Wirtschaftswissenschaft Abrechnung mit dem Homo oeconomicus

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Gegen den Mainstream

Angst ums Haus Quelle: Laif

Shiller war zunächst selbst ein Verfechter der Neoklassik, wandte sich jedoch in den Achtzigerjahren von ihr ab und kritisierte ihre Annahmen fortan als unzulässige Vereinfachungen: Menschen entscheiden in der Realität oft nicht rein rational, sondern sind von Emotionen, Gewohnheiten, kulturellen und sozialen Präferenzen geprägt, sie lassen sich von ihrem direkten Umfeld beeinflussen und besitzen nicht annähernd vollständige Information. Auf den Märkten finden sich daher zahlreiche Ineffizienzen und Anomalien: Preise, so die Verhaltensökonomen, können lange ohne Korrektur in eine Richtung streben oder extrem schwanken, ohne dass es dafür fundamental gerechtfertigte Gründe gibt.

Dass sich die Mainstream-Ökonomie so schnell auf die vereinfachten Annahmen eingelassen und den Markt nicht infrage gestellt habe, „war einer der größten Fehler in der Geschichte des ökonomischen Denkens“, sagt der 65-Jährige heute. Dadurch sei das Fach so weit verengt, dass es den Bezug zur Realität verloren habe. Die Finanzkrise legte dies schonungslos offen: Die meisten Ökonomen achteten nicht auf die exorbitanten Preisanstiege am US-Immobilienmarkt vor 2007 – der Markt konnte sich ja nicht irren. „Nicht nur, dass unsere Zunft die Krise nicht vorhergesagt hat. Viele Modelle haben eine Krise dieses Ausmaßes von vorneherein ausgeschlossen“, kritisiert Shiller.

Den Ökonomen der ersten Stunde war dieser Tunnelblick noch fremd. Sie, allen voran Adam Smith (1729–1790), verstanden sich in erster Linie als Moralphilosophen, die zur Analyse ökonomischer Zusammenhänge die Geschichte, Philosophie und Psychologie heranzogen. Shiller verweist gerne auf diese Wurzeln. Adam Smith konnte dem egoistischen, rationalen Individuum – entgegen der landläufigen Vorstellung über seine Thesen – wenig abgewinnen: „Wie selbstsüchtig ein Mensch auch scheinen mag, er ist von seinem Wesen her am Wohlergehen anderer interessiert, auch wenn er daraus nichts zieht als die bloße Freude“, schrieb der Urvater der Nationalökonomie in seinem 1759 erschienen ersten Hauptwerk „Die Theorie der moralischen Gefühle“. Und weiter: „Wir leiden mehr, wenn wir von einer besseren in eine schlechtere Situation geraten, als wir uns jemals freuen, wenn das Umgekehrte eintritt.“ Smith nahm damit das von den Verhaltensökonomen propagierte Konzept der Verlustaversion vorweg.

Ökonomen erliegen Physikneid

Lange Zeit verstand sich die Volkswirtschaftslehre als Universalwissenschaft. Robert Heilbroner sprach in seinem 1953 erschienenen Standardwerk von den großen ökonomischen Denkern als „Worldly Philosphers“ – den weltlichen Philosophen. Doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts drehte sich der Wind. Die Ökonomie wurde vom Positivismus erfasst: Einzig klare, messbare Ergebnisse zählten nun. Die historisierende, psychologisierende VWL jener Tage hatte viele in der Zunft enttäuscht, sie hatte zu wenig Greifbares vorzuweisen. Der berechenbare Homo oeconomicus kam da als neues Modellbild gerade recht. Mit ihm ließen sich elegante, präzise und zugleich einfache Modelle zur Funktionsweise von Märkten und Wirtschaftssystemen konstruieren. Die Wirtschaftswissenschaft sei zunehmend dem „Physikneid“ erlegen, klagt Shiller. „Ökonomen wollen gerne Naturwissenschaftler sein.“ Die Psychologie oder Soziologie lehnten sie als zu schwammig ab und grenzten so ihr Fach nach außen ab. „Dieser Gruppendruck wirkt“, sagt Shiller. „Menschen in Expertengruppen sorgen sich ständig um ihre persönliche Bedeutung und ihren Einfluss und befürchten Nachteile, wenn sie zu weit vom Konsens abrücken.“

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