Marktchaos Studie rüttelt an Ursachen der Finanzkrise

Nahezu alle Experten sehen die Bilanzregeln für Banken als eine Ursache für das Chaos auf den Finanzmärkten. Zwei international führende Professoren für Rechnungslegung zweifeln genau dies an. Sollte die Studie der wissenschaftlichen Diskussion standhalten, muss ein wichtiges Kapitel der Finanzkrise neu geschrieben werden.

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Was sind die Ursachen für die 2007 in Gang gekommene Finanzkrise? Zwei Forscher ziehen gängige Theorien in Zweifel. Quelle: ap Quelle: handelsblatt.com

LONDON. Es kommt nicht oft vor, dass Ökonomen, Politiker und Banker allesamt der gleichen Meinung sind - erst recht nicht, wenn es um die Ursachen der Finanzkrise geht. Eine dieser seltenen Ausnahmen ist die Frage: Welche Rolle haben die Bilanzierungsregeln für Banken in der Finanzkrise gespielt? Fast alle Experten sind überzeugt, dass die Vorschriften zur Rechnungslegung wie ein Brandbeschleuniger gewirkt haben.

Am Pranger steht die sogenannte Fair-Value-Bilanzierung. Sie habe, so der Tenor der Kritiker, die Banken gezwungen, ihre Wertpapiere stets zu aktuellen Marktpreisen (Mark-to-market) zu bewerten. Dies habe dazu geführt, dass der Zustand der Bankbilanzen zu stark von den aktuellen Marktentwicklungen abhing.

Als die Märkte ab Sommer 2007 verrückt spielten, sei ein Teufelskreis in Gang gekommen: Die Preise für Wertpapiere, in denen US-Hypotheken steckten, kollabierten; die Banken mussten drastische Abschreibungen vornehmen, die ihr Eigenkapital dezimierten. Weil neues Kapital nicht mehr zu beschaffen war, hätten die Geldhäuser ihre problematischen Wertpapiere möglichst schnell und zu jedem Preis verkaufen müssen. Das habe zu erneuten Abschreibungen geführt. Zudem hätten die Banken wegen des schrumpfenden Eigenkapitals ihre Kreditvergabe zurückfahren müssen.

So plausibel diese Argumentation klingt - stimmt sie überhaupt? Zwei international führende Professoren für Rechnungslegung ziehen das in einer neuen Studie nachdrücklich in Zweifel. Christian Laux von der Frankfurter Goethe-Universität und Christian Leuz von der Booth School of Business der University of Chicago haben sich tief in die Bilanzen amerikanischer Banken eingegraben. Das Forscherteam hat erstmals im Detail analysiert, wie die Geldinstitute ihre Wertpapiere vor und in der Krise tatsächlich verbucht haben.

In der Praxis, so stellen Laux und Leuz fest, hatten die Banken weit größere Freiheiten, als die Kritiker unterstellen. Und diese nutzten die Geldinstitute auch großzügig aus. Die Studie, die im "Journal of Economic Perspectives" erscheint, birgt einigen Sprengstoff. Sollte sie der wissenschaftlichen Diskussion standhalten, muss ein wichtiges Kapitel der Finanzkrise neu geschrieben werden.

Die Kritik an den bisherigen Vorschriften wäre relativiert - ebenso wie die lautstarken Forderungen von Banken und Versicherungen nach einer Lockerung der Regeln. Für Hyun Song Shin, Ökonomie-Professor an der US-Uni Princeton, ist die Argumentation der Studie "ziemlich überzeugend". Angesichts der großen politischen Aufregung rund um das Thema Fair-Value-Accounting sei die Botschaft sehr überraschend.

Grundlage der Arbeit sind detaillierte Bilanzdaten, die amerikanische Investment- und Geschäftsbanken regelmäßig der US-Notenbank Federal Reserve und der Börsenaufsicht SEC vorlegen müssen. Anhand dieser öffentlich zugänglichen Zahlen lässt sich die Bilanzstruktur der US-Banken im Verlauf der Krise relativ genau nachvollziehen. Die Forscher wissen, welche Posten wann wie bewertet wurden.

Ihr Fazit: "Mit Blick auf hypothekenbesicherte Wertpapiere ist die Vorstellung, dass die Bewertung zu aktuellen Marktpreisen bei US-Banken weit verbreitet war, ein Mythos." Es gebe keine Belege dafür, dass die Banken gezwungen waren, die Papiere mit künstlich niedrigen Preisen zu bewerten, und dass die Bilanzregeln tatsächlich die vielbeschworenen Notverkäufe und Abwärtsspiralen in Gang gesetzt haben.

Die Kritiker der bisherigen Bilanzierungsregeln, so die implizite Botschaft der Studie, wissen nicht, worüber sie reden - weil sie womöglich zu wenig über die institutionellen Details der Rechnungslegung wissen. "Reine Bilanzierung nach Marktpreisen kann in einer Krise tatsächlich zu Problemen führen", räumen Laux und Leuz ein. "Aber es ist wichtig zu wissen, dass die Fair-Value-Buchführung, die die US-Bilanzvorschriften vorgeben, sich vom reinen Mark-to-market deutlich unterscheidet."

Die gängige Kritik übersehe wichtige Details. So zwängen die in den USA gültigen Vorschriften die Banken keineswegs, alle Wertpapiere stets zu aktuellen Marktpreisen zu bewerten. "Keine Bank ist gezwungen, Preise zur Bewertung heranzuziehen, die durch Illiquidität verzerrt sind", betonen Laux und Leuz.

Tatsächlich gibt es beim Fair-Value-Accounting eine dreistufige Bewertungshierarchie. Sie reicht vom lupenreinen Mark-to-market ("Level 1") bis hin zur Bewertung anhand von Modellen mit nicht öffentlich zugänglichen Parametern ("Level 3"). Gerade diese letzte Stufe gebe den Kreditinstituten "beträchtlichen Ermessensspielraum", betonen die Wissenschaftler. "Die Banken konnten für Wertpapiere wie hypothekenbesicherte Anleihen in erheblichem Maße von einer reinrassigen Marktpreisbewertung abweichen."

Die Forscher stellten fest: Die großen Geschäftsbanken wendeten das Fair-Value-Accounting ohnehin nur für ein Drittel aller Aktiva an. Davon waren selbst im ersten Quartal 2007 - also vor Ausbruch der Finanzkrise - nur 34 Prozent zu tatsächlichen Marktpreisen bewertet. Auf dem Höhepunkt der Krise zwei Jahre später galt dies nur noch für 19 Prozent aller nach Fair Value verbuchten Papiere.

Im Verlauf der Finanzkrise bewerteten die Banken einen immer größeren Anteil ihrer Bilanzpositionen mit Modellen, bei denen sie oft selbst die Annahmen bestimmten: Bei den US-Investmentbanken stieg das Volumen der so bewerteten Wertpapiere zwischen Anfang 2007 und Ende 2008 um 53 Prozent, bei den Geschäftsbanken lag das Plus bei 131 Prozent.

Wie die Banken in der Krise ihre Bilanzen schönten

Aber haben nicht möglicherweise auch die selbst aufgestellten Modelle die Institute zu übermäßig niedrigen Bewertungen gezwungen? Laux und Leuz gehen auch dieser Frage nach, finden aber keine Indizien dafür. Eher sei das Gegenteil der Fall. Einiges deute darauf hin, dass die Geldinstitute ihre faulen Wertpapiere auch mitten in der Krise eher zu hoch bewertet hätten. Als Fallbeispiel führen die Forscher ein Geschäft von Merrill Lynch an: Die Investmentbank verkaufte strukturierte Wertpapiere, die einst einen Nennwert von gut 30 Milliarden Dollar hatten, für 6,7 Milliarden Dollar - und machte dabei ein bilanzielles Minus von 4,4 Milliarden Dollar. "Dieser Verlust", schreiben sie, "signalisiert, dass der Buchwert der Papiere zum Zeitpunkt des Verkaufs 65 Prozent höher als der auf dem Markt erzielbare Preis war."

Das war offenbar kein Einzelfall, stellten die Forscher fest. Sie verglichen die erwarteten Verluste, die die Institute selbst für ihr Kreditportfolio auswiesen, mit den Verlustprognosen externer Experten - und stießen auf erhebliche Unterschiede. So taxierte die Bank of America Ende 2008 ihre faulen Kredite selbst auf rund 48 Milliarden Dollar. Die US-Notenbank und mehrere andere Banken dagegen schätzten die zu erwartenden Kreditausfälle bei der Bank of America doppelt so hoch.

"Alles in allem gibt es wenig Anzeichen dafür, dass die von den Banken berichteten Zeitwerte im Jahr 2008 unter exzessiven Abschreibungen oder Unterbewertungen gelitten haben", lautet das Fazit. "Die Indizien deuten eher in die andere Richtung: Die Banken haben den Ermessensspielraum bei den Bilanzregeln ausgenutzt, um die Bewertungen im Vergleich zu aktuellen Marktpreisen hoch zu halten."

Ohne Fair-Value-Accounting wäre die Unsicherheit an den Finanzmärkten womöglich noch größer ausgefallen, vermuten die Forscher. "Verluste können natürlich zu großen Problemen für Banken führen", betont Leuz. "Diese nicht in den Bilanzen auszuweisen kann jedoch mitunter noch größere Probleme verursachen." Hätten die Banken, die stark von den Wertverlusten auf dem US-Immobilienmarkt betroffen waren, ihre Probleme nicht offengelegt, hätten sich die Investoren genauso Sorgen um die Solidität dieser Institute gemacht. Gerade die Investmentbanken mit ihrer kurzfristigen Finanzierungsstruktur und ihrem ständigen Kapitalbedarf wären auch ohne Fair-Value-Accounting unter die Räder gekommen.

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