Wirtschaftswunder Soziale Marktwirtschaft: Was vom Erbe übrig bleibt

Ludwig Erhard gilt als Vater des Wirtschaftswunders. Vor 60 Jahren setze er die Freigabe der Preise in einem Zug mit der Einführung der D-Mark durch und stellte damit die Weichen von Plan- auf Marktwirtschaft. Statt auf Preiskartelle und Staatsintervention setzte er darauf, Fortschritt und Gewinne zu sozialisieren. Heute steht sein Gesellschaftskonzept vor neuen Herausforderungen.

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Ludwig Erhard ist der Erfinder der Sozialen Marktwirtschaft. Quelle: AP

BERLIN. Ob sich Ludwig Erhard wohl darüber freuen könnte? Wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel heute Vormittag im Wirtschaftsministerium ihre Festrede zum 60. Jahrestag der Sozialen Marktwirtschaft hält, kommt sie fast auf direktem Weg aus dem Koalitionsausschuss. Ihre Eindrücke werden noch frisch sein - auch davon, wie sie sich in nächtlicher Sitzung bemüht hat, CDU/CSU und SPD auf einen gemeinsamen Kurs hin zu neuen Mindestlöhnen einzuschwören.

Merkel könnte bei ihrer Rede im Angesicht von Wirtschaftsminister Michael Glos und der Büste seines berühmten Amtsvorgängers darauf verweisen, dass sie mit dem "Gesetz über Mindestarbeitsbedingungen" ja gerade ein Regelwerk nutzen will, dessen Ursprünge in der Gründungszeit der Sozialen Marktwirtschaft liegen: Das noch nie angewendete Gesetz wurde Ende 1951 mit einer Mehrheit aus Union und SPD beschlossen. Was die Legendenbildung allerdings erschwert: Anders als es CDU-Sozialpolitiker heute gerne verbreiten, hat nicht Erhard das Gesetz erfunden - die eigentliche Triebkraft dahinter war schon damals die SPD.

Anlass für das in diesen Tagen zu feiernde Jubiläum ist vielmehr die von Ludwig Erhard im Juni 1948 durchgesetzte Aufhebung staatlicher Preiskontrollen in einem Zug mit der Einführung der Deutschen Mark. Was seinen späteren Ruhm wesentlich mitbegründete, war eine geradezu heldenmütige Sturheit, Überzeugungen in Taten umzusetzen. Die Freigabe der Preise verkündete Erhard, damals Direktor der Wirtschaftsbehörde der britisch-amerikanischen Zone, ohne Rücksprache mit der Militärregierung - und stellte die Weichen damit ebenso abrupt wie effektiv von Plan- auf Marktwirtschaft.

Welcher umfassende konzeptionelle Anspruch sich damit verband, hat Erhard neun Jahre später in seinem Bestseller "Wohlstand für alle" eindrucksvoll erläutert. "Konsumfreiheit und die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung müssen in dem Bewusstsein jedes Staatsbürgers als unantastbare Grundrechte empfunden werden", schrieb er. "Gegen sie zu verstoßen sollte als ein Attentat auf unsere Gesellschaftsordnung geahndet werden."

Die Zeiten waren freilich auch andere als heute: Anfangs ging es darum, die marktwirtschaftliche Ordnung gegen ein völlig konträres Modell der Staatswirtschaft durchzusetzen. Später verlagerte sich die Auseinandersetzung auf die Frage, welcher Stellenwert und welche Funktion dem Zusatz "sozial" in der "Sozialen Marktwirtschaft" beizumessen sei.

Die Stationen führten über die Einführung der dynamischen Rente und den Ende der 60er-Jahre eingeläuteten Ausbau der alten Anstalt für Arbeitsvermittlung zu einer mächtigen Wohlfahrtsbehörde. Selbst Umweltminister Sigmar Gabriel (SPD) wähnt sich heute auf dem Boden der Sozialen Marktwirtschaft, wenn er Stromkunden durch staatlich verordnete Sozialtarife vor den Marktkräften schützen will.

Bei aller Unschärfe, die mit dem Attribut "sozial" in die Marktwirtschaft gekommen ist - als Kronzeuge für Forderungen nach Zähmung der Marktkräfte durch fallweise Staatsintervention und Umverteilungspolitik eignet sich Erhard in keiner Weise. Wohl aber liefert seine wortgewaltige Absage an "liberalistische Wirtschaftsformen historischer Prägung" und "verantwortungsloses Freibeutertum" eine Begründung dafür, mit harter Wettbewerbspolitik die Marktkräfte zur Wohlstandsmehrung für möglichst viele zu mobilisieren. Auf dem Wege des Wettbewerbs, so Erhard, werde eine "Sozialisierung des Fortschritts und des Gewinns bewirkt". Dafür legte sich Erhard als Wirtschaftsminister bei der Durchsetzung des Kartellgesetzes von 1957 mit der Industrie an - die sich, mit Unterstützung des Wirtschaftsflügels von CDU und CSU, gegen ein grundsätzliches Kartellverbot wehrte.

Heute indes, hat Kanzlerin Merkel schon vor der Feierstunde erklärt, stehe die Soziale Marktwirtschaft vor "völlig neuen Herausforderungen" in Form eines verstärkten globalen Wettbewerbs. In der Tat waren Geringqualifizierte mit ihren Arbeitsplätzen vor 60 Jahren noch nicht auf ähnliche Art Konkurrenz aus fernen Ländern ausgesetzt, während die offenen Märkte spiegelbildlich anderen umso größere Chancen eröffnen.

Zugleich aber scheint die Teilhabedebatte des Jahres 2008 nur eine kritische Feststellung zu bestätigen, die Erhard bereits in seinem berühmten Buch getroffen hat: Das "Problem der Einordnung der organisierten Gruppeninteressen in das Gesamtgefüge von Volk und Staat" sei "noch lange nicht befriedigend gelöst".

Die heutige Feierstunde im Wirtschaftsministerium gilt indes vor allem dem mutigen Aufbruch in Richtung Marktwirtschaft. Genau genommen kommt sie damit allerdings eine gute Woche zu früh: Der "Tag X" mit Währungsreform und Preisfreigabe war der 20. Juni 1948. Die nächste Woche ist allerdings durch andere wichtige Termine wie den EU-Gipfel blockiert, wo sich die Kanzlerin um Klimapolitik kümmern will - vorausgesetzt, das EU-Referendum in Irland setzt nicht neue dramatische Themen auf die Agenda. Der Bundestag befasst sich derweil am 20. Juni 2008 unter anderem mit zwei Anträgen der Linksfraktion. Der eine zielt auf einen Stopp der Bahn-Privatisierung, der andere - "Mehr Demokratie wagen" - auf eine massiv verschärfte Unternehmensmitbestimmung.

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