Volkswirtschaftslehre Streit geschlichtet, Tauziehen bleibt

Das Treffen bot viel Konfliktpotenzial, doch auf dem Podium im Frankfurter IG-Farben-Haus auf dem Campus Westend zeigten sich die Kontrahenten handzahmer als erwartet: Monatelang lieferten sich Volkswirte einen erbitterten Streit über zu wenig Relevanz und zu viel Mathematik. Nun diskutieren sie wieder miteinander.

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Der Streit in der Volkswirtschaftslehre scheint beigelegt, die unterschiedlichen Positionen haben sich etwas angenähert. Quelle: handelsblatt.com

FRANKFURT. Auf dem politischen Parkett ist Bert Rürup sicher unterwegs - und damit geübt im Schlichten von Streit und Finden von Kompromissen. Der ehemalige Chef der Wirtschaftsweisen war am vergangenen Freitag zu einer Podiumsdiskussion gereist, die durchaus Eskalationspotenzial besaß. Die Frankfurter Universität hatte zu einem Workshop "Normen in der Volkswirtschaftslehre (VWL)" eingeladen.

Rürup war umringt von Wissenschaftlern, die sich in den vergangenen Monaten erbitterte Wortgefechte geliefert hatten. Rechts neben dem ehemaligen Chef der Wirtschaftsweisen hatten Roland Vaubel von der Universität Mannheim und Nils Goldschmidt aus München Platz genommen, links Carl Christian von Weizsäcker vom Bonner Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern, Nicola Fuchs-Schündeln von der Universität Frankfurt und Rüdiger Bachmann aus Michigan.

Vaubel gehört zur Gruppe der 83 Ökonomieprofessoren, die bereits im Mai vergangenen Jahres in einem öffentlichen Manifest in der "FAZ" mit ihren Kollegen hart ins Gericht gegangen waren und ihnen vorgeworfen hatten, moderne Wirtschaftswissenschaftler beschäftigten sich zu viel mit Theorie und zu wenig mit der Realität. Einen Monat später hatten sich 188 Kollegen mit einem Gegenaufruf im Handelsblatt gewehrt und die tiefe Sorge formuliert, die Unterzeichner des Manifests argumentierten für eine Zementierung international nicht wettbewerbsfähiger Strukturen. Bachmann und von Weizsäcker gehören zu dieser Gruppe.

Kritik am Rekrutierungsverfahren der Universitäten

Doch die Kontrahenten zeigten sich auf dem Podium im Frankfurter IG-Farben-Haus auf dem Campus Westend zahmer als erwartet. Rürup musste nicht allzu tief aus seinem diplomatischen Fundus schöpfen. Zumindest verlief die Debatte sachlicher, verglichen mit dem Schlagabtausch, den die Wissenschaftler im Frühjahr und Frühsommer des vergangenen Jahr öffentlich ausgetragen hatten - in den beiden Aufrufen, zahlreichen Interviews, Gastkommentaren und Blog-Beiträgen.

"Ich frage mich, ob sich der Streit überhaupt gelohnt hat", warf Rürup in die Runde. "Den Aufstand hätte es nicht gebraucht", antwortete er dann auch selbst. Doch genau in diesem Punkt wollte ihm keiner der Kontrahenten folgen. Der Streit hatte eine tiefgreifende Debatte über das Selbstverständnis und öffentliche Bild der VWL ins Rollen gebracht - und das weit über den deutschsprachigen Raum hinaus. Auch unter den deutschen Ökonomen in den USA sei das Thema heiß diskutiert worden, schilderte Nicola Fuchs-Schündeln, die im vergangenen Sommer von Harvard nach Frankfurt gewechselt war.

"Der Streit ist beigelegt - aber er war notwendig und wichtig", sagte Rüdiger Bachmann von der Universität Michigan, der zu den Autoren des Gegenaufrufs zählt. Bachmann ist Initiator einer Internetseite über die Debatte. Diese sei auch deshalb wichtig gewesen, sagte Bachmann, weil sie dazu geführt habe, die Kollegen besser zu verstehen. Und weil es zur Eigenlogik der Wissenschaft zähle, die eigene Arbeit zu hinterfragen.

Auslöser des handfesten Streits waren unter anderem Pläne der Kölner VWL-Fakultät, traditionsreiche Lehrstühle für Wirtschaftspolitik zu einem makroökonomischen Forschungsschwerpunkt umzuwidmen. Köln habe aber lediglich das "Fass zum Überlaufen gebracht", betonte Vaubel, der das Manifest der 83 unterschrieben hatte. Tatsächlich ging es um mehr: Im Mittelpunkt stand die Frage, ob sich die ökonomische Forschung zu wenig mit relevanten Problemen der Wirtschaftspolitik beschäftigt und stattdessen zu theoretisch und weltfremd geworden ist.

Inzwischen haben sich die Wissenschaftler wieder etwas angenähert. Die meisten wollen auch für die Politik relevante Forschungsfragen beantworten. Und um sich in der eigenen Zunft international Gehör zu verschaffen, bedürfe es der Beherrschung der Mathematik. "Es herrscht nur noch ein Mitteldissens, jedenfalls mit Roland Vaubel", in Bezug auf die Frage, ob wirtschaftspolitische Lehrstühle - und damit ein deutscher Sonderweg - notwendig sind, um sich mit wirtschaftspolitischen Fragen auseinanderzusetzen, sagte Bachmann. Die zweite Frage: Befassen sich weniger Volkswirte mit relevanten Forschungsgegenständen, weil die Karriere-Anreize dem entgegenstehen?

"Wirtschaftspolitische Beratung geht in zunehmendem Maße raus aus der Uni und wird von Wirtschaftsforschungsinstituten und Unternehmensberatungen übernommen", stellte Rürup, einst einer der einflussreichsten Ökonomen in Berlin, fest. Heute sitzt er im Vorstand der Maschmeyer-Rürup einer Beratung für Banken und Versicherungen. Rürup kritisiert vor allem das Rekrutierungsverfahren der Universitäten: Wer heute einen Lehrstuhl bekommen wolle, müsse in angesehenen Journals publiziert haben. "Damit sind bestimmte Themen nicht mehr attraktiv", wetterte Rürup. Wer über das deutsche Krankenkassensystem forsche, habe keine Chance, Artikel in international angesehenen Journals zu veröffentlichen.

"Es stimmt nicht, dass man mit deutschen Daten nicht gut publizieren kann", konterte Nicola Fuchs-Schündeln. Die ehemalige Harvard-Ökonomin, die nun am Main forscht und lehrt, hat zum Beispiel zu Risikopräferenzen in Ostdeutschland gearbeitet. "Es muss einen Grund für einen deutschen Sonderweg geben", forderte sie. "Aber welchen?" Vaubel konterte, dass mehr empirische Forschung bei wirtschaftspolitischen Fragen gebraucht werde. "Ein Weg, dies zu erreichen, sind Lehrstühle für Wirtschaftspolitik", erklärte er. Sich auf den Standpunkt zu stellen, es dürfe keinen deutschen Sonderweg geben, habe eine "Mitläufer-Mentalität".

Carl Christian von Weizsäcker bezweifelt hingegen, dass ein Sonderweg auf einem so kleinen Gebiet der Welt eine so kritische Größe bekomme, dass er exzellente Forschung hervorbringe. "Die Interaktion in der Forschung hat ein anderes Tempo bekommen", argumentierte er. Dadurch seien Artikel die geeignete Publikationsform geworden. "Das sollte man zur Kenntnis nehmen". Kaum ein Wissenschaftler könne auf allen Teilgebieten der Wirtschaftspolitik reüssieren - nur ganz große Geister. Aber: "Es gibt mehr Lehrstühle als große Geister." Die Folge liegt für von Weizsäcker auf der Hand: Die Professoren müssten sich bei ihren Forschungsfragen mehr spezialisieren.

Dass die Spezialisierung aber auch Gefahren birgt, daran erinnerte Heinz Kurz von der Universität Graz mit einer Anekdote: Die Queen hatte bei einem Besuch der London School of Economics vor einigen Monaten die Ökonomen um Aufklärung gebeten, warum kaum ein Volkswirt die große Finanzkrise vorausgesehen habe. Viele von ihnen, so die Antwort der Forscher, hätten einzelne Krisenherde durchaus richtig erkannt und auch frühzeitig vor gefährlichen Ungleichgewichten in der Finanzindustrie gewarnt - aber kaum einer der Volkswirte sei in der Lage gewesen, die einzelnen Punkte zu verbinden, um so das große Bild zu erkennen.

Die Lösung liege aber keineswegs in Lehrstühlen für Wirtschaftspolitik, sagte Fuchs-Schündeln. Um Zusammenhänge zu erkennen, brauche man brillante Köpfe. Ausnahmeökonomen wie dem kürzlich verstorbenen Paul Samuelson etwa traute sie einen so großen Überblick zu. Forscherkollege Bachmann sieht die Zukunft eher in noch mehr "Teamarbeit". Die Forscher arbeiten heute viel enger mit Kollegen aus aller Welt zusammen, tauschen sich via E-Mail aus und publizieren mit Wissenschaftlern anderer Teilgebiete. Künftig müssen sie ihre Ergebnisse aber noch besser zusammenführen und mehr über Folgen diskutieren.

Die Uni Frankfurt will das nun vormachen. Sie decke "beide Pole ab, die den aktuellen Methodenstreit markieren", sagte ihr Vizepräsident, Rainer Klump. Zahlreiche publikationsstarke deutsche Ökonomen sind in den vergangenen Jahren aus dem Ausland an den Main gekommen. Zugleich sind Ökonomen in einem Exzellenzcluster zur "Herausbildung normativer Ordnungen" zusammen mit Philosophen, Theologen, Ethnologen, Historikern, Juristen und Politologen aktiv. "Wir sollten beide Strömungen komplementär betrachten", sagte Klump, "nicht substitutiv".

Denkschulen

Euckens Erben: Volkswirte, die in der Tradition der Ordnungspolitik stehen, beschäftigen sich vor allem mit wirtschaftspolitischen Grundsatzfragen. Der Staat solle die Spielregeln gestalten, die für die wirtschaftlichen Akteure gelten, sich aber möglichst nicht aktiv in die Marktprozesse einmischen. Diese Denkschule hatte in den 50er- und 60er-Jahren in Deutschland ihre große Zeit und geht auf Walter Eucken (1891-1950), Wilhelm Röpke (1899-1966) und Alfred Müller-Armack (1901-1978) zurück. Traditionelle Ordnungspolitiker arbeiten wenig mit theoretischen Modellen und mathematischen Methoden, sondern argumentieren hauptsächlich verbal.

Samuelsons Söhne: Der internationale Mainstream in der VWL folgt methodisch eher dem Pfad, den die Volkswirte Alfred Marshall (1842-1924) und Paul Samuelson (1915-2009) eingeschlagen haben: Sie versuchen, ökonomische Phänomene mit formalen Modellen zu analysieren. Mathematik ist für sie eine Sprache, die dabei helfe, komplexe wirtschaftliche Prozesse besser zu beschreiben und zu verstehen. Neben rein theoretischen Arbeiten hat sich in den vergangenen Jahrzehnten auch die Ökonometrie als eigener Zweig etabliert. Dabei versuchen die Forscher, mit Hilfe großer Datensätze und komplexer statistischer Methoden, empirische Prozesse zu analysieren.

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