Schicksalsjahr Europa gehen die Europäer aus

Für die Europäische Union wird 2009 zum Schicksalsjahr: Die drohende Rezession und eine Offensive der Europagegner könnten die Fundamente der Union erschüttern - und einen Rückfall in den Nationalismus einleiten. Warum der 1. Januar 2009 als "schwarzer Donnerstag" in die Geschichte eingehen wird.

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Der Reformmotor der Europäischen Union läuft auf Sparflamme - Europa geht kopflos ins neue Jahr. Quelle: dpa

BRÜSSEL. Der 1. Januar 2009 hätte ein richtig guter Tag werden können für Europa. Ein wenig wie der 1. Januar 2002, als das Euro-Bargeld eingeführt wurde und der langgehegte Traum von der Währungsunion in Erfüllung ging. Einen neuen Präsidenten sollten die Europäer an diesem Tag bekommen, einen neuen Außenminister - und ein neues EU-Gesetz, den Vertrag von Lissabon.

Frankreichs Staatschef Nicolas Sarkozy hatte sich schon darauf gefreut, die neuen Top-Jobs zu vergeben. Hinter den Kulissen hatte er längst die Strippen gezogen, sehr zum Ärger von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Auch Parlamentspräsident Hans-Gert Pöttering hatte sich auf die neue Ära eingestellt. Nach der Europawahl am 7. Juni wollte er seine Kammer zum Machtzentrum der EU ausbauen - noch vor der Kommission in Brüssel.

Doch daraus wird vorerst nichts. Die Reformen, die der Lissabonner Vertrag aus der gescheiterten EU-Verfassung übernommen hat, sind auf Eis gelegt. Die Hoffnungen auf eine effiziente, demokratisch legitimierte Führung Europas sind geplatzt. Denn die Iren haben in einer Volksabstimmung Nein zu "Lissabon" gesagt und alle schönen Pläne über den Haufen geworfen. Die Reformen werden frühestens 2010 in Kraft treten - wenn überhaupt.

Der 1. Januar 2009 wird deshalb keinen Aufbruch bringen, sondern eher schon als "schwarzer Donnerstag" in die Geschichte eingehen. Zum ersten Mal übernimmt ein erklärter EU-Gegner, Tschechiens Staatspräsident Vaclav Klaus, den Ratsvorsitz. Klaus nennt sich einen "europäischen Dissidenten" und steht allem, was aus Brüssel kommt, kritisch gegenüber. "Lissabon" lehnt er ebenso ab wie die EU-Klimapolitik. Nicht einmal die Europafahne möchte er auf der Prager Burg hissen.

Gewiss, die Tagespolitik wird nicht von Klaus, sondern von Premierminister Mirek Topolanek gemacht. Topolanek ist zwar auch kein begeisterter Europäer, gilt aber immerhin als Pragmatiker. Im Gegensatz zu Klaus wird er wohl nicht versuchen, den Lissabon-Vertrag zu torpedieren. Doch Topolaneks Regierung steht auf wackeligen Füßen. In Prag wettet man keinen Heller darauf, dass sie die sechs Monate bis zum Ende der tschechischen EU-Präsidentschaft übersteht.

Auch aus Brüssel ist 2009 nicht viel zu erwarten. Im Juni geht die fünfjährige Amtszeit der EU-Kommission zu Ende. Von Kommissionspräsident José Manuel Barroso und seinem durch mehrere Abgänge geschwächten Team werden keine großen Impulse mehr ausgehen. Und das Europaparlament zieht in den Wahlkampf, die Abgeordneten dürften in den nächsten Monaten mehr mit ihrer Wiederwahl als mit neuen EU-Gesetzen beschäftigt sein.

Selbst der traditionelle deutsch-französische Motor Europas fällt aus. Merkel hat sich in der Finanzkrise den Ruf der "Madame Non" erworben, die alle großen Initiativen aus Paris abblockt. Und Sarkozy hat begonnen, eine neue, französisch-britische Achse zu schmieden. Während seines EU-Vorsitzes 2008 hat er zudem seine Kontakte nach Washington und Moskau ausgebaut. Paris emanzipiert sich von Berlin, und Merkel setzt dem kaum etwas entgegen.

Europa geht kopflos ins neue Jahr - und das, obwohl ein starkes Krisenmanagement gefordert wäre. Vor allem die Finanz- und Wirtschaftskrise ruft nach einer europäischen Antwort. Schon jetzt sind viele EU-Länder tiefer in den Abwärtssog gerutscht als die USA. Wenn sich die Lage 2009 nochmals verschärft, wie viele Experten erwarten, könnte es nicht nur zu wirtschaftlichen, sondern auch zu politischen und sozialen Verwerfungen kommen. Die Unruhen in Griechenland sind da vielleicht nur ein Vorgeschmack.

Selbst die Fundamente der Union sind nicht mehr sicher. Schon zu Beginn des Abschwungs im Herbst 2008 wurden große Teile der strikten wirtschaftspolitischen EU-Doktrin über den Haufen geworfen. Der Stabilitätspakt wurde ausgesetzt, die Beihilferegeln sind gelockert. Seither machen die 27 EU-Staaten wirtschaftspolitisch, was sie wollen. Sollte sich der Trend zur Renationalisierung fortsetzen, könnte sogar der Binnenmarkt auseinanderfallen, warnten Experten der führenden Brüsseler Think-Tanks in einem Brandbrief beim letzten EU-Gipfel.

Doch es gibt auch eine andere Lesart der Krise. Je härter die Rezession ausfällt, desto mehr könnten sich die Europäer auf die Vorteile der EU besinnen, glauben die Berufsoptimisten in Brüssel. Schon jetzt klopft das kleine Island an die Tür: Immer mehr Isländer sind davon überzeugt, dass nur ein EU-Beitritt sie vor dem Untergang retten kann. Auch in traditionell EU-kritischen Ländern wie Großbritannien oder Schweden deutet sich ein Sinneswandel an. Sogar der Euro hat durch die Krise spürbar an Anziehungskraft gewonnen.

Die große, alles entscheidende Frage ist jedoch, ob auch die Bürger in der EU einen Rettungsanker sehen. Schließlich haben sie 2009 gleich zweimal das Wort: bei der Europawahl im Juni und beim zweiten irischen Referendum über den Lissabon-Vertrag, das im Herbst geplant ist. Wenn die Europaskeptiker erneut gewinnen, muss die EU ihre Reform wohl endgültig begraben. Das Projekt einer demokratischeren, effizienteren Union bliebe dann unvollendet, zur wirtschaftlichen käme auch noch eine ernste politische Krise.

Die Nein-Sager um den irischen Milliardär Declan Ganley machen schon mobil. Seine Bewegung "Libertas" werde im Juni EU-weit zur Wahl antreten, verkündete Ganley in seinem neuen Hauptquartier in Brüssel. Sogar Tschechiens Präsident Klaus hat Unterstützung angekündigt. Doch der Sieg der Skeptiker ist noch längst nicht ausgemacht. Ausgerechnet in Irland scheint der Wind zu drehen - zugunsten der EU. Die Buchmacher in Dublin melden, dass kaum noch jemand auf ein neues "Nein" wetten möchte. Zuletzt gab das Lager der EU-Befürworter den Ton an. Einsätze von 5 000 Euro für ein "Ja" sind keine Seltenheit mehr.

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