Reinhard Selten Vom Außenseiter zum Nobelpreisträger

Über Jahrzehnte war Reinhard Selten ein wissenschaftlicher Außenseiter - bis er 1994 als bislang einziger Deutscher den Ökonomie-Nobelpreis erhielt. Ein Porträt zum 80. Geburtstag des Experimental-Pioniers.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Reinhard Selten:

BONN. Revolutionäre sehen anders aus. In seinem zu groß geratenen Anzug wirkt der Mann mit den schlohweißen Haaren ein bisschen zerbrechlich. Seine Stimme ist leise, fast brüchig; seine Antworten sind nachdenklich, differenziert; er spricht langsam.

Aber der Mann ist radikal, viel radikaler als fast alle seiner Fachkollegen. Nur sieht man ihm das auf den ersten Blick nicht an.

Kein deutscher Volkswirt hat die internationale Volkswirtschaftslehre in den vergangenen Jahrzehnten so sehr umgekrempelt wie Reinhard Selten. Der emeritierte Professor aus Bonn ist der einzige Deutsche, der die höchste Auszeichnung seines Fachs erhalten hat - den Ökonomie-Nobelpreis. Eine Ehre, die fast immer an Amerikaner geht. Am morgigen Dienstag feiert Selten seinen 80. Geburtstag.

Er will die Dinge bis in die kleinste Verästelung verstehen und lässt sich nichts vormachen. Schon früh, als Kind eines jüdischen Buchhändlers im Breslau der 30er-Jahre, hat er die Erfahrung gemacht: Mehrheitsmeinungen haben keinen Anspruch auf Richtigkeit.

Geistige Unabhängigkeit ist für Selten das höchste Gut. Dafür streitet er gerne. Zuerst mit seinem älteren Bruder, der ihn als "aufrührerischen Zweiten", wie Selten es sagt, nicht ernst nahm. Später dann, im Nachkriegsdeutschland, gegen die engstirnige Hochschulbürokratie - bis er am Ende durchgesetzt hat, dass er neben Mathematik auch noch Wirtschaftswissenschaften studieren darf. Als erster Student überhaupt.

Die Verbindung dieser beiden Fächer wird sein wissenschaftliches Werk prägen und ihm Jahrzehnte später den Nobelpreis einbringen - für seine bahnbrechenden Erkenntnisse in der Spieltheorie, einer komplexen, mathematischen Methode zur Analyse des Verhaltens streng rationaler Akteure.

Selten sieht schon damals vor allem die Grenzen der Spieltheorie. Viel früher als die meisten seiner Fachkollegen postuliert er, dass Menschen aus Fleisch und Blut ganz anders agieren, als es die Ökonomen in ihren Modellen unterstellen. Dass wir nicht über feste Nutzenfunktionen verfügen, wie es die Spieltheorie annimmt, sondern uns im Laufe der Zeit an neue Gegebenheiten anpassen.

Als Selten 1994 den Nobelpreis für seine spieltheoretischen Arbeiten bekommt, hat er selbst das dieser Forschung zugrunde liegende Bild des rationalen Homo oeconomicus schon seit Jahrzehnten hinter sich gelassen. Selten hat viel mehr Arbeiten über experimentelle Wirtschaftsforschung veröffentlicht als über Spieltheorie. Und hätte dafür "noch mal den Nobelpreis bekommen können", erklärt Axel Ockenfels. Der Schüler Seltens gehört heute zu den renommiertesten Wirtschaftsforschern und lehrt in Köln.

Als einer der ersten Ökonomen weltweit untersucht Selten das menschliche Verhalten auch in Labor-Experimenten - lange bevor dies eine allgemein akzeptierte Methode wird. Seltens Experimente stützen seine These, dass echte Menschen ganz anders handeln, als Volkswirte annehmen. Viele Jahre macht ihn das einsam unter seinen Fachkollegen. Fast alle von ihnen halten viel länger als Selten an den theoretischen Konstrukten der Spieltheorie fest - auch und gerade an der Universität Bonn, wo Selten seit 1984 forscht und lehrt. Die Fakultät ist Hochburg der reinen Wirtschaftstheorie. So mancher von Seltens Kollegen hat ihn lange für einen "Abtrünnigen" gehalten, sagt Abdolkarim Sadrieh, der bei Selten promovierte und heute Professor in Magdeburg ist. In Bonn hat Sadrieh oft erlebt, wie andere Professoren und deren Assistenten die Nase über das Labor für experimentelle Wirtschaftsforschung rümpften, das Selten 1985 gegründet hatte. Es war das erste in Europa. Heute ist das Labor eines der internationalen Aushängeschilder der Fakultät.

Ein Star ist Selten erst seit dem Nobelpreis. Doch das ändert nichts an seiner wissenschaftlichen Wahrheitssuche. "Ich bin fest davon überzeugt, dass es nötig war, die neoklassische Theorie auszubauen, um zu sehen, wie falsch sie ist", sagt er.

Seine unprätentiöse Art, sein "alleiniges Interesse an der Sache macht Selten zu einem so außergewöhnlichen Ökonomen", sagt Ockenfels. Er schwärmt noch heute davon, dass Selten auch im Herbst 1994 im größten Nobelpreisrummel seine Studenten wichtiger waren als die Journalisten. Die mussten mit ihrem Interview im Zweifel warten, bis Selten mit dem Diplomanden Ockenfels in aller Ruhe die Fortschritte bei dessen erstem eigenem Experiment diskutiert hatte.

Ockenfels war dabei, als Selten zu Beginn der 90er-Jahre eine seiner ersten Vorlesungen zur eingeschränkten Rationalität hielt und den Studenten seine Theorie der Anspruchsanpassung zu erklären versuchte - ein Konzept, mit dem er sich schon 1962 mit seinem Doktorvater Heinz Sauermann beschäftigt hatte und das er später weiterentwickelte.

"Stellen Sie sich vor, sie wollen ein Haus kaufen", sagte er zu den Studenten. "Dann schauen Sie, wie viel Geld Sie haben und welche Häuser Sie dafür kaufen können." Die Studenten können ihm folgen. "Und dann suchen Sie immer weiter und passen Ihre Ansprüche immer wieder an - bis Sie urplötzlich ein Haus von überragender Attraktivität finden und es sofort kaufen." Selten geht an die Tafel und schreibt mit kreideverschmierter Hand "überragende Attraktivität" an die Tafel. "Da", so erinnert sich Ockenfels, "habe ich erstmals geahnt, was Selten damit meinte, als er sagte, dass Menschen keine Nutzenfunktionen maximieren, sondern ihrer eigenen Rationalität folgen." Das Menschliche an sich ist Selten bei seinen Überlegungen wichtig, "die unbewussten Prozesse, die selbst bei vermeintlich bewussten Entscheidungen ablaufen", sagt Selten.

Doch Selten polarisierte auch die Studenten. Die einen hielten ihn für einen zerstreuten Professor, der am Ende einer Vorlesung vier Tafeln mit endlosen Zahlen- und Buchstabenreihen in vier verschiedenen Farben voll geschrieben hatte und dann selbst immer leicht von Kreide gezeichnet war. Andere schätzten, dass er als einziger Professor selbst in den Übungen ansprechbar war und seine Studenten auch mal in ein Café einlud - am liebsten zu einem schönen Stück Kuchen.

Dass er ein kluger Kopf und unabhängiger Geist ist, zeigt sich schon früh. Seine akademische Karriere aber ist keineswegs vorgezeichnet. Bereits 1934 muss der blinde Vater sein florierendes Geschäft mit Büchern und Lesezirkeln verkaufen, weil er Jude ist.

Die Familie flüchtet von Breslau nach Gleiwitz. Anfangs sei das Leben erträglich gewesen für die halb jüdische Familie, erinnert sich Selten. Doch die Umstände werden auch in Gleiwitz mit der Zeit immer schlechter. 1942 stirbt der Vater, seine Mutter zieht mit den drei Kindern in immer kleinere Wohnungen, flieht 1945 erst nach Bautzen, dann nach Österreich.

An Schule ist in dieser Zeit nicht zu denken. Das ändert sich erst, als die Familie in der Nähe von Melsungen in Hessen landet. Im Frühjahr 1946 kann Selten sein mathematisches Talent in der Schule offenbaren. Bald reichen ihm die normalen Aufgaben nicht mehr. Auf seinem mehr als dreistündigen Schulweg denkt sich der 16-Jährige mathematische Probleme aus. Bis heute liebt er es, zu wandern und dabei Probleme und Natur von allen Seiten zu betrachten. Sein Interesse gilt schon lange nicht mehr nur der Wirtschaftswissenschaft und der Mathematik, er kennt sich ebenso in der Psychologie und der Biologie aus. Und er wird nicht müde, solche Ökonomen zu kritisieren, die nicht wie er über den Tellerrand ihrer Disziplin hinausblicken.

Sorgen um seine Studenten

Wie groß die Distanz zur etablierten deutschen Ökonomenwelt war, offenbarte sich in seiner Nobelpreisrede in Stockholm im Dezember 1994. "Mir macht es überhaupt nichts aus, gegen den wissenschaftlichen Hauptstrom zu schwimmen", sagt er noch heute. Was ihm damals dagegen Sorgen bereitete, waren seine Schüler. "Nichtsdestotrotz hege ich die Hoffnung, dass einige meiner Studenten, die unter meiner Anleitung zurzeit in der experimentellen Wirtschaftsforschung arbeiten, die Chance bekommen, Universitätsprofessoren zu werden."

Tatsächlich hatten zuvor einige seiner besten Studenten vergeblich versucht, einen Lehrstuhl zu ergattern. Inzwischen aber kann sich der "Meister" - wie ihn seine Schüler bis heute nennen - freuen. Viele von ihnen lehren und forschen heute an den renommiertesten Universitäten im In- und Ausland. "Dabei hat sicher auch der Nobelpreis geholfen", glaubt Sadrieh.

Zum 80. Geburtstag von Selten, den er morgen im Bonner Uniclub feiert, haben seine Schüler und Gefährten eine aufwendige Festschrift herausgegeben, die als Buch im Springer-Verlag erscheint. Mit der Festschrift konstituieren seine Schüler ganz trotzig und selbstbewusst die "Selten School of Behavioral Economics".

Am vergangenen Freitag haben sie ihm das Werk bei der Tagung der Gesellschaft für experimentelle Wirtschaftsforschung in Luxemburg feierlich überreicht.

Selten selbst war es schon fast ein bisschen viel der Ehre.

VITA

1930: Reinhard Selten wird am 5. Oktober in Breslau geboren.

1957: In Frankfurt schreibt er seine Diplomarbeit in Mathematik, vier Jahre später folgt seine Doktorarbeit im gleichen Fach.

1968: Nach einem Gastaufenthalt in den USA habilitiert Selten in VWL.

1984: Nach Stationen in Berlin und Bielefeld beruft ihn die Universität Bonn zum Professor.

1994: Als erster Deutscher erhält Selten den Wirtschaftsnobelpreis.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%