Wirtschaftswissenschaft Der Vater des Protektionismus

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US-Vertreter in Sachsen

Friedrich List Quelle: dpa

Lists Rückkehr nach Europa hält für ihn zunächst eine herbe Enttäuschung bereit. Statt als Konsul an der Alster zu logieren, sitzt er in Paris fest. Seine alten Gegner an der Spitze des württembergischen Staates weigern sich, den Querkopf als diplomatischen Ansprechpartner für alle deutschen Fürstentümer zu akzeptieren. Nach einigem Hin und Her wird ihm ein Posten als Vertreter der USA in Sachsen angeboten. Doch die Tätigkeit füllt ihn weder aus, noch entspricht sie seinem Naturell. So sucht er sich andere Betätigungsfelder und entwickelt Pläne zum Bau einer Eisenbahnlinie von Leipzig nach Dresden. Ihm schwebt ein Aktionärsmodell vor, wie er es in den USA erfolgreich praktiziert hat, er rechnet auf Heller und Pfennig vor, ab welcher Kundenzahl das Unterfangen welchen Ertrag bringt.

Wieder erweist sich Lists Idee zwar als richtig, doch den Ertrag ernten andere: Der sächsische Staat nimmt das Projekt in Angriff, für List bleibt nur eine kleine Prämie. Auch seine US-Unternehmungen werfen immer geringeren Ertrag ab. Als die ökonomische Not wächst, kehrt List der Heimat erneut den Rücken und geht nach Paris, wo er sich 1837 an einem ökonomischen Ideenwettbewerb der Akademie beteiligt. „Le Système Naturel de l’Économie Politique“ nennt List seine Schrift.

Die große öffentliche Resonanz weckt in List den Gedanken, sein Werk auch in der Heimat zu veröffentlichen. Das „nationale System der politischen Ökonomie“ wird ein publizistischer Erfolg. Doch immer stärker haftet List das Stigma des Außenseiters an, auch ein erneutes Gnadengesuch scheitert. Sein Auskommen bestreitet er aus seltener werdenden journalistischen Auftragsarbeiten. Im November 1846 bricht er zu einer Reise nach Italien auf und macht in Kufstein Rast. Am Morgen findet man ihn erschossen in seinem Zimmer, neben ihm eine Pistole.

Zu hause fast vergessen

Es passt zu Lists tragischer Schaffensgeschichte, dass er heute in seiner Heimat fast vergessen ist. „Ich bekomme oft Anfragen zu Beiträgen über List, doch nie aus Deutschland“, sagt Eugen Wendler, emeritierter Wirtschaftsprofessor aus Reutlingen, der gerade einen Beitrag für einen List-Sammelband fertiggestellt hat, der in Korea verlegt wird. In 15 Sprachen ist Lists Hauptwerk übersetzt worden, in den USA ist es als Taschenbuch verfügbar. In Deutschland liegt die letzte nennenswerte Neuauflage 80 Jahre zurück.

Dabei folgten auf Lists Tod zunächst Jahrzehnte, in denen sich die deutsche Wirtschaftswissenschaft an ihm abarbeitet. Für seine Schutzzollpolitik nach 1878 beruft sich Otto von Bismarck direkt auf Lists Lehren. Im Dritten Reich versucht die Führung, die Theorie des Kosmopoliten List in ihr totalitäres Schema zu pressen. Mit dem Erfolg, dass die Ideen des liberalen Interventionisten nach Kriegsende in der Versenkung verschwinden.

Doch während List in Deutschland in Vergessenheit gerät, erlebt er anderswo sein Comeback. Als die westliche Welt nach 1990 erwartet, dass mit dem Ende des Kommunismus der uneingeschränkte Kapitalismus zum Konsens in der Weltwirtschaft wird, passiert in Asien das Gegenteil. Ob Südkorea, Indien, China oder Indonesien: Die wirtschaftlichen Aufsteiger verbinden ihr Entwicklungsmodell allesamt mit einer aktiven Rolle des Staates.

Mit deren Erfolg gewinnt auch Lists Theorie neue Bedeutung: als ideologiefreie Einsicht in die Wirkungszusammenhänge der realen Wirtschaftswelt. Denn Lists Denkgebäude kennt kein „ceteris paribus“, kein „was wäre wenn“. Stattdessen verrät es, wie der Akteur Staat in der Realität zum Nutzenmaximierer seiner Untertanen werden kann. Egal an welche Theorie sich seine Nachbarn und Handelspartner gerade halten.

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