Von Malte Fischer, Philipp Mattheis, Alexander Busch, Florian Willershausen und Jürgen Klöckner
Plötzlich ist sie wieder da, die südamerikanische Lebensfreude. Beim umjubelten Besuch von Papst Franziskus zeigten die Brasilianer in der vergangenen Woche, wie begeisterungsfähig sie sind. Für viele war der Besuch des Oberhaupts der katholischen Kirche ein willkommener Ausbruch aus dem tristen Alltag. Denn der ist seit geraumer Zeit von einer schwächelnden Wirtschaft, hoher Inflation, steigender Arbeitslosigkeit und lautstarken Protesten gegen kleptokratische Politiker geprägt.
Nicht nur in Brasilien, auch in China, Indien und Russland stehen die Zeichen auf Abschwung. Rund zehn Jahre nachdem die US-Bank Goldman Sachs aus den Anfangsbuchstaben von Brasilien, Russland, Indien und China das Kürzel BRIC bastelte und diesen Ländern eine glanzvolle Zukunft prophezeite, scheint der Traum vom ewigen Wachstum ausgeträumt. Der Weltwirtschaft und der exportorientierten deutschen Wirtschaft, die auf die Zugkraft der Schwellenländer setzen, stehen härtere Zeiten bevor.
Dabei hatten die BRIC-Staaten die hochgesteckten Erwartungen jahrelang durchaus erfüllt. Ihre Volkswirtschaften wuchsen teilweise mit zweistelligen Raten. Investoren, die ihr Geld dort anlegten, haben prächtig verdient – und mit ihnen die Fondsmanager der Banken.
Lag der BRIC-Anteil an der globalen Wirtschaftsleistung, um Kaufkraftunterschiede bereinigt, zu Beginn des Jahrtausends noch bei rund 16 Prozent, so sind es mittlerweile mehr als 26 Prozent. Das ist vor allem China zu verdanken. Die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt hat ihren Anteil an der globalen Wirtschaftsleistung seit dem Jahr 2000 von 7 auf knapp 16 Prozent erhöht. Wachstumsraten von über zehn Prozent fachten den Rohstoffhunger des Riesenreiches mächtig an. Das bescherte Brasilien und Russland, den Rohstofflieferanten unter den BRIC-Staaten, Exportrekorde und hohe Wachstumsraten. Auch die deutschen Unternehmen, die auf die Herstellung von Maschinen, Anlagen und Autos fokussiert sind, profitierten vom Superwachstum in China. Es half ihnen, die Durststrecke durch den Einbruch der Wirtschaft in Europa und den USA nach der Lehman-Pleite zu überwinden.
Die BRIC-Staaten schwächeln
BIP-Wachstum 2010: 10,4 Prozent
BIP-Wachstum 2013 (Prognose): 7,8 Prozent
Quelle: IWF
BIP-Wachstum 2010: 11,2 Prozent
BIP-Wachstum 2013 (Prognose): 5,6 Prozent
BIP-Wachstum 2010: 4,5 Prozent
BIP-Wachstum 2013 (Prognose): 2,5 Prozent
BIP-Wachstum 2010: 7,5 Prozent
BIP-Wachstum 2013 (Prognose): 2,5 Prozent
Nun aber droht das Wachstumswunder der BRIC zu Ende zu gehen. Chinas Bruttoinlandsprodukt (BIP) legte im zweiten Quartal dieses Jahres nur noch um 7,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zu. In Brasilien ist die Wirtschaft im vergangenen Jahr nur um 0,9 Prozent gewachsen, 2013 dürften es allenfalls 2,5 Prozent werden, schätzen die Ökonomen des Internationalen Währungsfonds (IWF). Das ist nur noch ein Drittel des Wachstumstempos aus dem Jahr 2010. Indiens Wachstum dürfte sich gegenüber 2010 halbieren, das Gleiche gilt für Russland. „Die länger andauernde Wachstumsverlangsamung in den Schwellenländern ist ein neues Risiko für die Weltwirtschaft“, warnt der IWF.
Dass den großen Schwellenländern die Luft ausgeht, ist vor allem darauf zurückzuführen, dass „die Wachstumsmodelle, die die BRIC-Staaten in den vergangenen Jahren so erfolgreich gemacht haben, nicht mehr funktionieren“, erklärt Joachim Fels, Chefökonom der US-Bank Morgan Stanley. In China gefährden die steigenden Lohnkosten und die Aufwertung der Währung die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie. Daher versucht die Regierung das bisherige export- und investitionsgetriebene Wachstumsmodell des Landes umzumodeln. Höherwertige Produkte, mehr Dienstleistungen und eine stärkere Binnennachfrage sollen Chinas Wirtschaft den Weg in die Zukunft weisen. Ob das planwirtschaftliche Experiment gelingt, steht in den Sternen. Paul de Grauwe, Ökonom an der London School of Economics, fürchtet, dass sich das Wachstum Chinas mittelfristig auf fünf Prozent abschwächt.
Für die anderen Schwellenländer wäre das eine Zäsur. Schon jetzt spüren Brasilien und Russland die schwächere Nachfrage aus Fernost. Verschärft wird ihre Misere durch den Verlust an Wettbewerbsfähigkeit – eine Folge der kräftigen Lohnsteigerungen in den vergangenen Jahren. Indiens Wirtschaft leidet noch immer unter einem Übermaß an Bürokratie und einem Mangel an Infrastruktur.
Druck der Finanzmärkte
Als wäre das nicht genug, geraten die BRIC-Länder nun auch noch unter den Druck der Finanzmärkte. Seit die US-Notenbank Fed andeutete, ihre Käufe von Staatsanleihen möglicherweise bald zu drosseln, sind die Renditen für US-Bonds in die Höhe geschossen. Investoren, die ihr Geld in den vergangenen Jahren in die Schwellenländer geleitet haben, holen dieses nun in die USA zurück. Die Verkaufswelle hat in den Schwellenländern Aktien, Anleihen und Wechselkurse nach unten geprügelt. Mit den schwachen Währungen steigen nun die Importrechnungen. Die Notenbank in Brasilien hat darauf schon reagiert und die Zinsen erhöht, was dem Wachstum einen zusätzlichen Dämpfer versetzt.
Das spüren auch die deutschen Exporteure. In den ersten fünf Monaten des Jahres sind ihre Ausfuhren nach Brasilien um 5,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr gesunken. Die Lieferungen nach Indien schrumpften im gleichen Zeitraum sogar um rund zehn Prozent. Die Lieferungen nach China gingen um 4,3 Prozent zurück, 2010 waren sie noch um mehr als 44 Prozent gestiegen. Das ist bitter, denn die Chinesen kaufen den Deutschen 6,1 Prozent aller Exporte ab (BRIC insgesamt: 9,4 Prozent). Damit stellt China den fünftgrößten Auslandsmarkt für deutsche Exporteure dar. Für die Maschinenbauer und die Hersteller elektrotechnischer Erzeugnisse ist China sogar der wichtigste Absatzmarkt im Ausland, für die Automobil- und Metallindustrie der zweitwichtigste.
Vor allem für die deutschen Anlagenbauer dürften im China-Geschäft bald magerere Zeiten anbrechen: „Der Kursschwenk Pekings weg von Investitionen sowie die straffere Geldpolitik werden die Ausfuhren der deutschen Maschinen- und Anlagenbauer bremsen“, prophezeit Andreas Rees, Deutschland-Chefvolkswirt der Bank UniCredit. Diesen Effekt könne auch ein besseres Amerika-Geschäft nicht ausgleichen, da China 10,2 Prozent aller Maschinen abnehme, die USA hingegen nur 9,1 Prozent. Auch die deutsche Chemieindustrie spürt die Schwäche aus Fernost. „Der chinesische Wachstumsmotor läuft nicht mehr auf Hochtouren“, sagt Kurt Bock, Chef des Chemieriesen BASF. Folge: Der Konzerngewinn ging im zweiten Quartal um 4,2 Prozent zurück.
Weniger pessimistisch zeigt sich Uni-Credit-Ökonom Rees für die deutschen Autobauer. Zwar erlebten sie in den vergangenen Monaten mit einem Minus von 21 Prozent einen starken Einbruch ihres Exportgeschäfts nach China. Doch bestehe in dem Riesenreich noch immer ein gewaltiger Nachholbedarf. So kommen in China derzeit auf 1000 Einwohner rund 60 Autos, in Deutschland sind es 600. „Der Appetit der Chinesen auf deutsche Autos wird weiter wachsen“, prognostiziert Rees.
Davon scheint man auch beim Autobauer BMW in München auszugehen. „Wir denken langfristig und haben auch in schwierigen Zeiten in Zukunftstechnologien und Standorte investiert“, heißt es dort. Im vergangenen Jahr eröffnete BMW für sein Gemeinschaftsunternehmen BMW Brilliance Automotive ein zweites Fahrzeugwerk in China. Zudem starteten die Münchner im Reich der Mitte eine lokale Motorenfertigung.
Profiteure des neuen Wachstumsmodells Chinas dürften eindeutig die Produzenten von Konsumgütern sein. So betrachtet der Sportartikelhersteller Adidas China nach wie vor als Wachstumsmarkt. In der Stadt Tianjin will Adidas im nächsten Jahr ein neues Distributionszentrum aufbauen, das die Kunden im Norden beliefert. Auch der Klebstoffhersteller Henkel setzt weiter auf China. Im Herbst vergangenen Jahres haben die Düsseldorfer dort ein neues Klebstoffwerk eröffnet.
Ob das Vertrauen der Unternehmen in China und die anderen Schwellenländer berechtigt ist, dürfte sich schon in den nächsten Monaten zeigen. Gelingt der Kurswechsel nicht und fährt das Land „vor die Wand“, wie der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman fürchtet, wäre der Traum von den BRIC als neuem Kraftzentrum der Weltwirtschaft endgültig ausgeträumt. Es würden auch andere Länder in Asien wie Japan, Indonesien, Taiwan und Korea, die wirtschaftlich stark mit China verflochten sind und aktuell noch ordentlich wachsen, heftig in Mitleidenschaft gezogen. Dann droht ein Dominoeffekt, dem auch der Aufschwung in Deutschland zum Opfer fällt.
Wie kippelig die Lage in den BRIC-Ländern ist, zeigt die Einzelanalyse auf den folgenden Seiten:
China: Riskanter Kurswechsel
Riskanter Kurswechsel. Die Welt hat über drei Jahrzehnte stark von Chinas bisherigem Wachstumsmodell profitiert. Das basierte im Kern darauf, dass Devisen aus dem Export von Billigprodukten in die Binnenwirtschaft investiert wurden – oft in massive Infrastrukturprojekte. Im laufenden Fünfjahresplan stecken sich die Pekinger Planer das Ziel, die stark investive Wirtschaft zu einer eher konsumptiven umzubauen – getrieben von der steigenden Kaufkraft am Binnenmarkt.
Das ist ein gewagtes Unterfangen: Das Wachstum soll zwar künftig nachhaltiger sein, aber in der Folge wird es sich zwangsläufig abschwächen. Denn weniger Investitionen haben ein niedrigeres Wachstum zur Folge. Langfristig könnte die Zentralbank die Zinsen erhöhen. Dies führt dann „zu geringerer Kreditaufnahme durch Staatsunternehmen, die wiederum ihre Investitionen in Infrastrukturprojekte reduzieren werden“, sagt Ashley Davies von der Commerzbank Singapur.
Im nächsten Schritt geht es um den Umbau des Finanzwesens. Bislang leihen die Staatsbanken bevorzugt staatlichen Unternehmen Geld – und zwar zum Festzins von fünf Prozent. Private Unternehmen kommen nur über einen grauen Markt und wesentlich teurer an Kapital, weshalb sie weniger investieren. Staatsbetriebe lassen sich wegen der Niedrigzinsen auch mal zu sinnlosen Projekten verführen. Das Geld fließt in immer neue Flughäfen, Bahnhöfe, Autobahnen und Wolkenkratzer – oft auch in leer stehende Städte oder Bauprojekte, die niemals rentabel werden können.
China und EU handeln jeden Tag für mehr als eine Milliarde Euro
China und Europa sind voneinander abhängig. Das Reich der Mitte wird in diesem Jahr zum größten Exportmarkt der Europäer aufsteigen und damit die USA überholen. Umgekehrt ist die Europäische Union der größte Abnehmer chinesischer Ausfuhren. Beide Seiten handeln jeden Tag mit Waren im Wert von mehr als einer Milliarde Euro.
Nach einem Zuwachs von 37 Prozent 2010 stiegen die europäischen Ausfuhren nach China im vergangenen Jahr von Januar bis November um 21 Prozent auf 124 Milliarden Euro. Deutschland hat mit deutlichem Abstand und knapp der Hälfte der EU-Ausfuhren nach China den größten Anteil daran, gefolgt von Frankreich und Großbritannien. 60 Prozent der EU-Ausfuhren waren Maschinen und Fahrzeuge.
Während die 27 EU-Länder im Jahr 2010 rund 19,8 Millionen Autos produzierten, waren es in China nicht viel weniger: rund 18,3 Fahrzeuge.
Die Importe aus China kletterten nach einem Anstieg von 31 Prozent 2010 im vergangenen Jahr bis November um weitere fünf Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum auf 244 Milliarden Euro. Seit Jahren gibt es ein großes europäisches Defizit im Handel mit China, das 2010 noch bei 168 Milliarden Euro lag. Aus diesem Überschuss sammelt China die Euros in seinen weltgrößten Devisenreserven im Wert von insgesamt 3,18 Billionen US-Dollar an. Rund ein Viertel sollen Euros sein.
Während die Leistungsbilanz der 27 EU-Länder im vergangenen Jahr bei minus 24 Milliarden Euro lag, konnte China einen deutlich positiven Saldo von 258 Milliarden Euro verbuchen. Auch das BIP der Chinesen war 2011 mit 12.900 Milliarden Euro mehr als doppelt so hoch wie das BIP der EU (5100 Milliarden Euro).
Die Wirtschaftskooperation zwischen Europa und China ist rasant gewachsen. Doch beklagen europäische Unternehmen in China schlechten Marktzugang, ungleiche Wettbewerbsbedingungen, mangelnde Transparenz und Rechtsunsicherheiten.
Schlechter Schutz des geistigen Eigentums ist unverändert ein großes Problem. Sieben von zehn in China tätigen europäischen Unternehmen wurden nach eigenen Angaben schon Opfer von Urheberrechtsverletzungen mit teils erheblichen Verlusten. Mehr als die Hälfte aller Raubkopien, die der Zoll in Europa sicherstellt, stammt aus China.
Die 27 EU-Staaten zählen mit 7,1 Milliarden Euro 2010 zu den fünf wichtigsten Investoren in China - neben Taiwan, Hongkong, USA und Japan. Rund 20 Prozent der ausländischen Direktinvestitionen in China stammen aus Europa. China investiert aber nur sehr zögerlich in Europa. Zwar stiegen die chinesischen Investitionen 2010 von 0,3 auf 0,9 Milliarden Euro, doch stammen nur 1,7 Prozent aller ausländischen Investitionen in Europa aus China.
Die Verzerrungen im Wettbewerb des Finanzsektors will Peking nun anpacken. Experten erwarten, dass eine Liberalisierung des Finanzsystem fünf bis zehn Jahre dauern wird. Profitieren könnten besonders kleinere private Unternehmen, die sich nicht mehr teures Geld am Schattenmarkt besorgen müssen – und in der Folge mehr investieren können. Darüber hinaus hofft die Regierung, dass die wachsende Mittelschicht weiter konsumiert.
Wirtschaftsforscher bremsen die Erwartungen, was die Wachstumszahlen betrifft: Der IWF rechnet für das laufende Jahr mit einen BIP-Zuwachs um 7,8 Prozent, zu Jahresbeginn hielt man noch mehr als acht Prozent für möglich. IHS-Global-Analystin Ren Xianfang sagt: „Langfristig erwarten wir ein Wachstum um sieben Prozent.“ Die Abkühlung auf hohem Niveau hat bereits zur Folge, dass die Exporte im Juni um 3,1 Prozent zum Vorjahresmonat gesunken sind. Allerdings steuern die Planer zuweilen fiskalpolitisch gegen, etwa mit einer Aufstockung der Mittel für den Eisenbahnbau – ganz geheuer scheint die Abkühlung auch Peking nicht zu sein.
Brasilien: Reformen verschlafen
Reformen verschlafen. Seit drei Jahren wächst Brasiliens Wirtschaft kaum noch. Die steigende Inflation hat die Wettbewerbsfähigkeit ruiniert, in der Leistungsbilanz klafft ein Defizit. Nun versucht die Regierung die Inflation mit Leitzinserhöhungen zu bekämpfen. Aber das ist nicht der Grund, weshalb sich im Juni spontan und überraschend Brasiliens Mittelschicht zu Massenprotesten auf den Straßen einfand. Die junge Elite wehrt sich gegen Korruption und Ineffizienz im Staatsapparat jenes Landes, das bis vor wenigen Jahren noch als Spitzenreiter unter den BRIC-Staaten galt.
Die Jugend stört, dass der Staat eine Dekade wirtschaftlicher Prosperität nicht genutzt hat – anders als etwa die USA im 19. Jahrhundert. Dort investierte man Einnahmen aus den Rohstoffsektoren in die Entwicklung von Dienstleistungsgewerbe und verarbeitender Industrie, sprich den Aufbau einer nachhaltigen Wirtschaftsstruktur. In Brasilien hätte man die Chance dazu gehabt, als hohe Liquidität am Finanzmarkt und Chinas Rohstoffnachfrage ein Zeitfenster von zehn Jahren für Reformen öffneten. Jetzt, so scheint es, ist es dafür zu spät.
Die Vorarbeit für den Umbau der Volkswirtschaft hatten die Brasilianer in den Neunzigerjahren geleistet: Währungsreform, Schuldenerlass und Privatisierungen bildeten die Voraussetzungen für stabiles Wachstum in Brasilien. Die Regierung des Arbeiterführers Luis Inácio Lula da Silva, der das Land von 2003 bis 20011 regierte, schuf mit Sozialhilfe und Lohnerhöhungen einen stabilen Binnenmarkt, der Brasilien ab 2008 fast schadlos durch die ersten Jahre der Wirtschaftskrise brachte. Nachfolgerin Dilma Rousseff setzte ebenso auf staatliche Nachfrage – auch dann noch, als die Rohstoffpreise sanken. Spätestens da aber hätte die Regierung ernsthafte Reformen angehen müssen, um Brasiliens Wirtschaft und den verkrusteten Verwaltungsapparat effizienter zu machen.
Doch die linke Regierung in Brasília stellte bloß ein schwachbrüstiges Infrastrukturprogramm auf. In Sachen Infrastruktur, Bildung, Sicherheit und nach der Qualität des Gesundheitssystems sind die Brasilianer immer noch miserabel versorgt. Und das, obwohl die Steuern in Brasilien so hoch sind wie in manchen Industrieländern.
Es ist zu bezweifeln, dass die durch die Proteste geschwächte Rousseff-Regierung im beginnenden Wahlkampf eine wirtschaftspolitische Wende vollziehen wird – diese Hoffnungen kann Brasilien nur eine neue Regierung bieten. Ob die kommt, ist völlig offen. Trotzdem halten Investoren Brasilien als Markt und Standort die Treue. Vor allem in den Bereichen Konsumgüter und Dienstleistungen ist das Land mit seinen 195 Millionen Einwohnern nicht zu ignorieren, zumal die Brasilianer pro Kopf deutlich mehr verdienen als Chinesen oder Inder.
Russland: der Fluch des Ölsegens
Der Fluch des Ölsegens. Um fast zehn Prozent ging der Nettogewinn von Gazprom 2012 zurück, womit der Gaskonzern aus Moskau den Titel des profitabelsten Unternehmens der Welt verloren hat. 29 Milliarden Euro Gewinn ist aber etwa so viel wie der Umsatz der Lufthansa. Man könnte den Gewinneinbruch als Luxusproblem abtun – wäre er nicht Sinnbild für Russlands strukturelles Problem: Die Volkswirtschaft hängt viel zu sehr am Auf und Ab des Ölpreises, dem der russische Gaspreis verzögert folgt. Weil der Ölpreis niedrig ist und die Nachfrage nach Pipelinegas aus Russland sinkt, steht die Wirtschaft des Landes insgesamt unter Druck.
Zahlen und Fakten zu Russland
Russland ist mit einer Fläche von 17.075.400 km² das größte Land der Erde.
Mit 141,85 Millionen Einwohnern liegt Russland auf Rang 9. Durch die Größe des Landes ergibt sich allerdings eine sehr dünne Besiedlung. Auf einem Quadratkilometer leben umgerechnet nur 8,3 Menschen.
Die Hauptstadt Russlands ist Moskau (Moskwa). Mit 11.514.300 Einwohnern ist Moskau die mit Abstand bevölkerungsreichste Stadt Russlands.
Das Bruttoinlandsprodukt lag im Jahr 2010 bei 1.480 Milliarden US-$. 59 Prozent der Leistung erwirtschaftet der Dienstleistungs-Sektor, 37 Prozent die Industrie, vier Prozent am BIP steuert die Landwirtschaft bei. Der reale Zuwachs lag im vergangenen Jahr bei 4,0 Prozent.
Russland importierte 2010 Waren im Wert von 229 Milliarden US-Dollar. Den größten Anteil haben die chemische Erzeugnisse (14 Prozent). Der Export lag bei 396 Milliarden US-Dollar. Größter Exportschlager sind Erdöl und -produkte, Erdgas und Kohle.
Russland ist in acht Föderationsgebiete mit insgesamt 83 Territorialeinheiten eingeteilt. Diese gliedern sich auf in 21 Republiken, neun Regionen, 46 Gebieten, einem autonomen Gebiet, vier autonomen Kreisen sowie zwei Städten mit Subjekt-Status (Moskau und St. Petersburg).
Russland ist größtenteils christlich geprägt, über 70 Prozent der Einwohner sind orthodoxe Christen, 14 Prozent Muslime, 1,4 Prozent Protestanten, 0,6 Prozent Katholiken sowie 0,5 Prozent Juden.
Im Juni hatte die Landeswährung Rubel zu Euro und Dollar um rund zehn Prozent abgewertet, die Zentralbank musste den Kurs stützen. Zwar profitieren die Rohstoffkonzerne vom niedrigen Rubelkurs, da die Förderkosten in lokaler Währung anfallen, die Ausfuhren aber in Dollar abgerechnet werden. Doch die Einnahmen aus dem Rohstoffexport gehen in den Konsum, Russlands zweite große Säule des Wachstums. Was die Russen kaufen, muss meistens importiert werden – und so sorgt der fallende Rubel für steigende Preise.
Bei einer Inflationsrate von aktuell rund sieben Prozent steckt der Kremlchef im Dilemma: Ein billiger Rubel würde zwar auch Industriesektoren jenseits von Öl und Gas helfen. Doch Russlands Industrieproduktion sinkt seit einem Jahr unaufhörlich, was sich spätestens in der nächsten Rezession auf die Beschäftigungssituation auswirken wird.
Das Land ist noch gut bedient, wenn das BIP im Jahr 2013 um 2,5 Prozent wächst, wie es der IWF errechnet hat. Für die folgende Dekade erwartet die Moskauer Investmentbank Renaissance Capital nur ein durchschnittliches Wachstum von zwei Prozent. Das rohstoffgetriebene Wirtschaftsmodell hat ausgedient. Die Regierung hat das erkannt, behauptet Vizeministerpräsident Arkadi Dworkowitsch gegenüber der WirtschaftsWoche: „Wir müssen die Wirtschaftsstruktur Russlands verändern und die Abhängigkeit von Öl- und Gasexporten reduzieren.“ In diesem Sinne verspricht der frühere Wirtschaftsberater von Ex-Präsident Dmitri Medwedew: „Wir werden den Staatsanteil in Russland weiter reduzieren, indem wir die Privatisierung vorantreiben.“ Teile des Ölriesen Rosneft sollen bis 2018 an die Börse kommen.
Auf längere Sicht müsste die Regierung noch weiter gehen: zum Beispiel alles tun, um kleine und mittelständische Unternehmen jenseits der Rohstoffbranchen zu fördern. Weniger Bürokratie, weniger Korruption und weniger Staatseinfluss, stattdessen mehr Offenheit, mehr Wettbewerb und mehr Rechtssicherheit wären vonnöten, um das Investitionsklima für in- und ausländische Investoren nachhaltig zu verbessern.
Die fragwürdige Verurteilung des Oppositionsführers Alexej Nawalny geht eher in die falsche Richtung und wirft die Frage auf, ob eine Modernisierung unter Präsident Putin möglich ist.
Indien: Vom Handel abgehängt
Vom Handel abgehängt. Es ist gar nicht lange her, da trauten Ökonomen Indien zu, China als Motor der Weltwirtschaft abzulösen. Über Jahre hinweg wuchs das BIP um bis zu zehn Prozent.
Eine Rückkehr zu zweistelligen Zuwächsen halten Experten für ausgeschlossen: „Der indische Traum ist vorerst ausgeträumt“, sagt Janis Hübner, Analyst für asiatische Länder der Dekabank. Seinen Prognosen zufolge wird sich das Wachstum bei sechs bis sieben Prozent pro Jahr einpendeln – zu wenig für das Land, in dem in den kommenden zehn Jahren mehr als 100 Millionen junge Leute auf den Arbeitsmarkt drängen.
Die Industrie tritt auf der Stelle und trägt nur ein Viertel zur Wirtschaftsleistung bei. Nicht einmal für billige Lohnfertigung in der Textilbranche, die China wegen steigender Kosten verlässt, empfiehlt sich Indien. Folge: Nach 24,1 Milliarden Dollar in 2009 hat sich das Volumen der Direktinvestitionen 2012 auf 11,3 Milliarden Dollar mehr als halbiert.
Die marode Infrastruktur ist die größte Wachstumsbremse; im vergangenen Jahr legte ein Blackout den Norden und Osten Indiens für zwei Tage lahm. Die Transportwege sind schlechter als anderswo in Asien, überdies gibt es praktisch keine freien Landflächen für Fabriken – und wenn, dann kann man sie nur über einen Spießrutenlauf durch die undurchsichtige Bürokratie erwerben.
Die Politik trägt wenig zur Besserung bei: Korruption zieht sich bis hoch in den Regierungsapparat von Neu-Delhi, die Bürokratie lähmt das Land. Statt die Wirtschaft zu liberalisieren, was die Grundlage für das letzte Wirtschaftswunder war, übt sich Neu-Delhi in Protektionismus: Ausländische Automobile hält der Staat mit Importzöllen von bis zu 75 Prozent vom Markt fern, wichtige Sektoren wie die Agrar- und Versicherungswirtschaft waren bisher für ausländische Investoren praktisch geschlossen.
Ein Umschwung ist nur durch tief greifende Reformen möglich. Seit sechs Jahren verhandelt Brüssel mit Indien über eine Freihandelszone – ohne Erfolg. Dabei könnte Indien neue Märkte gut gebrauchen: In der Außenhandelsbilanz klafft ein Minus von 8,5 Prozent vom BIP. Während China den Welthandel dominiert, liegt Indiens Anteil am Welthandel bei nur 1,7 Prozent.