Tauchsieder

Leute, lest Karl Marx!

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Die Totengräber der Bourgeoisie

 

Vorerst begnügte sich Marx mit dem vagen Hinweis, dass die Bourgeoisie „ihre eigenen Totengräber“ produziert: Das Proletariat, das durch seine Arbeit das Kapital der Kapitalisten vermehrt, ohne sich selbst Eigentum verschaffen zu können, lehnt sich gegen seine „Enteignung“ auf und revolutioniert die Gesellschaft.

Später, im „Kapital“, hat Marx das Paradox von der dynamischen Selbsterschöpfung des Kapitalismus ökonomisch zu fassen versucht: Das „Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate“ postuliert, dass die Ertragsrate der Unternehmer nicht trotz, sondern wegen des technischen Fortschritts fällt. Weil mit der Maschinisierung der Produktion der proportionale Anteil von Verbrauchskapital (Investitionen) wachse, schrumpfe zugleich der Anteil der „lebendigen Arbeit“, die Marx zufolge allein Mehrwert erzeugt. Heute ist das Argument schon deshalb widerlegt, weil der Wissensarbeiter der Moderne nicht nur seine Haut (als Arbeitskraft), sondern vor allem auch sein Hirn (als Investitionsgut) zu Markte trägt.

Das Kommunistische Manifest ist das große Scharnier in Marx' Leben und Werk: Hier bündelt sich seine Religions- und Ideologiekritik - von hier aus überführt er sie in eine wissenschaftliche Kritik an den ökonomischen Produktionsverhältnissen. Marx ist damals gerade mal 29 Jahre alt und hat bereits ein bewegtes Leben hinter sich: Aufgewachsen in Trier, bleibt ihm nach dem Jura-Studium in Bonn und Berlin eine akademische Karriere verwehrt. Die preußischen Behörden kujonieren ihn als aufmüpfigen Linkshegelianer - und so verdingt Marx sich als Journalist bei der "Rheinischen Zeitung" in Köln (1842). Als die Zensur zuschlägt, siedelt er nach Paris, wo er mit Heinrich Heine und Friedrich Engels in Kontakt kommt, von Paris aus treibt ihn der lange Arm der preußischen Justiz nach Brüssel (1845); drei Jahre später wird er dort verhaftet und ausgewiesen, flüchtet über Paris und Köln (nochmalige Ausweisung) als Staatenloser ins Exil nach London (1849).

Und hier verbringt er den Rest seines Lebens, tagsüber im Leseraum des British Museums, wo er praktisch alle Werke der Politischen Ökonomie studiert - und nachts zu Hause, wo er „Das Kapital“ verfasst, in einer erbärmlichen Stube, unzureichend genährt, ärztlich schlecht versorgt, obwohl er von Engels finanziell unterstützt wird und sich als Europa-Korrespondent der „New York Tribune“ ein paar Pfund dazuverdient. Als Politiker beteiligt sich Marx noch federführend an der Gründung der „Ersten Internationale“ (1864) und der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (1869) in Deutschland, doch die Armut zehrt an seinen Kräften, seine Frau und fünf seiner sieben Kinder sterben früh. Marx selbst bringt nicht mehr die Kraft auf zur Vollendung seines Mammutwerkes - und stirbt am 14. März 1883.

Man kann dieses Mammutwerk über den Industriekapitalismus nicht verstehen, ohne zu wissen, woher es kommt: aus einer anderen, vorindustriellen Zeit. Marx war ein Teenager, als Hegel (1831) und Goethe (1832) starben. Hegel sah im damaligen Preußen die Einheit von institutioneller Ordnung und individueller Freiheit erreicht - und Goethe immerhin noch die Chance, dass eine handwerkliche Erwerbsbiografie auch unter frühindustriellen Bedingungen möglich sei.

Entsprechend unbestimmt ist zunächst Marx' Kritik; sie richtet sich gegen die Religion, die idealistische Philosophie und den Staat, kurz: gegen „die ganze bisherige Weise des deutschen... Bewusstseins“. Marx will seine Zeit von dem „Nonsens“ befreien, mit dem Pfarrer, Philosophen und Politiker die Welt auskleiden, um sich in ihr zu gefallen. Er versteht Religion und (Hegels) Philosophie als Projektionen des menschlichen Wesens, in denen der Mensch sich selbst - als Gott und Weltgeist entfremdet - widerspiegelt.

Dagegen will Marx auf den Menschen zurückgehen, auf sein Sein und seine Tätigkeit, will „auf dem wirklichen Geschichtsboden stehen..., nicht die Praxis aus der Idee, sondern die Ideenformationen aus der materiellen Praxis“ erklären - und sie verändern.Er bestreitet, dass der Mensch dem Walten der Geschichte ausgeliefert sei, solange er sich dem Walten nicht selbst ausliefere: Die Umstände, so Marx, machen die Menschen so gut wie die Menschen die Umstände.

Von hier aus war es nur noch ein kleiner Schritt zur Erkenntnis, dass er mit der „Aufhebung“ der Philosophie vor allem ihre Verwirklichung meint, eine Philosophie der gesellschaftlichen Praxis. Und dass Gesellschaftskritik daher Wirtschaftskritik ist, eine Kritik der Art und Weise, wie der Mensch sich selbst (re-)produziert: It's the economy, stupid!

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