Wirtschaftswissenschaft Der Vater des Protektionismus

Friedrich List gilt in Deutschland als historisch überholt. Dabei bietet er kluge Ansätze, wie der Staat die Wirtschaft fördern kann – und wann er lieber die Hände davon lassen sollte.

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Friedrich List Quelle: dpa

Es hat die Menschheit schon viele Krisen gekostet, um herauszufinden, welche ökonomischen Theorien in der Praxis als Handlungsempfehlung taugen und welche nicht. Friedrich List hat diese Überprüfung gleich selbst übernommen. „Das beste Werk, das man über Ökonomie lesen kann, ist das Leben“, resümiert er 1841, kurz vor seinem Tod. Zumindest wenn man es so lebt wie List, bleibt hinzuzufügen.

1828 zum Beispiel ist es die Idee des Eisenbahnbaus, die ihn erst theoretisch und dann praktisch in Wallung versetzt. Seit drei Jahren lebt er in den USA. Als Herausgeber des „Readinger Adlers“, einer Zeitung für deutsche Auswanderer, hat er sich einen gewissen Namen gemacht. Zunächst doziert er in Leitartikeln über die Entwicklungskraft, die im Eisenbahnbau schlummere. Schon früher, noch als Abgeordneter in Württemberg, hatte er für Investitionen in die Eisenbahn getrommelt. Doch zu Hause wollte sich niemand für seine Pläne begeistern. So macht er es eben ganz amerikanisch, nämlich selbst. Gemeinsam mit einem Konsortium von Unternehmern baut er eine Bahnstrecke von einer Kohle-Abbauregion in Pennsylvania zum nahen Schuylkyll-Fluss, von wo aus die Waren per Schiff weitertransportiert werden können. Es ist die dritte Eisenbahnlinie der USA, sie wird zum entscheidenden Wettbewerbsvorteil der Region – und List innerhalb kürzester Zeit zum reichen Mann.

Zitate zu Leben, Wohlstand und ökonomischen Theorien

Episoden wie diese gibt es reihenweise in Lists Leben. Friedrich List, dieser Steuereintreiber und Eisenbahnpionier, Staatsmann und Gefängnisinsasse, Publizist, Selbstmörder, Amerikaner und Württemberger in Personalunion hat anders als die meisten Ökonomen seine Ideen stets zur unmittelbaren Verwendung vorgesehen. Was er für richtig hielt, wollte er ausprobieren und beobachten, wie die Wirtschaft im Hier und Jetzt funktioniert, anstatt einen Idealzustand zu erträumen. Aus dem, was er erlebte, leitete er ab, was geht und was nicht. Er gründet den ersten Unternehmerbund der Neuzeit, gilt als Vater der Zollunion. Veit Valentin, der große Historiker der deutschen Revolution 1848/49, bezeichnet seine frühen Streitschriften zudem als einen Ausgangspunkt des Vormärzes. In Dresden trägt heute nicht die ökonomische, sondern die verkehrswissenschaftliche Fakultät seinen Namen, war doch List Vater der ersten Fernbahnlinie Deutschlands zwischen Leipzig und Dresden.

Reibungsvolle Theorie

Erst 1841, als er den Großteil seines kurzen Lebens und eine lange Liste unternehmerischer und politischer Tätigkeiten bereits hinter sich hat, veröffentlicht List sein Hauptwerk, das „Nationale System der politischen Ökonomie“, es sind die Lehren seines Lebens. Darin entwirft er eine Theorie der Wirtschaftsentwicklung, an der sich Kritiker und Verfechter bis heute reiben. Anders als Adam Smith, der ganz auf die heilsame Wirkung der ungezügelten Marktkräfte vertraut, spricht sich List für eine aktive Rolle des Staates aus. Damit die Wirtschaft prosperiere, müsse der Staat alles tun, um starke Industriezweige aufzubauen. Um das zu erreichen, sind aus seiner Sicht maßvolle Zölle unerlässlich. Zudem muss er für Rechtssicherheit sorgen und in Bildung investieren, aus Lists Sicht ist das Humankapital von heute das BIP von morgen.

Smiths Idee vom Markt, der sich selbst reguliert, ist aus Lists Sicht ein Traum, der nur funktionieren könne, weil er einen Akteur im Wirtschaftsgeschehen außer Acht lasse: die Nation. Smiths Aussage, was in der Privatökonomie richtig sei, werde in der Nationalökonomie kaum falsch sein, hält List entgegen: „Liegt es in der Natur des Individuums, auf die Bedürfnisse künftiger Jahrhunderte Bedacht zu nehmen, wie dies in der Natur der Nation liegt?“

Kern ökonomischer Lehre

Die größten Ökonomen
Adam Smith, Karl Marx, John Maynard Keynes und Milton Friedman: Die größten Wirtschafts-Denker der Neuzeit im Überblick.
Gustav Stolper war Gründer und Herausgeber der Zeitschrift "Der deutsche Volkswirt", dem publizistischen Vorläufer der WirtschaftsWoche. Er schrieb gege die große Depression, kurzsichtige Wirtschaftspolitik, den Versailler Vertrag, gegen die Unheil bringende Sparpolitik des Reichskanzlers Brüning und die Inflationspolitik des John Maynard Keynes, vor allem aber gegen die Nationalsozialisten. Quelle: Bundesarchiv, Bild 146-2006-0113 / CC-BY-SA
Der österreichische Ökonom Ludwig von Mises hat in seinen Arbeiten zur Geld- und Konjunkturtheorie bereits in den Zwanzigerjahren gezeigt, wie eine übermäßige Geld- und Kreditexpansion eine mit Fehlinvestitionen verbundene Blase auslöst, deren Platzen in einen Teufelskreislauf führt. Mises wies nach, dass Änderungen des Geldumlaufs nicht nur – wie die Klassiker behaupteten – die Preise, sondern auch die Umlaufgeschwindigkeit sowie das reale Produktionsvolumen beeinflussen. Zudem reagieren die Preise nicht synchron, sondern in unterschiedlichem Tempo und Ausmaß auf Änderungen der Geldmenge. Das verschiebt die Preisrelationen, beeinträchtigt die Signalfunktion der Preise und führt zu Fehlallokationen. Quelle: Mises Institute, Auburn, Alabama, USA
Gary Becker hat die mikroökonomische Theorie revolutioniert, indem er ihre Grenzen niederriss. In seinen Arbeiten schafft er einen unkonventionellen Brückenschlag zwischen Ökonomie, Psychologie und Soziologie und gilt als einer der wichtigsten Vertreter der „Rational-Choice-Theorie“. Entgegen dem aktuellen volkswirtschaftlichen Mainstream, der den Homo oeconomicus für tot erklärt, glaubt Becker unverdrossen an die Rationalität des Menschen. Seine Grundthese gleicht der von Adam Smith, dem Urvater der Nationalökonomie: Jeder Mensch strebt danach, seinen individuellen Nutzen zu maximieren. Dazu wägt er – oft unbewusst – in jeder Lebens- und Entscheidungssituation ab, welche Alternativen es gibt und welche Nutzen und Kosten diese verursachen. Für Becker gilt dies nicht nur bei wirtschaftlichen Fragen wie einem Jobwechsel oder Hauskauf, sondern gerade auch im zwischenmenschlichen Bereich – Heirat, Scheidung, Ausbildung, Kinderzahl – sowie bei sozialen und gesellschaftlichen Phänomenen wie Diskriminierung, Drogensucht oder Kriminalität. Quelle: dpa
Jeder Student der Volkswirtschaft kommt an Robert Mundell nicht vorbei: Der 79-jährige gehört zu den bedeutendsten Makroökonomen des vergangenen Jahrhunderts. Der Kanadier entwickelte zahlreiche Standardmodelle – unter anderem die Theorie der optimalen Währungsräume -, entwarf für die USA das Wirtschaftsmodell der Reaganomics und gilt als Vordenker der europäischen Währungsunion. 1999 bekam für seine Grundlagenforschung zu Wechselkurssystemen den Nobelpreis. Der exzentrische Ökonom lebt heute in einem abgelegenen Schloss in Italien. Quelle: dpa
Der Ökonom, Historiker und Soziologe Werner Sombart (1863-1941) stand in der Tradition der Historischen Schule (Gustav Schmoller, Karl Bücher) und stellte geschichtliche Erfahrungen, kollektive Bewusstheiten und institutionelle Konstellationen, die den Handlungsspielraum des Menschen bedingen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. In seinen Schriften versuchte er zu erklären, wie das kapitalistische System  entstanden ist. Mit seinen Gedanken eckte er durchaus an: Seine Verehrung und gleichzeitige Verachtung für Marx, seine widersprüchliche Haltung zum Judentum. Eine seiner großen Stärken war seine erzählerische Kraft. Quelle: dpa
Amartya Sen Quelle: dpa

So ist für List auch Freihandel nicht per se gut oder schlecht. Vielmehr hängt es vom Entwicklungsstand eines Staates ab, ob er durch Freihandel zu mehr Wohlstand gelangt. Was England nütze, könne Deutschland durchaus schaden. Aus dieser Einsicht leitet List sein Theoriekonstrukt der „Politischen Ökonomie“ ab, das den Außenhandel in Zusammenhang mit dem Entwicklungsstand eines Landes setzt.

Dabei wird List keineswegs als Revolutionär oder Freigeist geboren. 1789, während in Paris die Menschen entdecken, dass sich auch ohne König und Adel ein Staat machen lässt, kommt Daniel Friedrich List in Reutlingen zur Welt. Als ältester Sohn soll er den Gerbebetrieb des Vaters übernehmen, doch der reichlich unförmige junge Mann ist für praktische Tätigkeiten ungeeignet. Stattdessen findet er eine Anstellung in der württembergischen Landesverwaltung. Er ist ein ordentlicher Beamter, wird schnell befördert. Als man 1817 an der Universität Tübingen eine staatswissenschaftliche Fakultät einrichtet, wird List an die Spitze berufen.

Der gerade 28-Jährige bewundert aus der Ferne, wie sich England zum Manufakturstaat wandelt und dem Kontinent in Reichtum und Macht immer stärker enteilt. Um zu England aufzuschließen, ist aus Lists Sicht vor allem eines nötig: Die deutschen Kleinstaaten müssen ihre Zollschranken fallen lassen. Ab 1815 betätigt er sich publizistisch, um diesem Ziel näher zu kommen. So schwärmt er im „Allgemeinen Anzeiger der Deutschen“ von den Vorzügen des Freihandels, am liebsten auf dem ganzen Kontinent. 1819 gründet List gemeinsam mit einer Schar von Kaufleuten in Frankfurt den „Deutschen Handels- und Gewerbeverein“, dessen Ziel die Vollendung der Zollunion ist. Als ihr Bevollmächtigter reist List durch die Hauptstädte des noch losen Staatenbundes, um für seinen Plan zu werben. In Wien spricht er bei Metternich vor, in München bei König Ludwig I. Wenig später wird er in den württembergischen Landtag gewählt.

Literatur von und über Friedrich List

In seinen Schriften aus dieser Zeit, die vor allem Eingaben und Briefe umfassen, formt sich ein Kern seiner ökonomischen Lehre: Grundlage wirtschaftlichen Erfolgs ist die innere Verfasstheit eines Staates. „Wie fleißig, erfinderisch, unternehmend, moralisch und intelligent die Individuen seien, ohne Nationaleinheit wird die Nation nie einen hohen Grad von Wohlstand erlangen.“

List beschränkt diese Aussage nicht nur auf Zollpolitik. Obwohl sich seine Rezeption bis heute vor allem auf Werke zur Handelspolitik bezieht, galt sein Interesse einem umfassenden Blick auf die Staatstätigkeit. Das zeigt eine Kritik an seinem Konterpart Smith, den er mit einem Maler vergleicht, „der zwar Einzelheiten mit bewunderungswürdiger Genauigkeit zu zeichnen vermag, sie aber nicht zu einem harmonischen Ganzen zu verbinden gewusst, und der so ein Monstrum gemalt, dessen vortrefflich gezeichnete Glieder verschiedenartigen Körpern angehört haben“.

Drei Voraussetzungen für Wohlstand

Dieses harmonische Ganze findet List in den „produktiven Kräften“, heute würde man von Humankapital sprechen, auf deren Entwicklung eine Gesellschaft zielen müsse, um zu Wohlstand zu gelangen. Er nennt drei Voraussetzungen, damit diese Kräfte gedeihen können: ökonomische, geistige und gesellschaftliche. Ökonomische Voraussetzung ist angesichts des Entwicklungsniveaus seiner Zeit zunächst eine entwickelte Landwirtschaft, geistige Basis ein funktionierendes Bildungssystem. Hinzukommen müssten „Institutionen und Gesetze, welche dem Bürger Sicherheit der Person und des Eigentums, den freien Gebrauch seiner geistigen und körperlichen Kräfte sichern“ – ein Satz, der auch knapp 200 Jahre später alles enthält, was über ein freiheitliches Verständnis von notwendiger Staatstätigkeit zu sagen ist.

Doch der Ökonom muss schmerzlich erfahren, dass die vorsichtig keimende Meinungsfreiheit in Deutschland klare Grenzen kennt. Die überschreitet List, als er 1821 die „Reutlinger Petition“ veröffentlicht. Darin prangert er die Macht und Korrumpiertheit des Beamtenapparats im Staate Württemberg an und beruft sich sodann darauf, dort, „wo Freiheit, Ehre und Vermögen des Bürgers durch verfassungswidrige Handlungen der Staatsfunktionäre bedroht sind“, werde „es wohl keiner Entschuldigung bedürfen, wenn der Verfolgte an die öffentliche Meinung appelliert“. Er sollte sich irren. Denn aus dem respektierten Intellektuellen wird mit diesem Schreiben ein Gejagter, der sein Leben lang um Anerkennung und Einkommen ringen muss und den diese Umstände schließlich sogar in den Tod treiben.

Ökonomisches Weltbild aus den USA

Die Amerikanische Flagge Quelle: AP

Die Strafe für die Veröffentlichung lautet zehn Monate Festungshaft. List flieht nach Frankreich, dann in die Schweiz. Doch auch wenn er dort geduldet ist, politischer Anspruch und monetäre Not treiben ihn zurück nach Schwaben. Er spekuliert auf ein Gnadengesuch, doch im Sommer 1824, wenige Tage nach seiner Rückkehr, wird er festgesetzt und muss seine Festungshaft auf dem Hohenasperg, dem gefürchtetsten Gefängnis seiner Zeit, antreten. In dramatischen Appellen unter anderem an seinen Verleger Cotta in Stuttgart dringt er darauf, sich für seine Freilassung einzusetzen. Schließlich gelingt das, doch als Gegenleistung muss er in die USA auswandern.

So schwer dem Patrioten List diese Entscheidung fällt, für sein ökonomisches Werk wird sie zum Dreh- und Angelpunkt. List erreicht Amerika fast mittellos, doch unter der Obhut eines mächtigen Mannes. Den Marquis de la Fayette, Held der französischen Unabhängigkeitsbewegung und des amerikanischen Bürgerkriegs, hatte List während seiner Flucht in Paris kennengelernt. Er nimmt ihn mit auf Reisen durch die Staaten Neuenglands. Wie schon in der Heimat macht List sich bald als Publizist einen Namen. Als er dann eigenhändig einen bedeutenden Kohlefund macht und den Bau einer Eisenbahnlinie organisiert, geht es auch wirtschaftlich rasant bergauf. Doch auch wenn List inzwischen die amerikanische Staatsbürgerschaft hat, es zieht ihn zurück in die Heimat. 1830 nimmt er das Angebot des Präsidenten Andrew Jackson an, die USA als Konsul für alle deutschen Lande in Hamburg zu vertreten. Zumindest glaubt er das, als er Anfang Dezember das Schiff gen Le Havre betritt.

Wichtiger noch als für seine persönliche Finanzlage ist der Aufenthalt in den USA für sein ökonomisches Weltbild, das er zunächst als Beobachter in seinen „Mittheilungen aus Amerika“ beschreibt und dann in den „Outlines of Political American Economy“ 1827 auch als theoretisches Konstrukt zu Papier bringt. Er beschreibt darin ein Land, dem es mithilfe von Schutzzöllen gelungen ist, neben der englischen Handelsmacht erfolgreich zu bestehen. Er kommt zu der Überzeugung, dass die Freihandelsideologie vor allem ein Mittel Englands ist, schwächer entwickelte Staaten in Abhängigkeit zu zwingen. In seinem Hauptwerk fragt er „ob nicht gar jene Theorie nur darum so weitbauchig angelegt ist, damit sie, als ein hellenisches Ross, Waffen und Männer berge und uns verleite, unsere Schutzmauern mit unsern eigenen Händen niederzureißen“. Die britischen Politiker und Ökonomen spielen in seinen Augen ein falsches Spiel: „In ihren Worten waren sie immer Philanthropen, in ihrem Streben jederzeit Monopolisten.“

Idee des Erziehungszolls

Als Beispiel für seine These dient ihm Portugal, das sich 1703 auf einen folgereichen Vertrag eingelassen hatte: Als Gegenleistung für ein portugiesisches Weinmonopol auf dem englischen Markt musste das südeuropäische Land alle Schutzzölle gegenüber England für den Heimatmarkt fallen lassen. Auch wenn gerade dieser Vertrag dem Freihandelstheoretiker David Ricardo als Paradebeispiel für die Vorzüge offener Märkte diente, aus Lists Sicht waren die Folgen verheerend: „Unmittelbar nach Vollziehung ward Portugal von englischen Manufakturwaren überschwemmt, und die Folge war: plötzlicher und vollständiger Ruin der portugiesischen Fabriken.“

Er setzt deshalb auf eine dreistufige Zollpolitik, an deren Ende gleichwohl das Ideal der möglichst unbeeinflusst agierenden Marktteilnehmer steht. Er denkt dabei aus der Sicht des Staates in Entwicklungsstufen. Auf der untersten Stufe steht der Agrarstaat ohne eigene Industrien. Für den ist es zunächst attraktiv, sich auf freien Handel mit entwickelten Nationen einzulassen. Denn so findet er Absatzmärkte für seine Waren und kann selbst Maschinen importieren, um die Produktion effizienter zu gestalten. Sobald im Land genügend Kapital und Wissen vorhanden ist, ist es aus Sicht Lists jedoch notwendig, ein System von Schutzzöllen zu entwickeln, das den Aufbau eigener Industrien ermöglicht. Er sieht dabei klare Grenzen für diese „Erziehungszölle“: „Das zweckmäßige Schutzsystem gewährt den inländischen Manufakturisten kein Monopol, sondern nur denjenigen Individuen eine Garantie gegen Verluste, die ihre Kapitalien neuen, noch unbekannten Industrien widmen.“

Wenn dieser Schritt erfolgreich ist, muss der Staat alsbald gegensteuern. Eine Rückkehr zum Freihandel wird nötig, sobald sich ein Land zur Handelsmacht entwickelt hat. Sonst stellt sich nach Lists Ansicht Trägheit unter den Produzenten ein. „Indem man nur zu erhalten, nicht aber zu erwerben strebt, geht man zugrunde“, beschwört List den Wert des Konkurrenzdrucks, „denn jede Nation, die nicht vorwärts schreitet, sinkt tiefer und muss zuletzt versinken.“ So selbstverständlich das bei List klingt, in der Praxis ist sein Konzept voller Tücken. Der politische Versuch, eine Marktabschottung zu beenden, ruft stets und überall mächtige Interessengruppen auf den Plan. Fast alle Länder, die sich an der Umsetzung von Lists Theorien versucht haben, sind an der Frage des richtigen Timings gescheitert.

US-Vertreter in Sachsen

Friedrich List Quelle: dpa

Lists Rückkehr nach Europa hält für ihn zunächst eine herbe Enttäuschung bereit. Statt als Konsul an der Alster zu logieren, sitzt er in Paris fest. Seine alten Gegner an der Spitze des württembergischen Staates weigern sich, den Querkopf als diplomatischen Ansprechpartner für alle deutschen Fürstentümer zu akzeptieren. Nach einigem Hin und Her wird ihm ein Posten als Vertreter der USA in Sachsen angeboten. Doch die Tätigkeit füllt ihn weder aus, noch entspricht sie seinem Naturell. So sucht er sich andere Betätigungsfelder und entwickelt Pläne zum Bau einer Eisenbahnlinie von Leipzig nach Dresden. Ihm schwebt ein Aktionärsmodell vor, wie er es in den USA erfolgreich praktiziert hat, er rechnet auf Heller und Pfennig vor, ab welcher Kundenzahl das Unterfangen welchen Ertrag bringt.

Wieder erweist sich Lists Idee zwar als richtig, doch den Ertrag ernten andere: Der sächsische Staat nimmt das Projekt in Angriff, für List bleibt nur eine kleine Prämie. Auch seine US-Unternehmungen werfen immer geringeren Ertrag ab. Als die ökonomische Not wächst, kehrt List der Heimat erneut den Rücken und geht nach Paris, wo er sich 1837 an einem ökonomischen Ideenwettbewerb der Akademie beteiligt. „Le Système Naturel de l’Économie Politique“ nennt List seine Schrift.

Die große öffentliche Resonanz weckt in List den Gedanken, sein Werk auch in der Heimat zu veröffentlichen. Das „nationale System der politischen Ökonomie“ wird ein publizistischer Erfolg. Doch immer stärker haftet List das Stigma des Außenseiters an, auch ein erneutes Gnadengesuch scheitert. Sein Auskommen bestreitet er aus seltener werdenden journalistischen Auftragsarbeiten. Im November 1846 bricht er zu einer Reise nach Italien auf und macht in Kufstein Rast. Am Morgen findet man ihn erschossen in seinem Zimmer, neben ihm eine Pistole.

Zu hause fast vergessen

Es passt zu Lists tragischer Schaffensgeschichte, dass er heute in seiner Heimat fast vergessen ist. „Ich bekomme oft Anfragen zu Beiträgen über List, doch nie aus Deutschland“, sagt Eugen Wendler, emeritierter Wirtschaftsprofessor aus Reutlingen, der gerade einen Beitrag für einen List-Sammelband fertiggestellt hat, der in Korea verlegt wird. In 15 Sprachen ist Lists Hauptwerk übersetzt worden, in den USA ist es als Taschenbuch verfügbar. In Deutschland liegt die letzte nennenswerte Neuauflage 80 Jahre zurück.

Dabei folgten auf Lists Tod zunächst Jahrzehnte, in denen sich die deutsche Wirtschaftswissenschaft an ihm abarbeitet. Für seine Schutzzollpolitik nach 1878 beruft sich Otto von Bismarck direkt auf Lists Lehren. Im Dritten Reich versucht die Führung, die Theorie des Kosmopoliten List in ihr totalitäres Schema zu pressen. Mit dem Erfolg, dass die Ideen des liberalen Interventionisten nach Kriegsende in der Versenkung verschwinden.

Doch während List in Deutschland in Vergessenheit gerät, erlebt er anderswo sein Comeback. Als die westliche Welt nach 1990 erwartet, dass mit dem Ende des Kommunismus der uneingeschränkte Kapitalismus zum Konsens in der Weltwirtschaft wird, passiert in Asien das Gegenteil. Ob Südkorea, Indien, China oder Indonesien: Die wirtschaftlichen Aufsteiger verbinden ihr Entwicklungsmodell allesamt mit einer aktiven Rolle des Staates.

Mit deren Erfolg gewinnt auch Lists Theorie neue Bedeutung: als ideologiefreie Einsicht in die Wirkungszusammenhänge der realen Wirtschaftswelt. Denn Lists Denkgebäude kennt kein „ceteris paribus“, kein „was wäre wenn“. Stattdessen verrät es, wie der Akteur Staat in der Realität zum Nutzenmaximierer seiner Untertanen werden kann. Egal an welche Theorie sich seine Nachbarn und Handelspartner gerade halten.

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