Marketing-Sünden Unternehmen ertrinken in Kundendaten

Unternehmen, die klug mit dem Wissen über ihre Kunden umgehen, können ihre Gewinne steigern. Wer aber zu viele Daten sammelt, ertrinkt darin, warnen Forscher: Viele Firmen investieren zwar in teure Kundenverwaltungssoftware, denken beim Marketing aber immer noch zuerst an das Produkt und nicht an die Wünsche der Kunden.

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Künftig könnte die Anzahl der Freunde in Online-Netzwerken ein wichtiger Indikator für den Wert einzelner Kunden sein. Quelle: dpa Quelle: handelsblatt.com

KÖLN. Manchmal überrascht Werner Reinartz die Firmen mit seinen Ratschlägen. Der Kölner Marketing-Professor empfahl einem IT-Unternehmen: "Stecken Sie weniger Geld ins Marketing, und verkaufen Sie trotzdem mehr." Bislang hatte der IT-Konzern jeden Geschäftskunden gleich behandelt und regelmäßig mit Angeboten versorgt. Für Reinartz, der sich auf Kundenmanagement spezialisiert hat, ist das aber keine erfolgversprechende Strategie.

"Jeder einzelne Kunde hat einen speziellen Wert für das Unternehmen, also muss auch jeder einzelne Kunde individuell beworben werden", bringt der Forscher die Herausforderung auf eine einfache Formel. Mit einfachen Wahrscheinlichkeitsrechnungen prognostizieren Reinartz und seine Kollegen, zu welchem Zeitpunkt die einzelnen Kunden Interesse an neuen Produkten haben könnten, und versorgten sie erst dann gezielt mit Werbung. Die Ergebnisse können sich sehen lassen. "Mit der individuellen Vorgehensweise wurde in einer Testgruppe eine Million Dollar mehr eingenommen und wurden gleichzeitig Kosten gespart", sagt Reinartz.

Immer mehr Professoren verfolgen einen solchen Forschungsansatz, bei dem sie den Wert des einzelnen Kunden für das Unternehmen ermitteln wollen. Diese Sichtweise ist neu: Früher fragten die Wissenschaftler danach, wie Kundenzufriedenheit und-loyalität aufgebaut und gemessen werden können; heute wollen sie wissen, wie viel Profit tatsächlich mit einzelnen Kunden zu machen ist.

"Ein zufriedener und loyaler Kunde bringt dem Unternehmen nichts, wenn er nichts kauft", erklärt Reinartz. Studien, die belegen, dass individuelles Kundenmanagement effizient ist, tragen dazu bei, dass Marketingstrategen nun auch in der Praxis von teuren Massenkampagnen abrücken.

Reinartz hat ein Modell entwickelt, mit dem Unternehmen individuelle Kundenprofile erstellen können. Dort fließen harte Faktoren wie Umsatz oder Servicekosten, die durch den einzelnen Kunden entstehen, ein. Diese seien relativ leicht zu messen, erklärt Reinartz. Schwieriger und manchmal auch unmöglich zu bestimmen seien dagegen weiche Faktoren. "Zum Beispiel, ob der Kunde vernetzt ist und andere potenzielle Käufer für das Unternehmen begeistert."

Telekommunikationsunternehmen könnten beispielsweise an der Handyrechnung ablesen, ob "der Kunde viele soziale Kontakte hat oder immer dieselbe Nummer wählt", sagt der münsterische Marketing-Professor Manfred Krafft. Künftig könne auch die Anzahl der Freunde in Online-Netzwerken wie Facebook oder SchülerVZ ein wichtiger Indikator für den Wert einzelner Kunden sein, so Krafft.

Die Forscher kritisieren, dass viele Unternehmen zwar in teure Kundenverwaltungssoftware investieren, beim Marketing jedoch noch immer zuerst an ihr Produkt und erst dann an die Wünsche des Kunden denken. Entscheidend sei nicht die Frage, wie man ein Produkt an den Mann bringen könne, sondern vielmehr die Frage, was der Kunde überhaupt braucht.

Genau das herauszufinden ist bei einer überschaubaren Zahl von Geschäftskunden und persönlichem Kontakt von Käufer und Verkäufer vergleichsweise einfach. Komplizierter wird es für Hersteller von Konsumartikeln, deren Kunden im Internet bestellen oder im Kaufhaus zugreifen. "In diesem Bereich muss man die Kundendaten zusammenfassen, um nützliche Prognosen über den Kundenwert erstellen zu können", sagt Bernd Skiera, Marketing-Professor an der Frankfurter Goethe-Universität.

Ein Telekommunikationsanbieter könne beispielsweise ausrechnen, wie wahrscheinlich es ist, dass ein Vertragskunde, der einer bestimmten Kundengruppe zuzuordnen ist, langfristig treu bleibt. Mit dieser Information ließe sich dann genau bestimmen, wie viel Geld für die Kunden-Akquise in der Zielgruppe ausgegeben werden soll. Skiera spricht in diesem Zusammenhang vom "Kundenlebenswert", dem Geldbetrag, den der Kunde später einbringt, minus des Gelds, das anfangs in ihn investiert werden muss.

Gerade für Unternehmen mit eher anonymen Kunden ist es wichtig, besonders wertvolle Kunden ausfindig zu machen - "zum Beispiel diejenigen, die sich gut mit dem Markt auskennen und dem Unternehmen praktische Tipps geben können", sagt Skiera. Er hat herausgefunden, dass Verbraucher, die auf virtuellen Aktienmärkten aktiv sind und dort erfolgreich mit imaginären Unternehmensanteilen handeln, für Unternehmen besonders interessant sind: "Mit diesem Verfahren kann man die sogenannten Lead-User identifizieren, die dann bei der Produktentwicklung wichtige Hinweise liefern können." Vor allem Finanzinstitute wendeten diese Methode bereits erfolgreich an.

Der münsterische Marketingexperte Krafft hat gerade ein Projekt einer Großbank begleitet, die ihre inaktiven Kunden "aus dem Dornröschenschlaf wecken" will. Ein Computerprogramm durchkämmte die Kundendaten nach bestimmten Kriterien und filterte diejenigen heraus, die ein großes ungenutztes Umsatzpotenzial haben. Die Bank versorgte diese Zielgruppe dann mit maßgeschneiderten Angeboten. Mehr als 40 Prozent der schlummernden Kunden waren bereit, die Bank als zukünftige Hausbank in Betracht zu ziehen, sagt Krafft. Die Bank wende das Modell jetzt bundesweit an.

Eine wichtige Rolle spielt der Kundenwert auch dann, wenn Unternehmen abgesprungene Kunden zurückholen wollen. So würden beispielsweise Kreditkartenhersteller ausrechnen, welche Gewinne ihnen durch die einzelnen abtrünnigen Kunden verloren gehen, und ihnen daraufhin verbesserte Angebote machen, in denen die Anbieter auf einen Teil ihres Gewinns verzichten. "Solche Strategien haben natürlich ihre Grenzen", schränkt Krafft ein. Und zwar dann, wenn Kunden dahinterkämen, dass die Unternehmen im Zweifelsfall bereit sind, auf Gewinne zu verzichten. Solche Kunden pokern dann.

Wenn Forscher und Unternehmen in der Lage sind, den Wert einzelner Kunden zu ermitteln, ist es nur noch ein kleiner Schritt, um daraus den Wert des gesamten Unternehmens abzuleiten. Ökonom Skiera kam diese Idee, als es zur Jahrtausendwende "plötzlich massenweise Unternehmen gab, die nichts besaßen außer Kundenpotenzialen".

An der Börse waren diese Firmen trotzdem sehr viel wert. Aus dieser Beobachtung entstand die Idee, den Unternehmenswert nicht mehr an den üblichen Kennzahlen, sondern an der Zahl und den addierten Kundenlebenswerten festzumachen. In Skieras aktueller Forschungsarbeit sei es mit dieser Methode gelungen, künftige Aktienkurse eines Unternehmens gut vorherzusagen. Ein Vorteil des Ansatzes, bei dem das Verhalten von Kundenkohorten abgeschätzt wird, sieht der Forscher darin, "dass auch zukünftige Gewinne von aktuell verlustreichen Unternehmen berechnet werden können".

Skiera konzentriert sich in seiner Forschung auf Unternehmen, die im Internet aktiv sind und dort ihre Werbung schalten. Die Offenheit des Internets lässt sein Forscherherz höherschlagen, weil sich online genau verfolgen lässt, "welcher Benutzer eine Anzeige liest, wer daraufhin zum Kunden wird und wie profitabel ein solcher Kunde ist".

Negativ formuliert könnte man den Kunden-Forschern vorwerfen, dass ihr Ziel ein gläserner Kunde sei, dessen Kaufverhalten bis auf den letzten Cent vorhersagbar ist. Da sei schon etwas dran, gibt der Kölner Forscher Reinartz zu. "Andererseits ist aber völlig klar, dass es einen solchen Kunden niemals geben wird."

Denn die Kunden würden sich gegen dieses Ansinnen wehren, indem sie sich auf sogenannte Robinson-Listen setzen lassen, die vor unerwünschter Werbung schützen. Nicht für jeden Kunden gelte eben, je mehr Informationen und Werbung, desto besser. Ein Unternehmen mache erst dann gutes Marketing, wenn es darauf Rücksicht nehme, dass bestimmte Kunden "einfach in Ruhe gelassen werden wollen", sagt Reinartz.

Die Unternehmen sammelten schon heute mit Hilfe von Kundenkarten eher zu viele als zu wenige Informationen. Diese Datenflut sei nicht mehr produktiv verwertbar. Das Ergebnis: "Es werden weiter wahllos Massenkampagnen gestartet und die Kunden mit Informationen überhäuft", so Reinartz. Für Zufriedenheit sorge das nicht. "Wenn ich einen Hund habe, aber mit Werbung für Katzenfutter zugeschüttet werde, hab ich als Kunde nicht den Eindruck, verstanden zu werden."

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