So ist für List auch Freihandel nicht per se gut oder schlecht. Vielmehr hängt es vom Entwicklungsstand eines Staates ab, ob er durch Freihandel zu mehr Wohlstand gelangt. Was England nütze, könne Deutschland durchaus schaden. Aus dieser Einsicht leitet List sein Theoriekonstrukt der „Politischen Ökonomie“ ab, das den Außenhandel in Zusammenhang mit dem Entwicklungsstand eines Landes setzt.
Dabei wird List keineswegs als Revolutionär oder Freigeist geboren. 1789, während in Paris die Menschen entdecken, dass sich auch ohne König und Adel ein Staat machen lässt, kommt Daniel Friedrich List in Reutlingen zur Welt. Als ältester Sohn soll er den Gerbebetrieb des Vaters übernehmen, doch der reichlich unförmige junge Mann ist für praktische Tätigkeiten ungeeignet. Stattdessen findet er eine Anstellung in der württembergischen Landesverwaltung. Er ist ein ordentlicher Beamter, wird schnell befördert. Als man 1817 an der Universität Tübingen eine staatswissenschaftliche Fakultät einrichtet, wird List an die Spitze berufen.
Der gerade 28-Jährige bewundert aus der Ferne, wie sich England zum Manufakturstaat wandelt und dem Kontinent in Reichtum und Macht immer stärker enteilt. Um zu England aufzuschließen, ist aus Lists Sicht vor allem eines nötig: Die deutschen Kleinstaaten müssen ihre Zollschranken fallen lassen. Ab 1815 betätigt er sich publizistisch, um diesem Ziel näher zu kommen. So schwärmt er im „Allgemeinen Anzeiger der Deutschen“ von den Vorzügen des Freihandels, am liebsten auf dem ganzen Kontinent. 1819 gründet List gemeinsam mit einer Schar von Kaufleuten in Frankfurt den „Deutschen Handels- und Gewerbeverein“, dessen Ziel die Vollendung der Zollunion ist. Als ihr Bevollmächtigter reist List durch die Hauptstädte des noch losen Staatenbundes, um für seinen Plan zu werben. In Wien spricht er bei Metternich vor, in München bei König Ludwig I. Wenig später wird er in den württembergischen Landtag gewählt.
Literatur von und über Friedrich List
Lists Standardwerk ist auf Deutsch nur noch antiquarisch erhältlich. In englischer Sprache ist es hingegen verfügbar (National System of Political Economy; Cosimo Classics, 2011, 22 Dollar). Die Lektüre lohnt sich dennoch ungemein: Neben Lists Entwicklungstheorie ist es vor allem seine historische Analyse des Aufstiegs und Niedergangs von Handelspremieren wie Venedig, der Hanse oder Spaniens, die bis heute lesenswert ist.
Beck, 2008, 359 Seiten, 15 Euro. Das Buch beschreibt die zentralen Ideen einflussreicher Ökonomen bis zum Beginn des 20.Jahrhunderts, darunter neben Friedrich List auch Adam Smith, David Ricardo und Thomas Malthus. Die Verelendungstheorien von Malthus hielt List übrigens für Mumpitz: Die Menschheit werde jedwedes Bevölkerungswachstum durch Innovation bewältigen, so sein bis heute unwiderlegtes Argument.
In seinen Schriften aus dieser Zeit, die vor allem Eingaben und Briefe umfassen, formt sich ein Kern seiner ökonomischen Lehre: Grundlage wirtschaftlichen Erfolgs ist die innere Verfasstheit eines Staates. „Wie fleißig, erfinderisch, unternehmend, moralisch und intelligent die Individuen seien, ohne Nationaleinheit wird die Nation nie einen hohen Grad von Wohlstand erlangen.“
List beschränkt diese Aussage nicht nur auf Zollpolitik. Obwohl sich seine Rezeption bis heute vor allem auf Werke zur Handelspolitik bezieht, galt sein Interesse einem umfassenden Blick auf die Staatstätigkeit. Das zeigt eine Kritik an seinem Konterpart Smith, den er mit einem Maler vergleicht, „der zwar Einzelheiten mit bewunderungswürdiger Genauigkeit zu zeichnen vermag, sie aber nicht zu einem harmonischen Ganzen zu verbinden gewusst, und der so ein Monstrum gemalt, dessen vortrefflich gezeichnete Glieder verschiedenartigen Körpern angehört haben“.
Drei Voraussetzungen für Wohlstand
Dieses harmonische Ganze findet List in den „produktiven Kräften“, heute würde man von Humankapital sprechen, auf deren Entwicklung eine Gesellschaft zielen müsse, um zu Wohlstand zu gelangen. Er nennt drei Voraussetzungen, damit diese Kräfte gedeihen können: ökonomische, geistige und gesellschaftliche. Ökonomische Voraussetzung ist angesichts des Entwicklungsniveaus seiner Zeit zunächst eine entwickelte Landwirtschaft, geistige Basis ein funktionierendes Bildungssystem. Hinzukommen müssten „Institutionen und Gesetze, welche dem Bürger Sicherheit der Person und des Eigentums, den freien Gebrauch seiner geistigen und körperlichen Kräfte sichern“ – ein Satz, der auch knapp 200 Jahre später alles enthält, was über ein freiheitliches Verständnis von notwendiger Staatstätigkeit zu sagen ist.
Doch der Ökonom muss schmerzlich erfahren, dass die vorsichtig keimende Meinungsfreiheit in Deutschland klare Grenzen kennt. Die überschreitet List, als er 1821 die „Reutlinger Petition“ veröffentlicht. Darin prangert er die Macht und Korrumpiertheit des Beamtenapparats im Staate Württemberg an und beruft sich sodann darauf, dort, „wo Freiheit, Ehre und Vermögen des Bürgers durch verfassungswidrige Handlungen der Staatsfunktionäre bedroht sind“, werde „es wohl keiner Entschuldigung bedürfen, wenn der Verfolgte an die öffentliche Meinung appelliert“. Er sollte sich irren. Denn aus dem respektierten Intellektuellen wird mit diesem Schreiben ein Gejagter, der sein Leben lang um Anerkennung und Einkommen ringen muss und den diese Umstände schließlich sogar in den Tod treiben.