Der anscheinend bestehende Widerspruch zwischen der Geldpolitik der großen Notenbanken seit der Finanzmarktkrise und der Entwicklung der Inflationsraten zählt für viele langjährige Marktteilnehmer zu den großen Paradoxen unserer Zeit. Seit die FED im Dezember 2008 damit begonnen hat, ihre Nullzinspolitik durch den Kauf von Anleihen im großen Stil zu unterstützen, sind die Verbraucherpreise in den USA lediglich um 1,7 Prozent p.a. im Durchschnitt gestiegen.
In diesen acht Jahren gab es darüber hinaus sogar deflationäre Phasen mit sinkendem Preisniveau. Und das alles, obwohl die US Wirtschaft relativ robust gewachsen ist und die Arbeitslosenquote von nahezu 10 Prozent Ende 2009 auf derzeit unter 5 Prozent gefallen und damit nahezu Vollbeschäftigung erreicht ist. Jedes Makroökonomielehrbuch würde ein solches Szenario als hochinflationär beschreiben.
Paradox erscheint es da auch, dass Zentralbanken ihre Politik mit Sorgen vor Deflation begründen und als Kernziel einen Anstieg der Inflation auf 2 Prozent explizit benennen. Wer wie ich Ölpreisschocks zumindest als Jugendlicher erlebt hat, wer Zentralbanken als Bewahrer von Preisstabilität und Bekämpfer jeglicher Inflationssorgen kennt, wer die Deutsche Bundesbank diesbezüglich als weltweite geschätzte „Bastion“ erlebt hat, dem fällt es schwer zu verstehen, dass die vier großen Zentralbanken eine Preissteigerung als klares und explizites Ziel ihrer Politik formulieren. Dabei wird man den Eindruck nicht los, dass gerade diesbezüglich eine gewisse Verzweiflung erkennbar ist.
Was ist Inflation, wodurch entsteht Sie eigentlich und warum bleibt sie aus?
Die Deutsche Bundesbank definiert Inflation als „.... einen über mehrere Perioden anhaltenden Anstieg des Preisniveaus.“ Dabei wird den Berechnungen der Güterkorb eines repräsentativen Haushalts zugrunde gelegt, sozusagen das Konsumverhalten eines Durchschnittsverdieners in einem Durchschnittswohngebiet. Das erklärt auch, warum vielen Menschen ihre gefühlte Inflationsrate viel höher als die offiziellen Zahlen erscheint.
Auch wenn es unterschiedliche Ursachen für Inflation geben kann, gilt ganz grundsätzlich: Güter werden nur durch Knappheit teurer. Nach der klassischen Makrolehre führen niedrige Zinsen und „Gelddrucken“ zu einer erhöhten Investitions- und Konsumnachfrage, die bei einem begrenzten Angebot zu einem Anstieg des allgemeinen Preisniveaus führen. Folgt man dieser einfachen Kausalität, dann kann Inflation nur ausbleiben, wenn entweder der Nachfrageanstieg nicht stattfindet und/oder das Güterangebot nicht hinreichend begrenzt ist. In der heute globalisierten Welt entsteht für Güter des „täglichen Bedarfs“ tatsächlich kaum Knappheit. Zudem sind wir in den westlichen Ländern mit einer alternden Bevölkerung und historisch großem Wohlstand an einer Art „Konsumzenit“ angekommen. Niedrige Zinsen allein steigern unser Kaufverhalten nicht. Dies erklärt unter anderem auch die seit den siebziger Jahren insgesamt rückläufigen Inflationsraten.
Einfluss der Notenbanken auf Preisniveau sinkt
In einem solchen Umfeld verliert die Geldpolitik an Schlagkraft, wie die folgende Tabelle zeigt:
FED Tightening | FED Easing | Differenz | |
durchschnittliche US-Inflationsrate | |||
1970-1979 | 7,8% | 4,3% | +3,5% |
1980-1989 | 6,1% | 5,1% | +1,0% |
1990-1999 | 3,0% | 2,5% | +0,4% |
2000-Heute | 2,1% | 2,2% | -0,1% |
Veränderung der US-Inflationsrate während eines Zinszyklus | |||
1970-1979 | +5,3% | -2,2% | +7,5% |
1980-1989 | -0,3% | -2,4% | +2,1% |
1990-1999 | +0,7% | -2,1% | +2,8% |
2000-Heute | -0,5% | -0,7% | +0,2% |
Quelle: Bloomberg; eigene Berechnung
Die durchschnittlichen Inflationsraten während eines Zinszyklus der FED haben sich seit den siebziger Jahren immer mehr angenähert. Noch deutlicher ist, dass auch die Veränderung der Inflationsraten bei Verknappung oder Vergrößerung der Geldmenge immer geringer geworden und damit der Einfluss der Notenbanken auf das allgemeine Preisniveau stetig zurückgegangen ist. Seit 2000 unterscheiden sich Inflationsraten in beiden Zinsregimen kaum noch.
Im Übrigen ist auch zu beachten, dass der Ankauf von Anleihen zwar das allgemeine Zinsniveau senkt (und dabei viele strukturelle und politische Probleme aufwirft), aber dass damit eben nicht wirklich „Geld gedruckt“ wird. Es findet ein Vermögenstausch zwischen dem Inhaber einer Anleihe und der Zentralbank statt, nicht mehr und nicht weniger. Die Auswirkungen dieser Transaktion auf das allgemeine Preisniveau hängen alleine davon ab, was der bisherige Besitzer der Anleihe mit der neuen Liquidität unternimmt. Wahrscheinlich ist, dass diese neue Liquidität zunächst in andere Wertpapiere der gleichen Risikoklasse und damit in festverzinsliche Wertpapiere investiert wird, was die Abwärtsspirale der Zinsen weiter befeuert.
Welche Ziele verfolgen die Zentralbanken?
Die beschriebenen Sachverhalte sind kein Geheimnis und natürlich auch im Kalkül der Notenbanken berücksichtigt. Es stellt sich daher die Frage, ob die großen Zentralbanken über ihren eigentlichen Auftrag, nämlich eine Geldwertstabilität zu gewährleisten, noch andere Ziele verfolgen. Die FED hat ihr Anleihenkaufprogramm zum Höhepunkt der Subprime-Krise begonnen, die EZB am Gipfel der Eurokrise. Anlass waren in beiden Fällen nicht vordergründig Deflationssorgen – diese kamen erst viel später dazu. Stattdessen muss vermutet werden, dass hier finanzielle Krisenhilfe geleistet wurde und es etwa der EZB um den Schutz des Euro gehen musste. Die EZB erweitert die Grenzen ihres eigentlich eng formulierten Auftrags, dabei muss aber gesagt werden, dass genau dies auch von allen Seiten erwartet wird.
Vielleicht wird man im Rückblick eines Tages zu dem Schluss kommen, dass es ein Glücksfall der Geschichte war, dass beide großen Finanzkrisen vom Beginn des Jahrhunderts zu einem Zeitpunkt absolut niedriger Inflationsraten gekommen sind. Nur dadurch hatten Zentralbanken anschließend überhaupt den Handlungsspielraum für ihre unkonventionellen Maßnahmen. Wie diese Experimente am Ende ausgehen werden, bleibt hingegen noch abzuwarten.