Marx hat die Religion als „illusorisches Glück" entlarvt, aber er hat nicht an den „Seufzern der bedrängten Kreatur" vorbeigehört und die metaphysisch ausgefegte Welt mit einem säkularen Glaubenssurrogat beschenkt: mit der frohen Botschaft vom irdischen Paradies des Sozialismus. Gleichzeitig hat Marx den technischen Machbarkeitseifer eines bürgerlich-progressiven Milieus aufgegriffen, das in seiner neuen Gottlosigkeit noch reichlich verunsichert an der Schwelle zur Moderne stand - und an ein Vorwärts glaubte, ohne vorerst die Richtung zu kennen.
In dieser historischen Lage hat er nicht nur das Kunststück fertig gebracht, den neustädtischen Arbeitern Parolen und Argumente zu liefern gegen den parasitären Lebensstil vieler Kapitalisten. Er reüssierte auch in bildungsbürgerlichen Kreisen mit der Behauptung, die sozialistische Erlösung von allen Weltübeln sei eine rational beweisbare Gewissheit.
Es ist Marx gelungen, die Sehnsüchte, die die Religion auf ihrem unfreiwilligen Rückzug zurückgelassen hatte, mit dem positivistischen Geist eines Fortschritts zu verknüpfen, der als unausweichlich empfunden wurde - und der keinen Glauben duldete, der nicht wenigstens einen wissenschaftlichen Anstrich hatte: „Einfach das Ziel zu predigen wäre wirkungslos geblieben; eine Analyse des sozialen Prozesses hätte nur ein paar Hundert Spezialisten interessiert", so Schumpeter: "Aber im Kleid des Analytikers zu predigen und mit einem Blick auf die Bedürfnisse des Herzens zu analysieren,…schuf [Marx] eine leidenschaftliche Anhängerschaft.“
Nirgends hat Marx mit mehr Herz studiert und mit mehr Verstand agitiert als im Kommunistischen Manifest. Die kleine Schrift ist von aufrüttelnder Sprachkraft, ein brillanter, mitreißender Text, der ständig zwischen Analyse und Dialektik changiert, munter Wissenschaft und Propaganda verquirlt - und eine schier unauflösbare Spannung aufbaut zwischen der Schilderung geschichtlicher Dynamik und Teleologie, zwischen unaufhörlichem Wandel und utopischem Endziel.
Besonders bemerkenswert ist das Manifest deshalb, weil Marx in ihm die Leistungen des Kapitalismus geradezu hymnisch feiert. Die Bourgeois-Epoche habe "ganz andere Wunderwerke vollbracht als ägyptische Pyramiden, römische Wasserleitungen und gotische Kathedralen", stellt er pathetisch fest, sie habe "kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen", "enorme Städte" aufgebaut und einen "bedeutenden Teil der Bevölkerung dem Idiotismus des Landlebens" entrissen: "Dampfschifffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegrafen, Urbarmachung ganzer Weltteile... - welch früheres Jahrhundert ahnte", dass derlei Energien im Schoß der Menschheit schlummerten?
In packenden Passagen schildert Marx, dass die Harmonielehre der vorindustriellen Marktwirtschaft (Adam Smiths „unsichtbare Hand“) vom Grundgesetz des Industriekapitalismus abgelöst wird: „Fortwährende Umwälzung der Produktion, ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, ewige Unsicherheit und Bewegung“. Und mit soziologischem Scharfblick etabliert er sich als erster Theoretiker der Globalisierung: „Die Bourgeoisie reißt... alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation... Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen... Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem Bilde.“
Natürlich macht Marx auf die Nebenkosten der bürgerlichen Revolution aufmerksam. Die Bourgeoisie habe „alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört“ und „kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übrig gelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose, ,bare Zahlung’".
Es ist eine von Marx' griffigen Übertreibungen, die sich unter Kapitalismuskritikern noch heute großer Beliebtheit erfreuen. Marx selbst bediente sich ihrer nicht, um den Kapitalismus gleichsam von außen zu kritisieren, sondern um den Nachweis zu führen, dass seine heraufziehende Existenzkrise sich inneren Widersprüchen verdankt. Seine soziologischen Befunde ließen ihm auch gar keine andere Wahl: Wenn die "Bourgeois-Epoche" ihrem Wesen nach dauerrevolutionär war, dann konnten die Gründe für ihren Untergang nicht in ihrer Erschöpfung, sondern nur in ihrer Dynamik begründet liegen.