten. Das hat seinen Sinn, denn das ist ihre Funktion im Wirtschaftskreislauf. Statt konsumieren kann man auch kaufen sagen. Früher, irgendwann einmal, bedeutete das dasselbe. Neu gekaufte Bücher wurden gelesen, neue T-Shirts getragen, mit neuem Spielzeug wurde gespielt.

Allerdings kostet das Zeit. Wenn der Durchschnittsdeutsche die 10.000 Dinge, die er inzwischen besitzt, alle erst einmal ausführlich benutzt, bleibt wenig Raum, um sich neue zu kaufen. Der Konsum, eigentlich essenziell für den Kapitalismus, wird dann zum Bremsklotz der Maschine. Denn damit die Wirtschaft wächst, müsste ständig neu gekauft werden.

Immer mehr ist schwierig

Ein Haufen Geld: Das Pro-Kopf-Einkommen in den hoch entwickelten Industrieländern ist seit den 30er-Jahren fast um das Achtfache gestiegen. Doch das Wirtschaftswachstum ist weitgehend zum Erliegen gekommen. Quelle: dpa

Lösen lässt sich das Problem, indem man die Leute dazu bringt, zu kaufen, ohne zu konsumieren. Also noch mehr Bücher ins Regal, noch mehr Kleider in den Schrank, noch mehr Spielsachen ins Kinderzimmer zu packen und sie dann möglichst schnell zu vergessen und wieder neue zu kaufen. Mit geschickter Werbung lässt sich das schon bewerkstelligen, aber es ist schwierig, es ist teuer, und irgendwann schafft man es nicht mehr. So wird die kapitalistische Maschine erst langsamer. Dann bleibt sie stehen.

Offenbar nähern sich die meisten hoch entwickelten Industrieländer diesem Punkt. Die Geschäfte sind nicht leer, keineswegs, die Leute kaufen ein, aber sie kaufen nur ungefähr so viel wie im vergangenen Jahr oder im Jahr davor. Damit die Maschine läuft, damit die Wirtschaft wächst, müssen sie mehr kaufen und dann noch mehr, jedes Jahr.

Das aber ist schwierig. Die Märkte sind satt. Hier und da schlucken sie noch ein besonders kluges Smartphone, einen besonders schicken Laptop. Mehr geht nicht mehr hinein.

Eigentlich wundervoll. Satt sein. Das jedenfalls glaubte ein berühmter Wirtschaftswissenschaftler. Er wagte sich an etwas, das selten gelingt: eine Vorhersage der fernen Zukunft. Er prophezeite, dass seine Enkel, wenn sie einst erwachsen seien, achtmal so viel Reichtum angehäuft haben würden wie seine eigene Generation. Er sagte ferner voraus, dass in dieser Welt des Reichtums alle wesentlichen Bedürfnisse gedeckt sein würden. Die Wirtschaft würde aufhören zu wachsen, der Kapitalismus würde seine Aufgabe, den Mangel zu überwinden, erfüllt haben. Die Menschen würden zufrieden sein.

Der Wirtschaftswissenschaftler, der das prognostizierte, ist der Brite John Maynard Keynes. Er beschrieb diese Sicht in dem Essay Wirtschaftliche Aussichten für unsere Enkel. Das war im Jahr 1930. Die Enkel sind wir.

Tatsächlich ist das Pro-Kopf-Einkommen in den hoch entwickelten Industrieländern seit damals fast um das Achtfache gestiegen. Tatsächlich ist das Wirtschaftswachstum weitgehend zum Erliegen gekommen. Tatsächlich dürften das viele Leute als gar nicht so unangenehm empfinden. Die persönliche Lebenszufriedenheit wächst in Ländern wie Deutschland oder Amerika schon lange nicht mehr, irgendwann in den siebziger Jahren hat sie aufgehört zu steigen, bei einem Besitz von 6.000 Dingen vielleicht oder 7.000. Was danach noch gewachsen ist, ist die Zahl der Burn-out-Fälle, der Tablettensüchtigen, der psychisch Kranken. Da hört sich Kapitalismus ohne Wachstum nicht schlecht an. Es klingt wie: Wohlstand ohne Stress.

Finanzen, Banken, Schulden – das Problem ist das fehlende Wachstum

Wenn man dann noch die Einkommen ein wenig gleichmäßiger verteilt, die bestehende Arbeit auf alle umlegt, sodass jeder etwas zu tun hat, dann können sich die Bewohner der Moderne darauf beschränken, zu genießen, was sie haben. So malte Keynes sich das aus. Er dachte, die kapitalistische Maschine ließe sich abschalten. Er glaubte, das System ließe die Leute in Ruhe.

Um zu erkennen, warum das nicht geht, genügt es, die Zeitung aufzuschlagen, den Fernseher einzuschalten, ein paar Internetseiten zu öffnen. Man kann dann der Demonstration dieses Trugschlusses beiwohnen, wie einer Aufführung in einem Freilufttheater.

Das Stück, das da seit der Pleite der amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 gegeben wird, heißt Finanzkrise. Es handelt aber nicht von einer Finanzkrise, auch nicht von einer Bankenkrise oder einer Schuldenkrise. Oder es handelt schon davon, aber diese Begriffe beschreiben keine Ursachen, sie beschreiben Folgen.

CO₂ ist der Abfall der kapitalistischen Maschine

Das Eon-Steinkohlekraftwerk Scholven in Gelsenkirchen: Die Zahl des CO2-Austosses ist eng mit der Zahl der Dinge verknüpft, die die Leute besitzen. Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt ist die Zahl gewachsen. Früher konnte man die Emissionen noch als Preis für etwas Gutes ansehen, als Tribut für neue Arbeitsplätze und wachsenden Mehrwert. Ist mit dem Scheinwachstum Öl verbrennen und Gas verheizen noch gerechtfertigt? Quelle: AP

Am Anfang der Krise setzten Finanzinvestoren mit neuartigen Wertpapieren auf ein weiteres Wachstum des amerikanischen Immobilienmarkts. Sie spekulierten darauf, dass noch mehr Häuser, noch mehr Wohnungen gebaut würden. Aber der Markt war satt. Die Wertpapiere verloren ihren Wert. So begann die Finanzkrise.

Viele der Finanzinvestoren waren Banken. Ihr traditionelles Geschäft besteht darin, wachsende Märkte mit Krediten zu versorgen, zum Beispiel Autoherstellern neues Geld zu leihen. Aber die Märkte wuchsen nicht mehr recht. Deshalb verlegten sich viele Banken vom alten Kreditgeschäft auf das neue Investmentgeschäft. Als dieses wegen der Finanzkrise einbrach, hatten sie nichts mehr, um die Verluste auszugleichen. So begann die Bankenkrise.

Um die Banken zu retten, blieb den Industriestaaten nichts anderes übrig, als riesige Kredite aufzunehmen. Leider waren sie schon vorher hoch verschuldet. Jahrelang hatten sie darauf gehofft, die Verbindlichkeiten durch höheres Wirtschaftswachstum und, damit verbunden, höhere Steuereinnahmen begleichen zu können. Das Wachstum blieb aus, die Steuereinnahmen blieben auch aus, jetzt, durch die Bankenrettung, stiegen die Verbindlichkeiten ins Unermessliche. So begann die Schuldenkrise.

Finanzen, Banken, Schulden. Das Problem ist das fehlende Wachstum.

Alle politischen Maßnahmen, die in den drei Jahren der Krise ergriffen wurden, zielten darauf ab, das Wirtschaftswachstum zu erhöhen, die Maschine wieder zum Laufen zu bringen, auch daran erkennt man die wahre Natur dieser Krise. Die deutsche, die amerikanische, die japanische Regierung senkten Steuern, zahlten Zuschüsse, schrieben Abwrackprämien aus. Immer ging es darum, die Leute in die Geschäfte zu bringen.

Vielleicht klappt es ja. Vielleicht fangen die Leute auf wundersame Art wieder an zu kaufen, und die Unternehmen wachsen. Vielleicht sind bald die Inder und Chinesen so reich, dass sie ganz allein all die neuen Autos und Waschmaschinen bestellen, die deutsche Fabriken jedes Jahr produzieren. Vielleicht erfindet jemand ein sensationelles Produkt, das riesigen neuen Konsumhunger entstehen lässt. Ein Handy, mit dem man fliegen kann, zum Beispiel.

Wenn nicht, bleiben der industrialisierten Welt nur zwei Wege in die Zukunft. Der erste liegt darin, um jeden Preis Wachstum zu erzeugen und die Wirtschaft am Leben zu halten, so wie bisher, durch weitere Staatsausgaben, weitere Schulden. Und weiteren Abfall.

Der Abfall ist das Klimagas CO₂, das die kapitalistische Maschine ausstößt. Seine Menge ist eng verbunden mit der Zahl der Dinge, die die Leute besitzen. Sie ist gewachsen, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt. Das war schon bisher schwer zu rechtfertigen, aber früher konnte man die Emissionen noch als Preis für etwas Gutes ansehen, als Tribut für neue Arbeitsplätze und wachsenden Mehrwert. Man konnte sogar argumentieren, nur bei zunehmendem Wohlstand sei genug Geld da, um neue Umwelttechnologien zu finanzieren.

Wenn das Wachstum aber bloß noch Scheinwachstum ist und nur dazu dient, den nächsten Börsencrash zu verhindern, dann stellt sich die Frage, mit welcher Berechtigung die Industrieländer noch mehr Öl verbrennen und Gas verheizen.

Ist der Kapitalismus alternativlos?

Ein verkaufsoffener Sonntag auf der Düsseldorfer Königsallee - es stellt sich die Frage: Lässt sich eine Gesellschaft organisieren, die sich damit begnügt, den Wohlstand zu bewahren statt zu mehren? Quelle: dpa

Man kann diese Frage wegwischen, kann ihre Beantwortung auf morgen verschieben und heute die Maschine am Laufen halten, irgendwie, bis zur nächsten großen Krise. Das ist der erste Weg.

Am Elend wird der Kapitalismus nicht zugrunde gehen. Vielleicht am Reichtum

Der zweite Weg ist mühsamer, steiler und führt ins Unbekannte. Er liegt darin, Antworten zu suchen auf weitere, noch größere, schwierigere Fragen.

Lässt sich eine Gesellschaft organisieren, die sich damit begnügt, den Wohlstand zu bewahren statt zu mehren? Wie schafft man es, so zu wirtschaften, dass die Zufriedenheit der Menschen wächst, nicht der Umsatz der Unternehmen? Ist es möglich, der Natur einen Wert zu geben, der über dem der 10.000 Dinge liegt?

Oder kurz gefragt: Gibt es eine Alternative zum Kapitalismus?

Eigentlich ist diese Frage uralt, Tausende Male wurde sie gestellt in Hunderten von Jahren, von Marxisten, Romantikern, Befreiungstheologen, Arbeiterführern, Dritte-Welt-Aktivisten. Aber immer wurde sie aus der Perspektive der Armen formuliert, immer ging es um den Vorwurf, der Kapitalismus schaffe es nicht, das Elend zu beseitigen. Und immer war es das Ziel, ein System zu erfinden, das die Armut schneller beseitigt, als die Marktwirtschaft das schafft.

Versuche und Ideen gab es viele: die Lehren Mahatma Gandhis in Indien zum Beispiel, denen zufolge jeder Dorfbewohner seine Kleidung und seine Nahrung selbst herstellen sollte, um unabhängig zu werden von den Märkten. Oder die Träume von einer anarchistischen Selbstverwaltung, derzufolge sich kein Mensch persönlich bereichern kann und die während des Spanischen Bürgerkriegs kurzzeitig Wirklichkeit wurde. Und schließlich der Sozialismus in seinen verschiedenen Varianten, der in dem Glauben antrat, die halbe Menschheit in eine bessere Welt führen zu können, und am Ende von diesen Menschen abgeschafft wurde.

All diese Versuche sind gescheitert, die Träume geplatzt, letztlich waren sie unsozialer als die kapitalistische Maschine, die nicht nur mitunter obszön anmutenden Überfluss produzierte, sondern auch viele Hundert Millionen Chinesen, Inder, Südkoreaner, Vietnamesen und Brasilianer aus der Armut befreite.

Am Elend wird der Kapitalismus nicht zugrunde gehen, aber vielleicht am Reichtum. Die Not der Massen hat er gelindert, an eine Revolution von unten ist kaum zu denken. An einen neuen Systementwurf von oben sehr wohl.

Das Geld, das zum Ende des 20. Jahrhunderts zu den !Kung gekommen war, blieb nicht lange bei ihnen. Diamanten wurden vermutet unter dem roten Sand der Kalahari. Die !Kung wurden von ihrem Land vertrieben. Manche verdingen sich heute als Dienstboten auf Farmen oder als billige Landarbeiter. Andere sind dem Alkohol verfallen oder leben zurückgezogen in Reservaten, wo sie versuchen wieder auf die Jagd zu gehen, wie früher. Vielleicht sind es nicht nur die Industrieländer, die eine Alternative zum Kapitalismus benötigen. Die !Kung brauchen sie auch.

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