Ökonomischer Tunnelblick Die Grenzen der Wahrnehmung

Was Verhaltensforscher lange wussten, haben Ökonomen lange ignoriert: Menschen sind vergesslich und leiden unter selektiver Wahrnehmung. Das hat enorme wirtschaftliche Folgen, belegen Studien.

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AOL profitiert von der Vergesslichkeit der Nutzer. Quelle: ap

Köln Seine große Zeit hat der Internet-Konzern AOL längst hinter sich – die Umsätze schrumpfen, die Verluste steigen. Und wären die AOL-Nutzer nicht so vergesslich, würde es mit dem Unternehmen noch deutlich schneller bergab gehen.

Viele Kunden zahlen seit Jahren Abo-Gebühren für ein Angebot, das sie gar nicht mehr brauchen – den Internet-Einwahldienst von AOL, der in Zeiten von Breitbandanschlüssen überflüssig ist. Nach einem Bericht des US-Magazins „New Yorker“ gehören diese vergessenen Abos zu den wenigen noch richtig profitablen Geschäftsfeldern des Unternehmens. „Das ist das kleine, dreckige Geheimnis von AOL“, zitiert das Blatt einen Ex-Manager.

Das Beispiel wirft ein Schlaglicht auf einen Faktor, den Volkswirte in ihren Theorien lange ausgeklammert haben: die begrenzte Aufmerksamkeit von Menschen. Es bereitet uns massive Probleme, bei Entscheidungen alle Informationen zu berücksichtigen. Wir vergessen, Probe-Abos rechtzeitig zu kündigen, übersehen bei Ebay-Auktionen horrende Versandkosten und lassen uns bei Aktien-Käufen von irrelevanten Informationen leiten.

Ein Beispiel dafür ist das Verhalten der Kunden von Fitness-Studios: Nach der Anmeldung sinkt bei vielen die Zahl ihrer monatlichen Besuche kontinuierlich, stellen zwei italienische Ökonomen fest, die das Verhalten von mehr als 1500 Nutzern eines Fitnessstudios analysierten. Einen Teil der Kunden erinnerten die Forscher in einem Experiment regelmäßig per E-Mail an ihr Fitness-Abo. Prompt verstärkten diese ihr Training.

Unaufmerksamkeit kann auch erklären, warum Amerikaner jedes Jahr 35 Milliarden Dollar Überziehungsgebühren an Banken zahlen, obwohl sie diese oft vermeiden könnten.  Es genügt, die Menschen an die horrenden Überziehungsgebühren zu erinnern – und schon rutschen sie viel seltener ins Soll, zeigt eine US-Studie.

All dies steht im Widerspruch zu den üblichen Annahmen, die Ökonomen in ihren Modellen treffen. Volkswirte unterstellen in der Regel: Der Mensch ist bestens informiert, wenn er seine Entscheidungen trifft, und agiert durchweg rational. Solch ein „Homo oeconomicus“ braucht keine Erinnerungen, um das Richtige zu tun.


Unaufmerksamkeit kann teuer werden

Die Realität sieht anders aus: Menschen übersehen viele nützliche Informationen – selbst wenn diese kostenlos verfügbar sind. „Diese Tatsache haben Ökonomen lange vernachlässigt“, sagt Paul Seabright, Ökonom an der Universität Toulouse. Die Finanzkrise habe gezeigt, wie sehr die begrenzte Aufmerksamkeit die Wirtschaft beeinflusse. „Sowohl Investoren als auch Regulierungsbehörden haben Risiken ignoriert – einige der kompetentesten Experten eingeschlossen.“

Für Psychologen ist das keine größere Überraschung. Verhaltensforscher wissen schon lange, dass der Mensch vieles ignorieren muss, damit er sich um wenige andere Dinge effektiv kümmern kann. Menschen übersehen sogar einen Gorilla, der mitten durch ihr Blickfeld läuft, wenn sie sich auf andere Dinge konzentrieren.

Unaufmerksamkeit kann nicht nur für den Einzelnen teuer werden, sondern auch dafür sorgen, dass ganz Märkte schlechter funktionieren. Ein Forscherteam der Universität Pennsylvania stellte anhand der Verkaufspreise von 22 Millionen Gebrauchtwagen fest, dass sich die Käufer vor allem an der linken Ziffer des Kilometerstands orientieren. Das führt zu erstaunlichen Preissprüngen: Wer etwa ein Auto verkaufen will, das 79 900 Kilometern gefahren ist, erhält dafür um die 210 Dollar mehr, als wenn er es erst bei einem Stand zwischen 80 000 Kilometern verkaufen würde. Zeigt der Zähler dagegen 78 800 Kilometer an, bringt das gerade einmal zehn Dollar mehr ein.

Um ihre Ergebnisse zu verifizieren baten die Forscher 130 Studenten zu einem Experiment. Sie zeigten ihnen zwei Autos, anschließend mussten sich die Studenten an die Kilometerstände erinnern. Sie konnten sich oft nur die erste Ziffer merken und  füllten ihre Erinnerungslücken mit falschen Informationen. Bei Kilometerständen knapp unterhalb einer Zehntausendermarke verschätzten sie sich regelmäßig nach unten, bei Werten oberhalb der Marke nach oben.

Die Ergebnisse sind auch deshalb so überraschend, weil der Kilometerstand leichter zu finden ist als die Angaben zu Kontogebühren. „Verzerrungen durch die Art und Weise, wie wir Informationen verarbeiten, können Märkte beeinflussen, selbst wenn die Informationen vollkommen offen liegen“, lautet das Fazit der Forscher. Unaufmerksamkeit wird dabei keinesfalls nur Laien zum Verhängnis, sondern auch Profis. Das zeigt eine Studie der US-Forscher Stefano DellaVigna und Joshua Pollet: Investoren reagieren verzögert auf Gewinnankündigungen von Unternehmen, die an einem Freitag versendet werden. Das Wochenende lenke sie offenbar ab.

Um solche Studien vergleichbar zu machen, hat DellaVigna ein Verfahren entwickelt, mit dem sich die Unaufmerksamkeit messen lässt. Seinen Berechnungen zufolge sind Verbraucher ausgesprochen blind gegenüber Steuern. So ist es in US-Supermärkten üblich, dass die Preisschilder Netto-Preise anzeigen und die Umsatzsteuer erst an der Kasse aufgeschlagen wird. In einem Experiment ließ sich zeigen, dass Verbraucher Produkte plötzlich weniger nachfragen, wenn auf die Steuer nicht erst auf dem Kassenzettel, sondern schon auf dem Preisschild hingewiesen wird – auch wenn das unterm Strich keinen Unterschied macht.


Topmodels beeinflussen Investoren

Wie Menschen ihre Aufmerksamkeit verteilen, hat also Einfluss auf Entscheidungen aller Art. Ökonomen versuchen nun, Modelle zu konstruieren, die dieser Tatsache Rechnung tragen. Forscher, die solche Modelle in der Realität testen wollen, stehen aber vor einem Problem: Sie können nur schwer nachvollziehen, welche Informationen ein Mensch wahrnimmt und welche er ausklammert.

Die Ökonomen Jordi Mondria (Universität Toronto), Thomas Wu und Yi Zhang (beide: Universität Santa Cruz) haben einen Weg gefunden, um dieses Problem zu lösen: Sie werteten 21 Millionen Internet-Suchanfragen von 650 000 Amerikanern aus. Die Forscher konnten nicht nur nachvollziehen, welche Informationen die Menschen suchten, sondern auch, welche Links sie tatsächlich anklickten.

Mit diesen Daten konnten sie ein Phänomen erklären, das Finanzmarkt-Forschern seit langem Kopfzerbrechen bereitet: Investoren haben stets eine besondere Vorliebe für Aktien aus ihrem Heimatland. Sie verteilen ihre Geldanlage nicht optimal über den Globus und verzichten unnötig auf Rendite.

Die Wissenschaftler stellten fest: Die Aufmerksamkeit, die Amerikaner bestimmten Ländern entgegenbringen, korreliert eng damit, in welchen Ländern sie ihr Geld anlegen. Und je populärer ein Land ist, desto eher investieren US-Bürger in Aktien und Anleihen aus diesen Staaten. Frappierend ist: Längst nicht nur ökonomische Fundamentaldaten lenken die Aufmerksamkeit – auch weiche Faktoren, die nichts mit der Wirtschaft zu tun haben, zählen. Hat ein Land zum Beispiel besonders viele Sehenswürdigkeiten, die es in die Weltkulturerbe-Liste der Unesco schaffen, investieren Amerikaner dort mehr Geld. Das gleiche gilt für Staaten, die sehr viele weibliche Topmodels hervorbringen.

Solche Ergebnisse rütteln Ökonomen auf. „Unser Standard-Modell funktioniert nur unter sehr eingeschränkten Voraussetzungen“, ist Diane Coyle, Ökonomin beim britischen Think Tank Enlightenment Economics, überzeugt. „Wir müssen noch viel tun, um die Erkenntnisse der Psychologen in unsere Entscheidungstheorie einzubeziehen.“


Das Gorilla-Experiment

Für Psychologen und Neurologen ist das keine Überraschung: Die menschliche Aufmerksamkeit ist begrenzt, auch wenn uns das Gehirn etwas anderes vorgaukelt. Es erschafft die Illusion einer detailgetreuen Wahrnehmung, verwirft zugleich aber Details, die es für irrelevant hält. Experimente belegen, dass Menschen Töne überhören, wenn sie ein Kreuzworträtsel lösen, und dass sie Clowns auf einem Einrad übersehen, wenn sie mit dem Handy telefonieren.

Zu den bekanntesten und beeindruckendsten Versuchen zählt das Video-Experiment der amerikanischen Psychologen Christopher Chabris und Daniel Simons. Der Film kursiert in vielfachen Variationen im Internet (ein Beispiel hier: http://bit.ly/hb-gorilla). Die Zuschauer werden gebeten, die Zahl der Pässe bei einem Basketballspiel zu zählen. Fast jeder kommt zu dem richtigen Ergebnis – übersieht aber komplett, dass während des Spiels ein Gorilla durchs Bild läuft. Chabris und Simons haben über unsere selektive Wahrnehmung 2010 ein Buch geschrieben –  mit dem Titel „The Invisible Gorilla“.



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