Wissenschaft Eiserne Gesetze der Ökonomik gibt es nicht

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Herdenverhalten und selbsterfüllender Prophezeiung

Dax-Kurve Quelle: dpa

Die Ökonomik lehrt, dass Handel von wechselseitigem Nutzen für alle Beteiligten ist, dass Märkte für gute Verfahren sorgen, um individuelle Aktivitäten zu koordinieren – und dass es staatlicher Regulierungen und Eingriffe bedarf, um Marktversagen oder gesellschaftlich ungewollte Marktergebnisse zu korrigieren. Inwieweit der Staat und inwieweit der Markt einer Gesellschaft ermöglichen, ihre Ziele – Friede, Freiheit, Sicherheit, Gerechtigkeit, Wohlstand – zu erreichen, ist aber nicht ein für allemal und überall gleich beantwortbar. Vielmehr ändert sich die Arbeitsteilung zwischen Staat und Markt von Land zu Land und Zeit zu Zeit ständig. Richtig bleibt, dass Spezialisierung, Arbeitsteilung und Tausch dazu führen können, dass es allen besser geht. So sehr können noch nicht müssen bedeutet und so unstrittig die langfristigen Handelsvorteile sind – so sehr ist auch richtig, dass Arbeitsteilung und Handel zunächst einmal dazu führen, dass es sowohl Gewinner als auch Verlierer gibt. Wirklich alle profitieren nur dann, wenn die Gewinner eines Handelsgeschäfts zumindest einen Teil ihres Zugewinns an die Verlierer abtreten, sei es, indem sie ihre Angestellten am wirtschaftlichen Erfolg teilhaben lassen, oder sei es, dass sie mehr als andere zur Finanzierung öffentlicher Güter beitragen. Und wichtig bleibt, dass „besser“ ein Werturteil bleibt, das von Person zu Person unterschiedlich eingestuft wird.

Die größten Ökonomen
Adam Smith, Karl Marx, John Maynard Keynes und Milton Friedman: Die größten Wirtschafts-Denker der Neuzeit im Überblick.
Gustav Stolper war Gründer und Herausgeber der Zeitschrift "Der deutsche Volkswirt", dem publizistischen Vorläufer der WirtschaftsWoche. Er schrieb gege die große Depression, kurzsichtige Wirtschaftspolitik, den Versailler Vertrag, gegen die Unheil bringende Sparpolitik des Reichskanzlers Brüning und die Inflationspolitik des John Maynard Keynes, vor allem aber gegen die Nationalsozialisten. Quelle: Bundesarchiv, Bild 146-2006-0113 / CC-BY-SA
Der österreichische Ökonom Ludwig von Mises hat in seinen Arbeiten zur Geld- und Konjunkturtheorie bereits in den Zwanzigerjahren gezeigt, wie eine übermäßige Geld- und Kreditexpansion eine mit Fehlinvestitionen verbundene Blase auslöst, deren Platzen in einen Teufelskreislauf führt. Mises wies nach, dass Änderungen des Geldumlaufs nicht nur – wie die Klassiker behaupteten – die Preise, sondern auch die Umlaufgeschwindigkeit sowie das reale Produktionsvolumen beeinflussen. Zudem reagieren die Preise nicht synchron, sondern in unterschiedlichem Tempo und Ausmaß auf Änderungen der Geldmenge. Das verschiebt die Preisrelationen, beeinträchtigt die Signalfunktion der Preise und führt zu Fehlallokationen. Quelle: Mises Institute, Auburn, Alabama, USA
Gary Becker hat die mikroökonomische Theorie revolutioniert, indem er ihre Grenzen niederriss. In seinen Arbeiten schafft er einen unkonventionellen Brückenschlag zwischen Ökonomie, Psychologie und Soziologie und gilt als einer der wichtigsten Vertreter der „Rational-Choice-Theorie“. Entgegen dem aktuellen volkswirtschaftlichen Mainstream, der den Homo oeconomicus für tot erklärt, glaubt Becker unverdrossen an die Rationalität des Menschen. Seine Grundthese gleicht der von Adam Smith, dem Urvater der Nationalökonomie: Jeder Mensch strebt danach, seinen individuellen Nutzen zu maximieren. Dazu wägt er – oft unbewusst – in jeder Lebens- und Entscheidungssituation ab, welche Alternativen es gibt und welche Nutzen und Kosten diese verursachen. Für Becker gilt dies nicht nur bei wirtschaftlichen Fragen wie einem Jobwechsel oder Hauskauf, sondern gerade auch im zwischenmenschlichen Bereich – Heirat, Scheidung, Ausbildung, Kinderzahl – sowie bei sozialen und gesellschaftlichen Phänomenen wie Diskriminierung, Drogensucht oder Kriminalität. Quelle: dpa
Jeder Student der Volkswirtschaft kommt an Robert Mundell nicht vorbei: Der 79-jährige gehört zu den bedeutendsten Makroökonomen des vergangenen Jahrhunderts. Der Kanadier entwickelte zahlreiche Standardmodelle – unter anderem die Theorie der optimalen Währungsräume -, entwarf für die USA das Wirtschaftsmodell der Reaganomics und gilt als Vordenker der europäischen Währungsunion. 1999 bekam für seine Grundlagenforschung zu Wechselkurssystemen den Nobelpreis. Der exzentrische Ökonom lebt heute in einem abgelegenen Schloss in Italien. Quelle: dpa
Der Ökonom, Historiker und Soziologe Werner Sombart (1863-1941) stand in der Tradition der Historischen Schule (Gustav Schmoller, Karl Bücher) und stellte geschichtliche Erfahrungen, kollektive Bewusstheiten und institutionelle Konstellationen, die den Handlungsspielraum des Menschen bedingen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. In seinen Schriften versuchte er zu erklären, wie das kapitalistische System  entstanden ist. Mit seinen Gedanken eckte er durchaus an: Seine Verehrung und gleichzeitige Verachtung für Marx, seine widersprüchliche Haltung zum Judentum. Eine seiner großen Stärken war seine erzählerische Kraft. Quelle: dpa
Amartya Sen Quelle: dpa

Ähnlich zu relativieren sind die ökonomischen Grundprinzipien, dass Märkte mikroökonomische Aktivitäten gut koordinieren können, dass sie aber manchmal versagen – und dass deshalb Reg(ul)ierungen das Marktergebnis verbessern können. Hier ist die Frage entscheidend, was Regel und was Ausnahme ist. Für die realwirtschaftliche Sphäre, also für die Herstellung von Gütern und Dienstleistungen, hat sich in den vergangenen 200 Jahren empirisch gezeigt, dass unsichtbare Hände eine auch gesamtwirtschaftlich brauchbare Arbeit leisten. Die sichtbaren Hände der Politik haben zu oft ein Staatsversagen zur Folge gehabt. Nur eine kluge Wettbewerbspolitik, Kartell- und Fusionsgesetzgebung vermag das Versagen freier Märkte zu verhindern oder zu korrigieren.

Effiziente Finanzmärkte? Welch ein Irrtum!

Ganz anders als in der realwirtschaftlichen Sphäre sieht es in der monetären Sphäre aus. Über Jahrzehnte dominierte in der Ökonomik die Überzeugung, dass auf Finanzmärkten Effizienz die Regel und Marktversagen die Ausnahme sei. Die Deregulierung der Finanzmärkte in den letzten Jahrzehnten gründete auf eben dieser Effizienzmarkthypothese: Börsenkurse würden stets alle verfügbaren Informationen rational und richtig widerspiegeln. Neue Informationen führten zu einer sofortigen Anpassung. Deshalb seien deregulierte Finanzmärkte die bestmöglichen Signalgeber für Produzenten, Warenhändler, Investoren und Sparer.

Die Finanzmarktkrise hat die Effizienzmarkthypothese mit aller Brutalität als falsifiziert entlarvt. Erwartungen über die Erwartungen anderer Akteure treiben das Verhalten auf Finanzmärkten. Daraus erwächst eine Neigung zu Herdenverhalten und selbsterfüllender Prophezeiung: Erwarten die Marktakteure einen steigenden Preis, lockt dies Spekulanten an, die erstens genau diese Erwartung provozieren, um dann zweitens auf steigende Preise zu wetten. Dadurch steigt der Preis tatsächlich, und die anfänglichen Erwartungen werden ex post gerechtfertigt – was wiederum neue Spekulanten anzieht. Wenn alle (oder viele) Akteure an (falsche, oder bewusst provozierte) Erwartungen glauben, werden diese scheinbar wahr. In der Realität führen dann Herdenverhalten, Eigendynamik, Panik, automatische Verhaltensregeln, vor allem aber Eigeninteresse und mikroökonomisches Gewinnstreben von Anlegern, Händlern, Ratingagenturen und Finanzinstituten auf zu stark deregulierten Finanzmärkten zu gesamtwirtschaftlicher Ineffizienz und schlimmstenfalls zu gesamtwirtschaftlichen Krisen.

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