Wirtschaftswissenschaft Bauchgefühl verdrängt Lehrbücher

Was passiert wenn sich eine Wirtschaftswissenschaftlerin mit der Frage beschäftigt, was einen Firmengründer erfolgreich macht? Sie findet heraus dass man sich bloß nicht an die Postulate der traditionellen BWL halten sollte. Saras Sarasvathy kann sich dabei auf fundierte, eigene Erfahrungen berufen.

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Der Forschungszweig der

DÜSSELDORF. Saras Sarasvathy ist alles andere als eine typische Wirtschaftswissenschaftlerin. Die gebürtige Inderin hat fünf Unternehmen mit aufgebaut, bevor sie überhaupt in die Forschung ging.

Und schon in ihrer Masterarbeit begründete sie eine neue Sub-Disziplin in der Betriebswirtschaftslehre: Sarasvathy war die erste Betriebswirtin, die verstehen wollte, wie Unternehmer aus Fleisch und Blut im Firmenalltag ticken. Wie treffen sie ihre Entscheidungen, wie gehen sie mit Unsicherheit um? Ein Ansatz, der jetzt Universitäten, Business-Schools und Großkonzerne weltweit erobert.

Die Ergebnisse stellen viele sicher geglaubte Erkenntnisse der traditionellen BWL infrage. Echte Unternehmer, so stellen die Forscher fest, agieren ganz anders, als es Management-Lehrbücher und Businessplan-Ratgeber predigen. Sie scheren sich nicht um systematische Marktforschung und Absatzprognosen, und strukturierte Businesspläne sind ihnen ein Gräul. Echte Unternehmer agieren aus dem Bauch heraus, sie tänzeln sich an die Probleme heran. "Erfolgreiche Unternehmer versuchen nicht, die Zukunft vorherzusagen", erklärt Sarasvathy. "Sie versuchen, die Zukunft zu gestalten."

Ihren Forschungszweig, der um das unternehmerische Denken kreist, hat sie "Effectuation" genannt - ein Begriff, der sich schlecht übersetzen lässt und der abgeleitet ist vom englischen Wort "effectuate" (bewirken).

Dass das erklärungsbedürftig ist, weiß auch die Forscherin von der Darden School of Business der University of Virginia. Am besten erklärt es sich aus ihrem allerersten Forschungsprojekt zu dem Thema. Damals, vor mehr als zehn Jahren, hatte sie vor allem eines gemacht: genau hingeschaut. Sie wollte wissen, was Unternehmer antreibt, wie sie denken, wie sie vorgehen, was sie riskieren und auch wie sie scheitern.

Neu für die Betriebswirtschaftslehre war die Methode, mit der sich Sarasvathy dem Thema näherte: Anders als traditionell in der Disziplin üblich, wertete die Forscherin nicht abstrakte Zahlen aus, sondern beobachtete Unternehmer buchstäblich beim Denken - mit einem Verfahren, das in der psychologischen Forschung üblich ist: Die Probanden sprachen ihre Gedanken laut aus, Sarasvathy nahm diese auf einem Tonband auf.

Sie besuchte 30 Unternehmer, die mehr als zehn Jahre Erfahrung als Mehrfachgründer gesammelt und mindestens ein Unternehmen an die Börse gebracht hatten. All diese erfolgreichen Gründer sollten mehrere Stunden lang laut über eine Geschäftsidee für ein neues Computerspiel nachdenken.

Eines kristallisierte sich bei der Auswertung der Gesprächsprotokolle schnell heraus: Die erfahrenen Unternehmer hielten sich kein Stück an die gängigen Management-Lehrmeinungen. Diese besagen, dass innovative Gründer sich zunächst ein Ziel setzen sollten, dann Marktforschung betreiben und einen Businessplan aufstellen, den sie Schritt für Schritt umsetzen.

Doch die überwältigende Mehrheit der erfolgreichen Unternehmer in Sarasvathys Studie ignorierte solche Strategien. Stattdessen stellten die erfolgreichen Unternehmer die zur Verfügung gestellten Prognosedaten infrage, ebenso die anvisierten Zielmärkte. Sie konzentrierten sich hauptsächlich auf ihre eigenen Interessen, ihr aktuelles Wissen und ihr soziales Netzwerk, um die Geschäftsidee zu ihrer Idee zu machen. Dabei riskierten sie keinen Cent zu viel - ihre Investitionsgrenze setzten sie so niedrig wie möglich an. Und das, obwohl die allermeisten von ihnen über genügend Geld verfügten.

Fast 90 Prozent der erfolgreichen Mehrfachgründer ignorierten das strukturierte Vorgehen, das in den Business-Schools gelehrt wird. Das konnte kein Zufall sein, dachte sich Sarasvathy und forschte weiter. Nach und nach konnte sie immer mehr Fachkollegen von ihrem Ansatz überzeugen. Viele Artikel erscheinen heute in den renommiertesten Marketing- und Management-Journals. "Der Charme von Effectuation", sagt Dietmar Grichnik, "liegt darin, dass der Ansatz so eingängig und zugleich so theoretisch tief fundiert ist." Der Entrepreneurship-Forscher der Universität St. Gallen arbeitet seit fünf Jahren mit Sarasvathy zusammen.

Eine zentrale Erkenntnis der Forscher ist: Unternehmer gehen mit Unsicherheit ganz anders um als angestellte Manager. Letztere gehen in aller Regel davon aus, dass sie die Zukunft vorhersagen können. Sie verlassen sich auf die Ergebnisse von Marktforschung und denken in Wahrscheinlichkeiten.

Innovative Gründer ticken ganz anders. Ihr Motto lautet: "Wir kennen weder die Zukunft noch die Wahrscheinlichkeit, mit der sie eintreten wird. Statt sie vorherzusagen, gestalten wir sie." Und dabei gilt die Regel: Je innovativer die Idee, desto größer naturgemäß die Unsicherheit, und desto wahrscheinlicher kommen Entrepreneure mit Effectuation weiter.

"Wer wirklich etwas ganz Neues schaffen will, braucht sich um Prognosen nicht zu sorgen", sagt der Grazer Unternehmensberater Michael Faschingbauer, der sich auf Effectuation spezialisiert hat. "Wer hätte 1994 schon gewusst, dass er heute viele seiner Bücher online bestellen würde?"

Das Vorgehen eines Entrepreneurs illustriert er am Beispiel eines Schulbuchverlags, der digitale Bücher verkaufen möchte: Um das Marktpotenzial auszuloten, nützten Prognosen von Marktforschern wenig. Sie suggerierten oft eine scheinbare Gewissheit, die es gar nicht geben könne - weil das Verhalten der Kunden in der Zukunft schlicht unklar sei.

Ein Entrepreneur würde daher einfach die nächste Schule ansteuern und dort mit Schülern und Lehrern über ihre Bedürfnisse sprechen, Kooperationen anstoßen, Ideen entwickeln und Feedback einholen.

Aber was konkret können angestellte Manager von Unternehmern lernen? Um einer Antwort auf diese Frage näher zu kommen, hat ein Forscherteam um Sarasvathy im Detail untersucht, wie 37 angestellte Manager und 27 erfahrene Unternehmer an Fragestellungen herangehen. Diesmal sollten die Probanden ein Marketingkonzept entwickeln. Auch diesmal wurden Denkprotokolle mitgeschnitten.

Im direkten Vergleich zeigte sich noch deutlicher, dass erfahrene Firmengründer ganz nach der Effectuation-Methode und die Manager nach der Managerdenke zu Werke gingen. Während Letztere zunächst Marktforschungen in Auftrag gaben und als Maßstab das prognostizierte Marktpotenzial im Blick hatten, suchten sich die erfahrenen Unternehmer Mitstreiter, Kunden, Lieferanten und Geldgeber. Sie beschritten ihren Weg in sehr kleinen, sehr preiswerten Schritten. "Ihr Investitionsmaßstab ist der verschmerzbare Verlust", lautet ein Fazit der Studie.

Dennoch "geht es beim Thema Effectuation nicht um Schwarz-Weiß-Malerei", betont Grichnik. Je geringer die Unsicherheit und je mehr Marktinformationen einfließen, desto eher komme man mit der Managerdenke weiter. Letztere ist vergleichsweise gut erforscht, während die Wissenschaft von erfolgreichen Unternehmern erst in der jüngsten Zeit an den Universitäten mehr gelehrt und erforscht wird.

Im deutschsprachigen Raum hat sich die Entrepreneurship-Forschung erst spät - Ende der 90er-Jahre - entwickelt. In den vergangenen Jahren hat sie aber einen enormen Aufschwung erlebt: Mittlerweile gibt es um die 90 Lehrstühle zu dem Thema.

International sind auch namhafte Großunternehmen aufmerksam geworden. Das zeigt laut Grichnik, dass unternehmerische Denke auch in Konzernen gefragt ist und über die Gründungsforschung zunehmend hinauswächst. Ohnehin ist Effectuation-Begründerin Saras Sarasvathy davon überzeugt: "Unternehmer werden nicht geboren - unternehmerisch denken ist lern- und lehrbar."

Unternehmerisch Denken

Für die US-Professorin Saras Sarasvathy machen die folgenden Prinzipien den Kern des unternehmerischen Denkens aus:

Gestalten Gründer akzeptieren, dass sie die Zukunft nicht vorhersagen können - stattdessen versuchen sie, sie zu beeinflussen. Überraschungen versuchen sie nicht zu vermeiden, sondern nutzen sie für neue Geschäftsideen. Dabei orientieren Entrepreneure sich an den vorhandenen Mitteln, anstatt sich Ziele zu setzen, die oftmals überzogen sind.

Netzwerken Erfolgreiche Gründer sind gut verdrahtet - und nutzen ihr Netzwerk voll aus. Sie holen Kunden, Lieferanten und Geldgeber ins Boot und haben keine Angst, ihre Ideen zu teilen.

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