Volkswirtschaftslehre "Viele Professoren haben kein echtes Interesse an der Lehre"

Wie ist es um die Volkswirtschaftslehre in Deutschland bestellt? Ist sie methodisch und inhaltlich up to date - oder verschanzt sie sich hinter mathematischen Formeln jenseits der Realität? Vier Ökonomen diskutieren.

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Die Teilnehmer des Roundtables: Axel Dreher, Hans-Theo Normann, Matthias Göhner und Lisa Großmann. Quelle: Frank Beer für WirtschaftsWoche

Frau Großmann, Sie werfen den Wirtschaftswissenschaften vor, zu einseitig auf abstrakte Modelle zu setzen und den Bezug zur Realität verloren zu haben. Warum?

Großmann: Alternative Methoden und Denkschulen wie die Institutionenökonomik und ökologische Ökonomik bleiben außen vor. An den Hochschulen dominiert eine neoklassisch geprägte Mainstream-Ökonomie, die lose durch die Konzepte Gleichgewicht, Effizienz, Wettbewerb und rationales Verhalten sowie mathematische Modellierung zusammengehalten wird. Ich will nicht sagen, dass wir diesen Theoriezweig im VWL-Studium weglassen sollten. Nötig ist aber mehr methodische Vielfalt in Forschung und Lehre – und ein Heranrücken an die Realität. Wenn sich Wissenschaft allein über ihre Methodik definiert, läuft etwas falsch.

Herr Dreher, Herr Normann, was sagen Sie als Hochschullehrer dazu – ist der Vorwurf berechtigt?

Dreher: Überhaupt nicht. Die Ökonomie definiert sich nicht über Methoden, sondern über Inhalte. Seit den Sechzigerjahren ist die VWL viel weniger theoretisch geworden. Als ich studiert habe, wurde zum Beispiel kaum empirische Wirtschaftsforschung gelehrt. In Forschung und Lehre hat es in Deutschland in den letzten zehn Jahren einen Riesenschub gegeben. Ich finde, unsere Wissenschaft ist wunderbar relevant geworden.

Was heißt das konkret?

Dreher: Wir haben eine riesige Methodenvielfalt in der Forschung entwickelt. Empirische Arbeiten nehmen kontinuierlich zu. Ökonomen machen Feldstudien in Afrika, untersuchen konkrete Maßnahmen gegen Armut, Hunger und Korruption. Das sind Forschungsarbeiten ohne ideologisches Korsett und mathematische Modellierung. Das schlägt sich auch in der Lehre nieder.

Normann: Meine Mikroökonomie-Vorlesung für Masterstudenten besteht zu 75 Prozent aus Standardökonomie. Ich glaube trotzdem, dass die Ökonomie in den vergangenen 10, 15 Jahren einen völlig neuen Realitätsbezug bekommen hat. Früher wurde Theorie für Theoretiker gemacht, die Realitätsnähe war sekundär. Heute erleben wir einen Boom von Verhaltensökonomie, von empirischer und experimenteller Forschung. An den Homo oeconomicus glaubt doch keiner mehr! Im Übrigen, Frau Großmann, sind auch die traditionellen Analysemodelle flexibler, als Sie denken.

Zu den Personen

Großmann: Ich bin gespannt.

Normann: Sie können diese mit linken, rechten, liberalen oder auch ökologischen Fragestellungen füttern, die Modelle sind dank ihrer mathematischen Unterlegung ideologiefrei. Die abstrakte Methode ist für Ökonomen nur der Ausgangspunkt, sozusagen das Gebäude, in dem wir uns treffen und verständigen. Ein guter Ökonom muss die methodischen Grundlagen seines Faches beherrschen.

Großmann: Da antworte ich mit Popper: Wer von einer Theorie glaubt, sie auf jedes Problem anwenden zu können, hat weder die Theorie noch das Problem verstanden. Die von Ihnen beschriebene Vielfalt sehe ich nicht. Die VWL denkt und arbeitet in eine Richtung. Nehmen Sie nur das Beispiel der qualitativen Methoden. Wer bei einer Bachelor- oder Masterarbeit ein Interview oder eine Diskursanalyse einfließen lassen will, muss extrem kämpfen, damit die Universität das als wissenschaftliche Vorgehensweise anerkennt.

Dreher: In diesem Punkt gebe ich Ihnen recht. Dass Interviews als wissenschaftliche Methode bei uns nicht hoch angesehen sind, halte ich für einen Fehler.

Großmann: Was mich ebenso stört, ist die Geschichtsvergessenheit der heutigen Ökonomie. Das gesamte ökonomische Wissen ist doch in einem bestimmten historischen und kulturellen Kontext entstanden. Wo all die Modelle und Theorien herkommen, mit denen wir heute wie selbstverständlich arbeiten, das wird an den Universitäten so gut wie nicht mehr gelehrt. Ich habe in meinem Studium die Dogmengeschichte sehr vermisst.

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