Tauchsieder

Leute, lest Karl Marx!

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Schöpfer eines neuen, säkularen Glaubens

 

Marx hat die Religion als „illusorisches Glück" entlarvt, aber er hat nicht an den „Seufzern der bedrängten Kreatur" vorbeigehört und die metaphysisch ausgefegte Welt mit einem säkularen Glaubenssurrogat beschenkt: mit der frohen Botschaft vom irdischen Paradies des Sozialismus. Gleichzeitig hat Marx den technischen Machbarkeitseifer eines bürgerlich-progressiven Milieus aufgegriffen, das in seiner neuen Gottlosigkeit noch reichlich verunsichert an der Schwelle zur Moderne stand - und an ein Vorwärts glaubte, ohne vorerst die Richtung zu kennen.

Die größten Ökonomen
Adam Smith, Karl Marx, John Maynard Keynes und Milton Friedman: Die größten Wirtschafts-Denker der Neuzeit im Überblick.
Gustav Stolper war Gründer und Herausgeber der Zeitschrift "Der deutsche Volkswirt", dem publizistischen Vorläufer der WirtschaftsWoche. Er schrieb gege die große Depression, kurzsichtige Wirtschaftspolitik, den Versailler Vertrag, gegen die Unheil bringende Sparpolitik des Reichskanzlers Brüning und die Inflationspolitik des John Maynard Keynes, vor allem aber gegen die Nationalsozialisten. Quelle: Bundesarchiv, Bild 146-2006-0113 / CC-BY-SA
Der österreichische Ökonom Ludwig von Mises hat in seinen Arbeiten zur Geld- und Konjunkturtheorie bereits in den Zwanzigerjahren gezeigt, wie eine übermäßige Geld- und Kreditexpansion eine mit Fehlinvestitionen verbundene Blase auslöst, deren Platzen in einen Teufelskreislauf führt. Mises wies nach, dass Änderungen des Geldumlaufs nicht nur – wie die Klassiker behaupteten – die Preise, sondern auch die Umlaufgeschwindigkeit sowie das reale Produktionsvolumen beeinflussen. Zudem reagieren die Preise nicht synchron, sondern in unterschiedlichem Tempo und Ausmaß auf Änderungen der Geldmenge. Das verschiebt die Preisrelationen, beeinträchtigt die Signalfunktion der Preise und führt zu Fehlallokationen. Quelle: Mises Institute, Auburn, Alabama, USA
Gary Becker hat die mikroökonomische Theorie revolutioniert, indem er ihre Grenzen niederriss. In seinen Arbeiten schafft er einen unkonventionellen Brückenschlag zwischen Ökonomie, Psychologie und Soziologie und gilt als einer der wichtigsten Vertreter der „Rational-Choice-Theorie“. Entgegen dem aktuellen volkswirtschaftlichen Mainstream, der den Homo oeconomicus für tot erklärt, glaubt Becker unverdrossen an die Rationalität des Menschen. Seine Grundthese gleicht der von Adam Smith, dem Urvater der Nationalökonomie: Jeder Mensch strebt danach, seinen individuellen Nutzen zu maximieren. Dazu wägt er – oft unbewusst – in jeder Lebens- und Entscheidungssituation ab, welche Alternativen es gibt und welche Nutzen und Kosten diese verursachen. Für Becker gilt dies nicht nur bei wirtschaftlichen Fragen wie einem Jobwechsel oder Hauskauf, sondern gerade auch im zwischenmenschlichen Bereich – Heirat, Scheidung, Ausbildung, Kinderzahl – sowie bei sozialen und gesellschaftlichen Phänomenen wie Diskriminierung, Drogensucht oder Kriminalität. Quelle: dpa
Jeder Student der Volkswirtschaft kommt an Robert Mundell nicht vorbei: Der 79-jährige gehört zu den bedeutendsten Makroökonomen des vergangenen Jahrhunderts. Der Kanadier entwickelte zahlreiche Standardmodelle – unter anderem die Theorie der optimalen Währungsräume -, entwarf für die USA das Wirtschaftsmodell der Reaganomics und gilt als Vordenker der europäischen Währungsunion. 1999 bekam für seine Grundlagenforschung zu Wechselkurssystemen den Nobelpreis. Der exzentrische Ökonom lebt heute in einem abgelegenen Schloss in Italien. Quelle: dpa
Der Ökonom, Historiker und Soziologe Werner Sombart (1863-1941) stand in der Tradition der Historischen Schule (Gustav Schmoller, Karl Bücher) und stellte geschichtliche Erfahrungen, kollektive Bewusstheiten und institutionelle Konstellationen, die den Handlungsspielraum des Menschen bedingen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. In seinen Schriften versuchte er zu erklären, wie das kapitalistische System  entstanden ist. Mit seinen Gedanken eckte er durchaus an: Seine Verehrung und gleichzeitige Verachtung für Marx, seine widersprüchliche Haltung zum Judentum. Eine seiner großen Stärken war seine erzählerische Kraft. Quelle: dpa
Amartya Sen Quelle: dpa

In dieser historischen Lage hat er nicht nur das Kunststück fertig gebracht, den neustädtischen Arbeitern Parolen und Argumente zu liefern gegen den parasitären Lebensstil vieler Kapitalisten. Er reüssierte auch in bildungsbürgerlichen Kreisen mit der Behauptung, die sozialistische Erlösung von allen Weltübeln sei eine rational beweisbare Gewissheit.

Es ist Marx gelungen, die Sehnsüchte, die die Religion auf ihrem unfreiwilligen Rückzug zurückgelassen hatte, mit dem positivistischen Geist eines Fortschritts zu verknüpfen, der als unausweichlich empfunden wurde - und der keinen Glauben duldete, der nicht wenigstens einen wissenschaftlichen Anstrich hatte: „Einfach das Ziel zu predigen wäre wirkungslos geblieben; eine Analyse des sozialen Prozesses hätte nur ein paar Hundert Spezialisten interessiert", so Schumpeter: "Aber im Kleid des Analytikers zu predigen und mit einem Blick auf die Bedürfnisse des Herzens zu analysieren,…schuf [Marx] eine leidenschaftliche Anhängerschaft.“

Nirgends hat Marx mit mehr Herz studiert und mit mehr Verstand agitiert als im Kommunistischen Manifest. Die kleine Schrift ist von aufrüttelnder Sprachkraft, ein brillanter, mitreißender Text, der ständig zwischen Analyse und Dialektik changiert, munter Wissenschaft und Propaganda verquirlt - und eine schier unauflösbare Spannung aufbaut zwischen der Schilderung geschichtlicher Dynamik und Teleologie, zwischen unaufhörlichem Wandel und utopischem Endziel.

Besonders bemerkenswert ist das Manifest deshalb, weil Marx in ihm die Leistungen des Kapitalismus geradezu hymnisch feiert. Die Bourgeois-Epoche habe "ganz andere Wunderwerke vollbracht als ägyptische Pyramiden, römische Wasserleitungen und gotische Kathedralen", stellt er pathetisch fest, sie habe "kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen", "enorme Städte" aufgebaut und einen "bedeutenden Teil der Bevölkerung dem Idiotismus des Landlebens" entrissen: "Dampfschifffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegrafen, Urbarmachung ganzer Weltteile... - welch früheres Jahrhundert ahnte", dass derlei Energien im Schoß der Menschheit schlummerten?

In packenden Passagen schildert Marx, dass die Harmonielehre der vorindustriellen Marktwirtschaft (Adam Smiths „unsichtbare Hand“) vom Grundgesetz des Industriekapitalismus abgelöst wird: „Fortwährende Umwälzung der Produktion, ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, ewige Unsicherheit und Bewegung“. Und mit soziologischem Scharfblick etabliert er sich als erster Theoretiker der Globalisierung: „Die Bourgeoisie reißt... alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation... Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen... Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem Bilde.“

Natürlich macht Marx auf die Nebenkosten der bürgerlichen Revolution aufmerksam. Die Bourgeoisie habe „alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört“ und „kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übrig gelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose, ,bare Zahlung’". 

Es ist eine von Marx' griffigen Übertreibungen, die sich unter Kapitalismuskritikern noch heute großer Beliebtheit erfreuen. Marx selbst bediente sich ihrer nicht, um den Kapitalismus gleichsam von außen zu kritisieren, sondern um den Nachweis zu führen, dass seine heraufziehende Existenzkrise sich inneren Widersprüchen verdankt. Seine soziologischen Befunde ließen ihm auch gar keine andere Wahl: Wenn die "Bourgeois-Epoche" ihrem Wesen nach dauerrevolutionär war, dann konnten die Gründe für ihren Untergang nicht in ihrer Erschöpfung, sondern nur in ihrer Dynamik begründet liegen.

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