Viele Wahrheiten Misstrauen gegen Statistik befeuert Parallelwelten

Anhänger von US-Präsident Donald Trump, Europas Rechtspopulisten, ja selbst viele Fans von SPD-Hoffnung Martin Schulz: Immer mehr Menschen zweifeln an der Wahrheit von Daten. Das liegt auch daran, dass Statistiker sich eine Parallelwelt geschaffen haben. So aber wird Wirtschaftspolitik irgendwann unmöglich.

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Quelle: Fotolia

An einem Herbsttag im Jahr 2015 sitzt der Ökonom Ulrich van Suntum an seinem Schreibtisch in der Universität Münster und regt sich auf. Das Jahr, in dem fast eine Million Flüchtlinge nach Deutschland kam, neigt sich dem Ende entgegen, doch der Gelehrte sieht sich am Beginn eines Kampfes. Um nichts Geringeres als die Wahrheit soll es gehen. Der Professor bekommt an diesem Vormittag eine E-Mail. Es ist der Wochenbericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). In jener Ausgabe schicken die Forscher aus Berlin eine Studie mit, der sie den Namen „Integration von Flüchtlingen – eine langfristig lohnende Investition“ gegeben haben. Die neuen Arbeitskräfte, heißt es da, werden laut den vorliegenden Daten das deutsche Pro-Kopf-Einkommen erhöhen. Als van Suntum die Seiten liest, staunt er, um sich dann mit jeder Zeile ein wenig mehr zu ärgern. „Das schien mir nicht plausibel. Die Methodik war mangelhaft und nicht dokumentiert“, sagt der Volkswirt heute. Noch am gleichen Tag schreibt er eine E-Mail an Marcel Fratzscher. Doch der DIW-Chef lässt die Fragen aus Münster unbeantwortet. Da setzt sich van Suntum an den Besprechungstisch seines Professorenbüros und legt los. Drei Tage lang arbeitet er mit einem Mitarbeiter an einer Erwiderung. Das Fazit der Münsteraner: „Statt eines Gewinns für die Volkswirtschaft bedeutet der Flüchtlingszustrom ökonomisch eine massive Belastung der einheimischen Bevölkerung.“ Es ist das komplette Gegenteil von dem, was Fratzscher behauptete, obwohl beide mit den gleichen Zahlen arbeiten.

Nun kann man von van Suntum halten, was man will. Er zählt sicher nicht zur wissenschaftlichen Spitze seines Fachs, auch gilt er spätestens seit er sich mit einem gewissen Bernd Lucke aufmachte, der deutschen Rechten eine Wahl-Alternative zu bieten, als politisch anstößig. Und doch lohnt es sich, auf die Anekdote einzugehen. Denn die Uneinigkeit ist mehr als ein Zwist unter zwei Ökonomen, die sich nicht ausstehen können. Es zeigt, wie selbst einfache Zahlen mittlerweile zu Waffen des politischen Nahkampfes geworden sind. Zwar hat es immer Streit darüber gegeben, wie Daten zu interpretieren sind. Doch mittlerweile geht der Streit in immer mehr Fällen nicht darum, wie sie zu interpretieren sind, sondern welche Zahlen und Statistiken überhaupt die Wirklichkeit widerspiegeln.

Die Chronologie, die nachzeichnet, wie reine Zahlen ihre Unschuld verloren, füllt sich: Da ist etwa der neue US-Präsident Donald Trump, der grundsätzlich Daten eher als Knetmasse für die Bestätigung seines Weltbilds sieht: Neu im Amt, behauptete er, BMW schade durch massive Importe von Autos der amerikanischen Industrie, obwohl kein Autobauer mehr Autos aus den USA in alle Welt exportiert als die Münchner. Diese Woche rächte sich , dass Trump die Gesundheitsreform seines Vorgängers Barack Obama gegen jede Datenlage als soziale Ungerechtigkeit verdammte; da von seinen Abschaffungsplänen entgegen Trumps Verlautbarungen mehrere Millionen Amerikaner negativ betroffen wären, verweigern selbst Republikaner ihm in der Frage die Gefolgschaft. Und doch greift das Prinzip Trump im Umgang mit Daten um sich: Die Briten entschieden sich für den Ausstieg aus der Europäischen Union, obwohl sämtliche Daten für diesen Fall wirtschaftliche Nachteile vorhersahen. Und SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hat mit dem Versprechen, die Agenda 2010 abzuschwächen, Erfolge, obwohl viele Daten deren Folgen positiv sehen.

Der Zweifel an der Wahrheit von Daten und Zahlen ist eine der zentralen Bruchstellen westlicher Gesellschaften. Im Vorfeld der US-Wahl gaben 68 Prozent der Trump-Unterstützer an, dass sie den veröffentlichten wirtschaftlichen Daten misstrauen. In Großbritannien äußerten sich im Vorfeld des Brexit-Referendums 55 Prozent der Bürger skeptisch, dass die Regierung die wirtschaftlichen Auswirkungen von Einwanderung korrekt darstelle. Und zwei Drittel der Deutschen haben „nennenswerte Zweifel“ daran, dass die von amtlichen Stellen veröffentlichten Statistiken zur Zuwanderung, zur Einkommens- und Vermögensverteilung und zur Arbeitslosigkeit „die Wirklichkeit einigermaßen korrekt widerspiegeln“, ermittelte das Wirtschaftsforschungsinstituts Dr. Doeblin.

Gradmesser des Glücks und Seismografen politischer Stimmungen

Dabei schaffen Daten erst die Transparenz, die eine liberale Gesellschaft zum Überleben braucht. Wirtschaftspolitik ohne Daten ist schlicht nicht möglich. „Verlieren Statistiken ihre Unschuld, gefährdet das die Demokratie“, schrieb der Ökonom William Davies jüngst im „Guardian“. Wie aber ist der Autoritätsverlust der Zahlen zu erklären? Und welche Verantwortung dafür tragen eigentlich jene, die täglich mit Zahlen und Statistiken arbeiten?

Optische Täuschung

Stabile Erkenntnisse für eine stabile Welt

An einem Tag im Spätherbst 2015, als van Suntum in Münster über der Zuwandererstudie brütet und schimpft, steht in einem Frankfurter Vortragssaal ein Herr mit auffälligem Schnäuzer und spricht über ein Thema, das sonst meist in Reden hoch spezialisierter Experten verschwindet. Der Mann heißt Otmar Issing, er war als Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank einer der wichtigsten Geldpolitiker der Welt, und nun macht er sich Sorgen. Deswegen tritt er an diesem Tag vor Menschen auf, die sonst eher unter sich diskutieren und unter dem Schirm des Internationalen Währungsfonds zu einem Forum über Statistiken geladen haben. Issing hat sich viel mit dem Thema beschäftigt, vielleicht mehr, als jemand in seiner Position, noch dazu im Ruhestand, müsste. Aber Issing findet, das sei eben wichtig. „Können Wirtschaftspolitiker ohne Statistiken handeln?“, fragt er, um sich die Antwort dann selbst zu geben. „Es wäre vorstellbar, aber nur mit einer Menge Wenn und Aber. Ohne Statistiken wäre die Wirtschafts- und Geldpolitik blind.“ Deswegen müsse man alles dafür tun, den Wildwuchs an Daten, aus denen sich jeder nach eigenem Bedarf seine Wahrheit picke, zu beenden. Deswegen sei das Berufsbild des Statistikers so wichtig, deswegen müssten die Herren und Damen über die Zahlen möglichst unumstritten arbeiten.

Die Zahlen sollen schließlich einen gemeinsam Rahmen schaffen. Sie sollen anschaulich machen, was wirklich los ist. Sie sollten helfen, dass wir die gleiche Welt meinen, wenn wir von ihr sprechen.

Ausgehend von biblischen Zeiten – das Neue Testament beginnt damit, dass ein Kaiser sein Volk zählen wollte – bis ins Mittelalter hinein wurden Menschen und Unternehmungen einzeln gezählt. Man wollte einen Überblick über Gesellschaft und Wirtschaft; Statistik, das war eine Staatslehre. So waren es keine Mathematiker, die die Statistik, erfanden. Sondern Fürsten, die im 16. Jahrhundert erstmals systematisch erfassten, welche Untertanen ihnen wie viel schuldeten. „Die Selbsterkenntnis der Wirtschaft bedeutete hier das statistisch geordnete Wissen über die Untertanen und deren Eigentum“, schreibt der Ökonom Karl-Heinz Brodbeck. Statistik war immer auch ein Machtinstrument im Besitz der Herrscher, was manchen heutigen Skeptiker bestärken dürfte.

In einer neuen Statistikserie erklärt die WirtschaftsWoche die Fallstricke im Umgang mit Zahlenkolonnen, Quoten und Umfragen – und beschreibt die Tricks der Manipulateure aus Politik, Wissenschaft und Interessengruppen.

Das änderte sich mit Einsetzen der Industrialisierung, die parallel zu immensen Fortschritten in der Mathematik verlief und die moderne Statistik begünstigte. Es entstanden statistische Rechnungen, die aus gut gewählten Stichproben auf die Gesamtheit hochrechneten. Diese sollten den Regierenden ein möglichst umfassendes, aber vereinfachtes Bild von der Wirklichkeit in ihrem Land zeichnen. Statistik sollte mit Bevölkerung und Wirtschaft machen, was die Kartografie mit Landschaft macht. So entstand parallel zur Industrialisierung auch ein Werkzeug, ihre politische, gesellschaftliche und ökonomische Begleiterscheinungen zu vermessen. Aus verschiedenen Statistiken zusammengetragene Konstrukte wie das Bruttoinlandsprodukt wurden zum Gradmesser des Glücks, aus Erkenntnissen über die Repräsentativität bestimmter Gruppen Seismografen politischer Stimmungen.

Die Prinzipien, mit denen aber Stichproben gebildet und aus denen dann allgemeingültige Beschreibungen hergeleitet wurden, beruhten auf drei Eigenschaften: der Bezugsrahmen ist die Nation, Biografien entwickeln sich frei von Brüchen, die Gesellschaft zerfällt grob in vier Gruppen: Arbeiter, Angestellte, Unternehmer und Rentner.

Berechnung und Bauchgefühl

In den vergangenen Jahren aber hat sich die Welt dramatisch verändert. Keine dieser Annahmen stimmt mehr. Oder, wie es der Soziologe Zygmunt Bauman vor seinem Tod formulierte: „Wir werden Zeugen einer Transformation von der beständigen Modernität des 20. Jahrhunderts zu einer liquiden Modernität der Gegenwart. Leben ist alles, aber nicht vorhersagbar.“

Die Frage ist: Haben sich die statistischen Methoden mit entwickelt? Oder messen Statistiker und Ökonomen die Welt des 21. Jahrhunderts mit den Instrumenten des 19. und 20. Jahrhunderts?

Wissenschaft und Wahrheit

In einem Gebäude, das definitiv aus dem 20. Jahrhundert stammt und dessen architektonische Transformation ins 21. Jahrhundert erst in diesen Monaten vorbereitet wird, sitzen an einem der ersten lauen Tage des Jahres drei Herren und versuchen, sich über diese nicht unkomplizierte Ausgangslage einen Überblick zu verschaffen. Robert Kirchner, Reinhold Stahl und Johannes Hoffmann sind die obersten Hüter über die statistischen und volkswirtschaftlichen Deutungen der Bundesbank. Was ist ein Einzelfall, was ist ein gerechter Durchschnitt? Was ist Statistik, was nur Prognose? Das sind Fragen, mit denen sich die drei Herren Tag für Tag auseinandersetzen. Und wer ihnen dabei zuhört, ahnt, dass das auch mal einfacher war. Alles habe, erinnern sich die Herren, mit der Einführung des Euro begonnen. Da habe man zum ersten Mal das Gefühl gehabt, die Wahrheit, die aus ihren Zahlen sprach, und die Wahrheit, die ihnen viele Bürger schilderten, hätten nicht mehr zusammengepasst. Während die Bundesbank in dieser Zeit stabile Preise für Deutschland meldete, hatten viele Deutsche das Gefühl, ihr Leben sei durch die neue Währung teurer geworden.

Korrelation vs Kausalität

„An einen Anruf erinnere ich mich noch sehr gut“, sagt Hoffmann und schmunzelt vergnüglich. „Ein Mann behauptete, alles sei teurer geworden. Als Beispiel nannte er mir eine Mausefalle, die er statt für 5 D-Mark nun für 5 Euro gekauft habe. Ich habe dann gesagt: Glaube ich sofort. Aber was ist mit Ihrer Miete, Ihren Versicherungsprämien usw. Und dann habe ich gefragt: Welchen Anteil Ihres Einkommens geben sie für Mausefallen aus?“ Nun schmunzeln Herr Kirchner und Herr Stahl auch.

Die Leute führen eben als Beleg für ihr Bauchgefühl Einzelbeispiele an. Hoffmann dagegen hat als Beleg den Durchschnitt aller Einzelfälle im Blick. Für Hoffmann war die Sache damit erledigt. Für die meisten Deutschen aber nicht. Robert Kirchner, der als stellvertretender Statistikchef die eher lebensnahen ökonomischen Daten der Bundesbank überwacht, legt die Stirn in Falten und sagt: „Man müsste sogar skeptisch werden, wenn die Erfahrung des Einzelnen identisch wäre mit dem Durchschnitt. Alles wäre dann gleich, und man bräuchte gar keine zusammenfassende Statistik. Wir brauchen sie ja, damit man sich vom Einzelfall nicht leiten lässt. Dass dann ein Abstand zwischen Einzelfall und Allgemeinem sein kann, das liegt ja auf der Hand.“ Was passiert aber, wenn der Abstand zwischen der Lebenswirklichkeit des Einzelnen und dem Mittel zu groß wird?

Im toten Winkel

Die Berechnung der Geldwertstabilität im Euro-Raum, immerhin der wichtigste Maßstab für die Geldpolitik, etwa: Ist die Teuerung in Südeuropa niedrig und in Nordeuropa hoch, ist das Mittel ausgeglichen. Dass der Deutsche aber die Tomaten, die in Italien billiger werden, nicht kauft, sondern sich über deutlich gestiegene Preise ärgert, das bleibt in dieser Logik sein Problem. „Natürlich“, sagt Hoffmann, „darf es unterschiedliche Interpretationen für einzelne Indikatoren geben. Schwierig wird es aber, wenn jemand sagt, die wahre Inflationsrate ist doppelt so hoch.“ Daran aber, da lassen sie hier bei den Hütern des Geldes keinen Zweifel, wollen sie nicht rütteln: Die Methode, mit der man etwa die Inflation messe, sei sicher. „Für alle Statistiken gilt, dass die Methodik und die Erhebungssysteme fortlaufend überprüft und angepasst werden“, sagt Chefstatistiker Stahl. Und Hoffmann ergänzt: „Aber man muss das abwägen: Denn auch Methodenkontinuität ist ein hohes Gut. Sie wollen ja Werte auch über die Zeit vergleichen, und das können sie nur, wenn auch die Erhebung vergleichbar bleibt.“ Die Welt der Statistiken und Daten, hier bei der Bundesbank ist sie unruhiger geworden. Aber das sieht man nicht als Grund, unruhig zu werden. Das meiste, da sind sich die drei Herren einig, sei doch ohnehin vom Gesetzgeber festgelegt: Welche Daten erhoben werden, welche Werte wie berechnet werden. „Dienstleister“ sei man hier eben. Seltsam passiv klingt das. Man nimmt ihnen, wie sie da sitzen, ab, dass es sie wirklich wundert, wenn die sorgsam aufbereiteten Zahlen in der Öffentlichkeit plötzlich ein Eigenleben entwickeln. „Makroökonomische Statistiken kann man nicht lesen wie ein Kassenbuch. Unser Wunsch wäre, das nicht zu verwechseln und die Unsicherheit immer angemessen in Rechnung zu stellen.“

Wertloser Mittelwert

Während sich Kirchner, Hoffmann und Stahl so gegen die Wirklichkeit abzusichern versuchen, zerrt diese immer heftiger an ihnen. Da sind Politiker, die in den Zahlen Bestätigung für ihre Politik suchen. Da sind Journalisten, die in den Zahlen Bestätigung für möglichst verkaufsfördernde Schlagzeilen suchen. Da sind Bürger, die in den Zahlen Halt für ihre Vorurteile suchen. „Die amtliche Statistik ist die beste, die wir haben. Man darf die Leistungsfähigkeit von Statistik aber auch nicht überschätzen“, sagt Kirchner. Und es klingt ein wenig, als sei Statistik unwillentlich verführt worden.

Zweifel der Zahlenmenschen

Es gibt neben der Bundesbank eine zweite Institution, die in Deutschland gesetzlich beauftragt ist, für Übersicht und Wahrheit zu sorgen. 1700 Menschen arbeiten in Wiesbaden daran, die deutsche Gesellschaft zu vermessen. Es ist der Hauptsitz des Statistischen Bundesamtes. Dort ist der Zweifel stärker gesät als in Bonn. Denn das, was die Menschen fühlen, und das, was die Statistiker hier messen – es passt oft nicht mehr zusammen. Sibylle von Oppeln-Bronikowski ist Direktorin des Statistischen Bundesamtes und leitet die Strategieabteilung. Die Volkswirtin arbeitet seit über 30 Jahren hier. Ihr Erweckungserlebnis stimmt mit dem der drei Bundesbanker überein: „Bei der Einführung des Euro haben wir erstmals einen spürbaren Unterschied festgestellt zwischen dem, was die Menschen fühlen, und dem, was die Zahlen sagen“, beschreibt sie. Denn damals riefen jeden Tag Menschen in der Telefonzentrale an, die nicht glauben wollten, was die Statistiker aus Wiesbaden ihnen beschrieben. Keine Preissteigerung? Kann nicht sein!

„Wir müssen viel daransetzen, dass Menschen nicht nur die Durchschnittswerte wahrnehmen“, Sibylle von Oppeln-Bronikowski, Destatis. Quelle: Alex Kraus für WirtschaftsWoche

Ein anderes Beispiel seien die Arbeitsmarktzahlen. Viele Menschen wollen nicht glauben, dass die Zahl der Erwerbstätigen wächst – wie die Statistik sagt. Der Anstieg liegt in erster Linie tatsächlich nicht daran, dass viel mehr Menschen einen festen Job haben. Sondern an der atypischen Beschäftigung: Wenn ein Arbeitssuchender einen 1-Euro-Job annimmt, gilt er als angestellt und fällt aus der Arbeitslosenstatistik raus – egal, wie prekär die Arbeitssituation. Solche Hintergründe verschwinden oft im toten Winkel.

„Wir müssen viel daransetzen, dass Menschen nicht nur die Durchschnittswerte wahrnehmen, sondern die gesamte Bandbreite der Zahlen, die zu diesen Durchschnittswerten führt“, sagt von Oppeln-Bronikowski. Die Statistiker in Wiesbaden passen derzeit einige Methoden an. So war es bislang so, dass bestimmte Phänomene mit Postleitzahlen, Landkreisen oder Bundesländern verknüpft wurden. „Unsere gängigen Raster können bestimmte Phänomene nur schwer beschreiben“, sagt von Oppeln-Bronikowski. Deshalb hat sie die geografische Zuordnung in bestimmten Erhebungen völlig umgekrempelt. Die Menschen werden nicht mehr einem Verwaltungsbezirk zugeordnet, sondern Quadrateinheiten auf der Landkarte. Denn ob eine Region wirtschaftlich boomt oder nicht, hängt nicht an ihrer Postleitzahl, sondern an Dingen wie der nahen Bahnstrecke, dem Breitbandausbau oder dem guten Autobahnanschluss. „Das kommt stärker an die Lebensrealität der Menschen ran“, sagt die Direktorin. Schließlich ist das wohl der größte Grund für das Misstrauen gegenüber den Zahlen. Denn der Durchschnitt in einer Statistik ist nur glaubwürdig, wenn Menschen das Gefühl haben, Teil davon zu sein.

Und nun?

Dabei gibt es Möglichkeiten, auch auf der abstrakten Zahlenebene das große Ganze im Blick zu behalten. Davon ist Silja Graupe überzeugt. Die 41-jährige Volkswirtin ist als Kind in einem mittelständischen Betrieb aufgewachsen. Ihre Eltern leiteten eine Fabrik für Metallteile. Doch Ende der Neunzigerjahre stand der Familienbetrieb vor einer typischen Entscheidung: Sollen wir unsere Produktion ins Ausland verlagern? Die Tochter beendete gerade ihr Studium als Wirtschaftsingenieurin. „Da stand ich mit meinem Studium und merkte, dass ich überhaupt nicht weiterhelfen konnte“, sagt die Wissenschaftlerin heute.

„Nur wer weiß, was hinter Statistiken steckt, kann sie richtig anwenden“, Silja Graupe, Ökonomin Cusanus Hochschule. Quelle: David Klammer für WirtschaftsWoche

Graupe begann, andere Disziplinen zu erforschen. Sie ging nach Japan und erkannte dort einen völlig anderen Blick auf die Wirtschaft. Sie verbindet die Inhalte ihres Wirtschaftsstudiums mit Erkenntnissen aus der Philosophie, der Kulturwissenschaft oder der Geschichte. Graupe hebt ihre Aktentasche auf den Tisch und zieht ein Lehrbuch heraus: Es ist ein Buch, das die meisten BWL- und VWL-Studierenden im ersten Semester bestellen: Gregory Mankiws Standardwerk.

Graupe schlägt eine Seite auf und deutet auf eine Tabelle, die Nachfrage vom jeweiligen Preis ableitet. Wenn eine Kugel Eis viel kostet, kaufen die Menschen wenig – wenn es billig ist, wird viel Eis gegessen. „Das ist das Problem. Es handelt sich um reine Gedankenexperimente, bei denen schon vorher feststeht, was sie beweisen sollen. Sie dienen dazu, vermeintliche Gesetze der Wirtschaft zu beweisen, haben aber keinen empirischen Gehalt“, sagt sie. Die ökonomische Statistik funktioniere nach physikalischen Grundsätzen, obwohl es um Menschen geht – mit all ihren Widersprüchen, Instinkten und Emotionen. Graupe bringt ihren Studenten an der Cusanus Hochschule in Bernkastel-Kues deshalb Statistik bei, die angereichert ist mit Hintergrund: geschichtlich, politisch, kulturell.

In der vergangenen Woche stand das Thema Emissionshandel auf dem Stundenplan ihrer Musterstudenten. Doch anstatt zu berechnen, was die Zertifikate im internationalen Wettbewerb bedeuten, haben sie die statistische Einheit CO2 hinterfragt. Sie diskutieren darüber, welche Umweltphänomene in den Hintergrund geraten sind, seit sich CO2 als standardisierte Einheit für ökologische Entwicklung etabliert hat. „Wir wollen, dass die Studierenden wissen, was hinter den Statistiken und Methoden steckt – nur dann kann man sie richtig anwenden und Alternativen entwickeln“, sagt sie.

Neue Wege in die Wirklichkeit, die suchen auch die Statistiker der Bundesbank. Mithilfe digitaler Technik und neueren Umfragemethoden versuchen sie seit einiger Zeit, der Realität auf ungewohnten Pfaden näherzukommen. Im Bankenbereich etwa verwenden sie Mikrodaten, also Daten über Einzelfälle. Für die Welt der Notenbank-Statistiker, die sich über Jahrzehnte mithilfe von Makrodaten die Welt erklärten, eine Revolution. Auf die Welt der Privathaushalte will man das aber nicht ausweiten.

Womöglich aber ist auch das nur ein Zwischenschritt. Denn längst nimmt digitale Datenanalyse das Feld der Statistiker für sich ein. Lösen Algorithmen also auf Dauer das Problem? Kirchner, der Mann aus der Bundesbank, ist skeptisch. Natürlich, vieles sei bei Big Data möglich. Andererseits: Big Data liefere eher zufällige Daten. Man wisse etwa nie, mit welcher Grundgesamtheit man im Netz aufgefischte Daten vergleichen solle. In Wiesbaden, bei den Chefstatistikern des Bundes, ist man etwas aufgeschlossener. In allen Abteilungen des Bundesamtes arbeiten Menschen daran, Datenströme in Erhebungen zu integrieren. Die Statistiker-Truppe, die die Preisentwicklungen in Deutschland beobachtet, setzt seit einigen Monaten Algorithmen ein: Die Maschine übermittelt Preisveränderungen im Netz in Echtzeit. Die Statistiker verhandeln mit Handelsketten, um Daten von Supermarktkassen auszuwerten. Die Auswirkungen von Big Data auf den Umgang mit Zahlen und Wahrheit seien womöglich so groß wie die Neuerfindung der Statistik im 17. Jahrhundert, schrieb Ökonom Davies im „Guardian“. Während die Daten der bisherigen Statistik allerdings in öffentlicher Hand lagern, liegen die Daten aus Big-Data-Analysen bei den großen privaten Konglomeraten des Netz-Zeitalters. Eine Post-Statistik-Gesellschaft wirft so womöglich ein ganz anderes Problem auf: Die Frage ist dann nicht mehr, ob Daten Wahrheit beschreiben. Sondern wer die Daten kontrolliert. Womöglich befinden sich Ulrich van Suntum, Marcel Fratzscher, die Herren von der Bundesbank und Frau von Oppeln in einer geschlagenen Schlacht, und der Streit tobt künftig nicht zwischen Wahrheit und alternativer Wahrheit, sondern einer öffentlich zugänglichen und einer privat gehüteten Wahrheit.

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